Von Christian Röther
(picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
Am Hauptsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland wehen die Luther-Fahnen. In dreifacher Ausführung blickt der Reformator auf Herrenhausen herab, einen Stadtteil von Hannover. "Luther 2017" steht groß auf den Fahnen - und etwas kleiner: "500 Jahre Reformation". Martin Luther ist das Gesicht der EKD-Kampagne zum Reformationsjubiläum. Der Mann, der die Bibel ins Deutsche übersetzt hat, der die Reformation ins Rollen brachte - und der Juden vertreiben wollte und Synagogen niederbrennen.
"Dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und das, was nicht verbrennen will, mit Erden überhäufe und beschütte, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien."
So Luther in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen", erschienen drei Jahre vor seinem Tod. Nur wenige hundert Meter von den Luther-Fahnen der EKD entfernt befindet sich die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover. Die Vorsitzende ist Ingrid Wettberg. Sie räumt ein: Erst seit dem Reformationsjubiläum ist ihr das Ausmaß von Luthers Judenhass bewusst.
"Also, das war ein Hass mit unflätigen Beschimpfungen und Vernichtungsphantasien. Zumindest mir war der Antisemitismus und der Antijudaismus von Luther in dem Maße, wie ich das heute weiß, nicht bekannt. Ich wusste, dass er den Juden nicht gut gesonnen war, wie mir mal jemand so sagte, aber im Fokus stand eben immer, was Luther alles Tolles gemacht hat."
Zweimal Luther an der Marktkirche in Hannover. Wie viel Schatten wirft sein Judenhass auf das Jubiläumsjahr? (Christian Röther)
1543 veröffentlichte Luther die Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Zwei Jahrzehnte früher klang das noch anders. Da erschien sein Text "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei". Darin zeigte Luther sich vergleichsweise tolerant. Juden sollten geduldet werden und Berufe ihrer Wahl ergreifen dürfen. Luther wollte damit erreichen, dass Juden zum Christentum konvertieren. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann schränkt allerdings ein:
"Luther war in keiner Phase seines Lebens ein Judenfreund. Was sich geändert hat, sind die strategischen Hinsichten, die strategischen Perspektiven im Umgang mit den Juden. Er ist nicht vom Philosemiten zum Antisemiten geworden. Das wäre eine Verzeichnung."
Luther hoffte, dass Juden massenhaft zum Christentum übertreten. Doch das blieb aus. Wohl aus Enttäuschung darüber nennt der Reformator Juden später verstockt, vom Teufel besessen, der Lüge verfallen, geldgierige Wucherer - obwohl Luther nur sehr wenige Juden persönlich getroffen hat, sagt Thomas Kaufmann. Luther attestierte Juden auch "verdorbenes Blut". Für Kaufmann eine Frühform des Antisemitismus:
"Die Vorstellung, dass Juden ein eigener Menschentypus sind, dem nicht zu trauen ist, der verschlagen ist, der alles darauf anlegt, Christen zu übervorteilen oder noch Schlimmeres. Das sind Vorstellungen, die auch bei Luther immer wieder anzutreffen sind und die ich nicht ohne weiteres auf eine biblische Grundlage zurückführen kann."
Luthers Hass auf Juden wird in der aktuellen Debatte von niemandem angezweifelt. Doch die Frage ist: Wie zentral für Luthers Lehre ist seine Judenfeindlichkeit? So wichtig wie seine 95 Thesen zum Ablasshandel oder seine vier Glaubenssätze "Allein durch Schrift, Glauben, Gnade und Christus"? Oder doch nur eine unschöne Randerscheinung? Nein, sagten Experten im Deutschlandfunk: Luthers Judenfeindlichkeit gehört zum Kern seiner Lehre. Etwa die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg:
"Luther einerseits, der Übersetzer der Bibel, die helle Seite - andererseits der Judenfeind, die dunkle Seite. Ich glaube, es handelt sich hier um keine Opposition, sondern Luthers Judenfeindlichkeit, die sich insbesondere in seiner zweiten Lebenshälfte deutlich zeigt, ist die Kehrseite seiner Liebe zur Bibel, insbesondere seiner Liebe zum Alten Testament."
Wie sollte die Kirche, wie sollte die Gesellschaft also umgehen mit Luthers Judenhass - gerade jetzt im Reformationsjahr? Ingrid Wettberg von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover erzählt von einer Aktion, die sie für vorbildlich hält:
"Die war jetzt gewesen am 9. November. Der 9. November - brauch ich nicht zu erklären."
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten Nationalsozialisten in Deutschland systematisch Synagogen nieder, verhafteten oder ermordeten Jüdinnen und Juden. Übrigens die Nacht zum Geburtstag von Martin Luther.
"Wenn ich über Martin Luther nachdenke, überwiegen eindeutig die Lichtseiten. Diese ursprünglichen revolutionären Gedanken, Thesen, die er formuliert hat, die führten natürlich nicht unmittelbar zu einer Befriedung des mittleren Europas. Langfristig gesehen, glaube ich aber, dass darin tatsächlich eine Abkehr von der Gewalt im Namen Gottes stattgefunden hat."
Auch die Gleichberechtigung der Geschlechter geht für Julia Franck langfristig und indirekt auf die Reformation zurück. Ebenso die Achtung für Menschen unterschiedlicher Religion oder Herkunft. Die "Achtung des Menschen als Mensch", die tatsächlich zu der Möglichkeit nicht nur einer demokratischen, sondern auch einer säkularen, wenn auch abendländisch geprägten Welt geführt hat", sagt Julia Franck.
Eine Perspektive möchte Elisa Klapheck in die Debatte einbringen. Sie ist liberale Rabbinerin in Frankfurt und Professorin für jüdische Studien in Paderborn.
"Es ist völlig klar, dass heute bei einer Auseinandersetzung mit Luther darauf hingewiesen werden muss, dass Luther antijüdisch wurde, antisemitisch, und da gibt es auch nichts zu beschönigen. Gleichwohl finde ich eine zweite Diskussion möglicherweise interessanter und auch weiterführend, nämlich dass Luther ja auch sehr stark in seiner Theologie betont hat, dass die Menschen der politischen Obrigkeit Untertan sein müssen."
"Dieses ist eine völlig fehlleitende Interpretation. Man braucht nur mal zu analysieren, was meint Obrigkeit bei Luther, was meint Obrigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, was verstehen wir heute unter Obrigkeitshörigkeit. Obrigkeit ist im 16. Jahrhundert schlicht und einfach dasjenige, was der sich herausbildende Staat ausmacht. Luther unterstützt damit die doch den Frieden herbeiführende Monopolisierung legaler Gewalt durch den Staat, das meint er mit Obrigkeit."
Luther sei allerdings oft falsch interpretiert worden, und zwar im Sinne der Herrschenden, so Schilling. Elisa Klapheck weist außerdem darauf hin, dass Luther - trotz seines Judenhasses - Anfang des 20. Jahrhunderts bei vielen Juden beliebt war. Zumindest seine Übersetzung des Alten Testaments. Sie seien begeistert gewesen von der Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche.
"Er wollte den damaligen Deutschen das Hebräische nahebringen. Die heilige Sprache, wie sie also ganz viel in jedem Wort transportiert, aussagt."
Das komplette Interview vom 21.03.2017 auf DLF