zum Gedenken

Einleitung

Aus Liebe zur Warheit und im Bestreben, sie ans Licht zu bringen, wird in Wittenberg unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Vaters(1) Martin Luther, des Magisters der Sieben Freien Künste und der heiligen Theologie sowie derselben ordentlichen Lehrer daselbst, das Folgende disputiert werden. Deshalb bittet er, dass diejenigen, die nicht mit Worten gegenwärtig sein und es nicht mit uns erörtern können, das in Abwesenheit mittels Briefen tun sollen.

Im Namen unseres Herrn Jesus Christus

Amen


31.10.1517: Martin Luther veröffentlicht in Wittenberg 95 Thesen

von Nela Fichtner

Die Geburtsstunde der Reformation
Jeder Hammerschlag bringt den schwarzen Talar des kleinen, kräftigen Manns in Wallung. Unter der flach-runden Mütze: buschige Brauen und ein entschlossener Blick. Martin Luther schlägt eng beschriebene Papiere an die schwere Holztür der Wittenberger Schlosskirche: darauf 95 Thesen über den Ablasshandel. Der ärgert den Theologieprofessor und Augustinermönch schon lange. Er will eine Diskussion darüber anzetteln. Sein am 31.10.1517 verändert die Welt. Es ist die Geburtsstunde der Reformation.

Der Thesenanschlag - nur eine Legende von Luther-Freund Melanchthon?
Vielleicht lief es aber auch ganz anders: und Luther hat die Thesen gar nicht an die Schlosskirche geheftet. Erwähnt hat er das nämlich nie. Nur Phillip Melanchthon Luthers Freund und Mitarbeiter - aus Bretten bei Pforzheim - hat davon gesprochen, allerdings erst nach dessen Tod. Deshalb gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass Melanchthon Luthers Lebensgeschichte mit Legenden ausgeschmückt hat.

Luther hatte keine Revolution im Sinn
Ob der Reformator den Hammer nun selbst geschwungen hat oder nicht, weiß keiner. Die Wittenberger Protestanten halten Luthers Thesenanschlag jedenfalls hoch. Schließlich gibt er ein werbewirksames Bild ab. Doch bei aller Diskussion um das WIE der Veröffentlichung, gerät der Inhalt der 95 Thesen, über die Buße und den damit verbundenen Ablasshandel, fast zur Nebensache.

Luther hatte keine Revolution im Sinn. Er wollte nur über die Missstände der Ablass-Praxis informieren. Und glaubte, seiner Obrigkeit mit den Thesen einen Dienst zu tun.

Die Kirchenspitze witterte ketzerische Ideen
Dennoch witterte die Kirchenspitze darin ketzerische Ideen. Denn in den Thesen schimmerte eine Theologie auf, die sich von der bisherigen unterschied.

Ein Beispiel: In These 36 werden jedem reumütigen Christen – auch ohne Ablassbriefe – Schuld und Strafe erlassen. Indirekt heißt das: auch ohne Priester – innere Reue genügt. Damit stellt Luther das Sakrament der spätmittelalterlichen Buße in Frage, nach dem Sünder nur durch Priester Vergebung erlangen, denen sie beichten und Reue zeigen.

Die Kirchenspaltung war nicht Luthers Ziel
Ob Luther die Reformation nun aus Versehen losgetreten hat oder nicht: Die Kirchenspaltung war jedenfalls nicht sein Ziel. Darüber wäre der Reformator vermutlich erstaunt gewesen. Ebenso erstaunt, wie über die großen gesellschaftlichen Veränderungen, die seinem Wirken folgten.


Quelle: SWR2


Vorwort

Das sicherste Datum für die "Disputatio pro deciaratione virtutis indulgentiarum" (WA 1, 233-238; Cl i,-; StA i, 176-185) ist der 31. Oktober 1517. Luther schrieb an diesem Tag einen Brief an den Erzbischof von Mainz. Darin bat er ihn, seine Instruktion für die Ablassprediger zurückzunehmen, weil sie eine Predigt begünstige, die den Gemeindegliedern falsche Sicherheit vermittle. Diesem Brief legte Luther seine 95 Thesen zum Ablass bei. Für die Bitte Luthers interessierte sich der Erzbischof wenig, für die Thesen dagegen sehr.

Luther wollte mit Hilfe dieser Thesen eine akademische Disputation über den Ablass herbeiführen. Das geht zunächst aus der Präambel mit ihrer Einladung zur Disputation hervor, aber auch daraus, wie Luther sie verbreitete. Um den 4. November verteidigte er sich bereits gegen die Verdächtigungen vieler, er habe diese Thesen auf Befehl des Kurfürsten und aus Gefälligkeit zu ihm herausgebracht. Den Wittenbergern fiel es offenbar ins Auge, dass dieser Angriff die Einnahmen aus dem Ablassverkauf verringern und damit die Stellung des brandenburgischen Herrscherhauses (Albrecht von Mainz war ein Bruder des Brandenburger Kurfürsten Joachim I.) schmälern musste. So konnte dieser Verdacht leicht aufkommen. Für uns aber ist wichtig, dass die Thesen zu diesem Zeitpunkt schon in Wittenberg einem großen Personenkreis bekannt waren.

Am 11. November sandte Luther diese 95 Thesen in das Erfurter Augustinerkloster. Das hatte er bereits am 4. September mit seinen 100 Thesen gegen die scholastische Theologie getan. Damals bot er an, seine Thesen in Erfurt zu verteidigen, ohne dass dies Angebot aufgenommen wurde. Immerhin waren diese Thesen in Wittenberg am 4. September disputiert worden. Aber über den Ablass wollte weder in Wittenberg noch in Erfurt jemand mit Luther in die Schranken treten, so dass Luther sein eigentliches Ziel nicht erreichte.

Dennoch blieben diese Thesen nicht unbeachtet. Die Drucker nahmen sich ihrer an und trugen sie aus dem akademischen Raum

in die breite Öffentlichkeit. Sie begannen ungebeten, ihre wichtige Rolle für die Ausbreitung der Reformation zu übernehmen. Noch 1517 wurden die 95 Thesen in Nürnberg, Leipzig und Basel gedruckt. Ob es auch einen Wittenberger Urdruck gegeben hat oder Luther seine Thesen nur handschriftlich verbreitete, konnte noch nicht festgestellt werden. Von den drei Drucken hatten zwei die Form eines Plakates, das offenbar auch angeschlagen wurde. Luthers Schüler Johannes Mathesius berichtete später, diese 95 Thesen seien nach dem Druck binnen eines Monats bis nach Rom und an alle Universitäten und in alle Klöster gelangt. Luther war von dieser Verbreitung betroffen und überrascht, "denn noch nie hat man gehört, dass so etwas geschehen ist".

Nach Nürnberg gelangten die Thesen durch den Wittenberger Ulrich von Dinstedt. Christoph Scheurl teilte am 5. Januar 1518 mit, dass sie inzwischen ins Deutsche übersetzt worden seien. Diese Übersetzung fertigte der Nürnberger Ratsherr Kaspar Nötzel an. Luther bestätigte am 5. März 1518, aus Nürnberg einen lateinischen und einen deutschen Druck erhalten zu haben. Von diesem deutschen Druck ist kein Exemplar mehr bekannt.

Philipp Melanchthons Aussage von 1546, Luther habe diese Thesen am Vortag des Allerheiligenfestes an der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen, wurde 1959 von Kurt Aland in Frage gestellt, der aufgrund von zwei Aussagen Luthers das Allerheiligenfest (1. November) selbst als Tag des Thesenanschlags bezeichnete. Danach bezweifelten andere Forscher den Thesenanschlag überhaupt. Doch Luthers Absicht, über den Ablass zu disputieren, und die Art der Verbreitung sprechen dafür, dass Luther diese 95 Thesen wie alle Wittenberger Disputationsthesen behandelte, nämlich sie durch Anschlag an der Nordtür der Schlosskirche, die zugleich die Universitätskirche war, bekannt gab.

Für den 31. Oktober als entscheidenden Tag spricht eine Randbemerkung Luthers auf einem Plakatdruck der 95 Thesen im Staatsarchiv Merseburg.

(Quelle: Martin Luther, Taschenausgabe, Band 2, Berlin 1984)

Die 95 Thesen

  1. Indem unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: "Tut Buße" usw. (Matth.4,17), wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden eine Buße sei.
  2. Dieses Wort kann nicht als Aussage über die sakramentale Buße (d.h. das Sündenbekenntnis, das das Priestertum abnimmt, und die Genugtuung, die es auferlegt) verstanden werden.
  3. Es bezieht sich aber auch nicht nur auf die innere Buße, denn es gibt gar keine innere Buße, die nicht äußerlich vielfältige Abtötung des Fleisches bewirkt.
  4. Daher bleibt die Strafe, solange der Selbsthass (d.h. die wahre innere Buße) bleibt, nämlich bis zum Eingang in das Himmelreich.
  5. Der Pabst will und kann nur die Strafen erlassen, die er aufgrund seiner eigenen Entscheidung oder die der kirchlichen Gesetze auferlegt hat.
  6. Der Pabst kann Schuld nur vergeben, indem er erklärt und bestätigt, dass Gott sie vergeben hat. Außerdem kann er sie in den ihn vorbehaltenen Fällen(2) vergeben, in denen die Schuld ganz und gar bestehen bleibt, wenn seine Vergebung verachtet wird.
  7. Überhaupt vergibt Gott keinem die Schuld, ohne dass er ihn zugleich in allem gedemütigt dem Priester als seinem Stellvertreter unterwirft.
  8. Die kirchlichen Bußbestimmungen gelten allein für die Lebenden; und den Sterbenden darf nichts aufgrund dieser Bestimmungen auferlegt werden.
  9. Daher handelt der Heilige Geist zu unserem Wohl durch den Pabst, indem dieser in seinen Verordnungen immer den Fall des Todes oder der Not ausnimmt.(3)
  10. Unverständig und schlecht handeln diejenigen Priester, die den Sterbenden kirchliche Bußstrafen für das Fegefeuer aufsparen.
  11. Jenes Unkraut vom Verwandeln der kirchlichen Strafen in Fegefeuerstrafe ist offenbar ausgesät worden, während die Bischöfe schliefen (Matth. 13,25).
  12. Einst wurden die kirchlichen Strafen nicht nach, sondern vor der Freisprechung auferlegt, gleichsam als Prüfungen der echten Reue.
  13. Die Sterbenden bezahlen durch ihren Tod alles und sind den Gesetzen der kirchlichen Bestimmungen schon abgestorben und von Rechts wegen von ihnen entbunden.
  14. Die unvollkommene Heilung(4) bzw. Liebe des Sterbenden bringt notwendigerweise eine große Furcht mit sich, die desto größer ist, je geringer das Ausmaß der Heilung ist.
  15. Diese Furcht und dieses Grauen sind hinreichend, um für sich allein (um von anderem zu schweigen) die Strafe des Fegefeuers zu bereiten, weil sie dem Grauen der Verzweiflung ganz nahe kommt.
  16. So scheinen sich Hölle, Fegefeuer und Himmel so voneinander zu unterscheiden, wie sich völlige Verzweiflung und Heilsgeweissheit voneinander unterscheiden.
  17. Für die Seelen im Fegefeuer scheint es notwendig zu sein, dass das Grauen so vermindert wird, wie die Liebe vermehrt wird.
  18. Es scheint auch nicht durch irgendwelche Vernunftgründe oder Schriftstellen bewiesen zu sein, dass sie sich außerhalb des Standes befinden, in dem sie Verdienste erwerben können oder die Liebe zunehmen kann.
  19. Auch scheint nicht bewiesen zu sein, dass sie - wenigstens nicht alle - über ihre Seligkeit gewiss oder sicher sind, auch wenn wir dessen ganz gewiss sind.
  20. Deshalb versteht der Pabst unter dem "vollkommenen Ablass für alle Strafen" nicht einfach den Erlass für alle Strafen, sondern nur den von ihm selbst auferlegten.
  21. Deshalb irren giejenigen Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Pabstes der Mensch von jeder Strafe befreit und selig wird.
  22. Vielmehr erlässt er den Seelen im Fegefeuer keine Strafe, die sie gemäß den kirchlichen Bestimmungen in diesem Leben hätten ableisten müssen.
  23. Wenn überhaupt ein Erlass aller Strafen irgendjemanden zuteil werden kann, dann ist gewiss, dass er nur den Vollkommensten, d.h. den Allerwenigsten, zuteil werden kann.
  24. Aus diesem Grund muss der größte Teil des Volkes durch jene unterschiedslose und großspurige Versprechung der Strafbefreiung betrogen werden.
  25. Diese Vollmacht, die der Pabst in bezug auf das Fegefeuer im allgemeinen hat, hat der Bischof bzw. Seelsorger in seiner Diözese bzw. in seinem Sprengel im besonderen.
  26. Der Pabst handelt sehr richtig, dass er nicht Kraft der Schlüsselgewalt (die er nicht hat), sondern auf dem Weg der Fürbitte(5) den Seelen Nachlass gewährt.
  27. Menschliche Gedanken predigen diejenigen, die sagen: "Sobald die eingeworfene Münze im Kasten klingt, fliegt die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel".
  28. Das ist gewiss, wenn die Münze im Kasten klingt, können Gewinn und Habgier zunehmen; die Antwort auf die Fürbitte der Kirche aber steht allein in Gottes freien Ermessen.
  29. Wer weiß, ob alle Seelen aus dem Fegefeuer freigekauft werden wollen, wie über den heiligen Severinus und den heiligen Paschalis erzählt wird(6).
  30. Niemand ist sicher, ob seine Reue wahrhaftig ist, wieviel weniger, ob ihr der vollständige Straferlass folgt.
  31. Wie es selten einen gibt, der wahrhaftig bereut, so selten gibt es jemanden, der in rechter Weise Ablass erwirbt, d.h. äußerst selten.
  32. In Ewigkeit werden diejenigen mit ihren Lehrern verdammt werden, die glauben, dass ihnen aufgrund der Ablassbriefe ihr Heil sicher ist.
  33. Vor denen muss man sich überaus hüten, die sagen, dass die Ablässe des Pabstes jenes unschätzbares Geschenk Gottes sind, durch das der Mensch mit Gott versöhnt wird.
  34. Denn jene Ablassgnaden beziehen sich nur auf die von Menschen auferlgten Bußstrafen der sakramentalen Genugtuung.
  35. Unchristliche Gedanken predigen diejenigen, die lehren, dass keine Herzensreue(7) notwendig sei, um Seelen aus dem Fegefeuer freizukaufen oder Beichtbriefe(8) zu erwerben.
  36. Jeder Christ, der wahre Reue empfindet, hat vollständige Vergebung von Strafen und Schuld, die ihm auch ohne Ablassbrief gehört.
  37. Jeder wahre Christ, er sei lebend oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche; diesen gibt ihm Gott auch ohne Ablassbrief.
  38. Dennoch sind die Vergebung und die Beteligung des Pabstes keineswegs zu verachten, weil seine Vergebung - wie ich gesagt habe(9) - eine Bestätigung der göttlichen Vergebung ist.
  39. Sehr schwer ist es selbst für die gelehrtsten Theologen, vor dem Volk zugleich die Freigibigkeit der Ablässe und die Wahrhaftigkeit der Reue hervorzuheben.
  40. Die wahre Reue sucht und liebt die Strafen, die Freigiebigkeit der Ablässe aber erlässt sie und bewirkt, sie zu hassen, wenigstens bietet sie Gelegenheit dazu.
  41. Die päbstlichen Ablässe muss man vorsichtig anpreisen, damit das Volk nicht irrtümlich denkt, diese würden den übrigen guten Werken der christlichen Liebe vorgezogen.
  42. Man muss die Christen lehren: Es ist nicht die Meinung des Pabstes, dass der Kauf von Ablässen in irgendeiner Hinsicht mit den Werken der Barmherzigkeit gleichzustellen ist.
  43. Man muss die Christen lehren: Wer dem Armen gibt oder dem Bedürftigen leiht, handelt besser, als wenn er Ablässe kauft.
  44. Denn durch das Werk der christlichen Liebe wächst die Liebe, und der Mensch wird besser, aber durch die Ablässe wird er nicht besser, sondern nur freier von Strafe.
  45. Man muss die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht und - ohne sich um ihn zu kümmern - sein Geld für Ablässe ausgibt, der erwirbt sich nicht Ablässe ds Pabstes, sondern die Ungnade Gottes.
  46. Man muss die Christen lehren: Wenn sie nicht Reichtümer im Überfluss besitzen, sind sie verpflichtet, das für ihr Hauswesen Notwendige zu behalten, aber keineswegs für Ablässe zu verschwenden.
  47. Man muss die Christen lehren: Der Kauf von Ablässen ist frei, nicht geboten.
  48. Man muss die Christen lehren: Wie der Pabst die fromme Fürbitte mehr benötigt als das bereitwillig gezahlte Geld, so begehrt er sie auch mehr, wenn er Ablässe gewährt.
  49. Man muss die Christen lehren: Die Ablässe des Pabstes sind nützlich, wenn sie ihr Vertrauen nicht auf diese setzen, aber äußerst schädlich, wenn sie durch diese die Gottesfurcht verlieren.
  50. Man muss die Christen lehren: Wenn der Pabst von dem Treiben der Ablassprediger wüsste, wollte er lieber, dass der St.-Peters-Dom zu Asche verbrenne, als das er aus der Haut, dem Fleisch und den Knochen seiner Schafe erbaut wird.
  51. Man muss die Christen lehren: Der Pabst sei (wie es seine Pflicht ist) bereit - selbst wenn er den St.-Peters-Dom verkaufen müsste -, von seinem Geld vielen von denjenigen zu geben, aus denen die Ablassprediger das Geld herauslocken.
  52. Nichtig ist das Heilsvertrauen aufgrund von Ablassbriefen, auch wenn der Ablasskommisar, ja sogar der Pabst selbst seine Seele für jene verpfändete.
  53. Feinde Christiund des Pabstes sind diejenigen, die um der Ablassprdigt willen befehlen, dass das Wort Gottes in anderen Kirchen ganz schweigt.
  54. Unrecht geschieht dem Wort Gottes, wenn in einer Predigt die gleiche oder längere Zeit für die Ablässe als für jens aufgewendet wird.
  55. Die Meinung des Pabstes ist notwendigerweise: Wenn die Ablässe - die nur von sehr geringem Wert sind - mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert werden, muss das Evangelium - das von höchstem Wert ist - mit hundert Glocken, hundert Prozessionen und hundert Gottesdiensten gepredigt werden.
  56. Die Schätze der Kirche, aus denen der Pabst die Ablässe gewährt, sind dem Volk Gottes weder genügend benannt noch bekannt.
  57. Dass es gewiss keine zeitlichen Schätze sind, ist offenbar, denn viele Ablassprediger teilen diese nicht so freigiebig aus, sondern sammeln sie nur ein.
  58. Diese Schätze sind auch nicht die Verdienste Christi und der Heiligen, denn diese bewirken beständig - ohne Zutun des Pabstes - Gnade für den inneren sowie Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren Menschen.
  59. "Die Schätze der Kirche sind" hat der heilige Laurentius(10) gesagt, "die Armen der Kirche." Aber er hat entsprechend dem Gebrauch dieses Wortes in seiner Zeit gesprochen.
  60. Ohne Unbesonnenheit sagen wir, dass die aufgrund des Verdienstes Christi der Kirche gegebenen Schlüssel dieser Schatz sind.
  61. Denn es ist klar, dass zum Erlangen der Strafen und zum Vergeben in ihm vorbehaltenen Fällen(11) die Gewalt des Pabstes genügt.
  62. Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.
  63. Dieser ist aber natürlich sehr verhasst, weil er aus den Ersten die Letzten macht (Matth. 19,30; 20,16).
  64. Der Schatz der Ablässe aber ist natürlich sehr beliebt, weil er aus den Letzten die Ersten macht.
  65. Folglich sind die Schätze des Evangelium die Netze, mit denen einst Menschen mit Reichtümern gefischt wurden (Matth. 4,19).
  66. Die Schätze der Ablässe sind Netze, mit denen nun die Reichtümer der Menschen gefischt werden.
  67. Die Ablässe, die die Ablassprediger als "höchst Gnaden" ausrufen, werden Wahrhaftig für solche gehalten, insofern sie den Gewinn vergrößern.
  68. Dennoch sind sie in irklichkeit sehr gering im Vergleich zur Gnade Gottes und der Barmherzigkeit des Kreuzes.
  69. Bischöfe und Seelsorger sind verpflichtet, die Kommissare der päbstlichen Ablässe mit aller Ehrerbietung zuzulassen.
  70. Aber noch mehr sind sie verpflichtet, alle Augen darauf zu richten und alle Ohren darauf zu lenken, dass jene nicht anstatt des päbstlichen Auftrages ihre eigenen Hirngespinste predigen.
  71. Wer gegen die Wahrheit der apostolischen Ablässe redet, sei verdammt und verflucht.
  72. Wer aber gegen die Willkür und den Mutwillen der Reden des Ablasspredigers auftritt, der sei gesegnet.
  73. Wie der Pabst diejenigen zu Recht mit dem Bannstrahl schlägt, die sich mit welchem Kunstgriff auch immer, etwas zum Nachteil des Ablassgeschäftes ausdenken;
  74. so trachtet er noch viel mehr danach, diejenigen mit dem Bannstrahl zu schlagen, die sich mit dem Ablass als Vorwand etwas zum Nachteil der heiligen Nächstenliebe und der Wahrheit ausdenken.
  75. Die päbstlichen Ablässe für so wirksam zu halten, dass sie sogar einen Menschen von Sünden freisprechen könnten, der - was unmöglich ist - die Mutter Gottes vergewaltigt hat, heißt, unsinnig sein.
  76. Wir behaupten dagegen: Die päbstlichen Ablässe können auch nicht das geringste der täglichen Sühnen wegnehmen, soweit es sich auf die Schuld bezieht.
  77. Dass man sagt, auch der heilige Petrus könnte, wenn er jetzt Pabst wäre, keine größeren Gnadengaben als die Ablässe gewähren, ist eine Lästerung gegen den heiligen Petrus und den Pabst.
  78. Wir behaupten dagegen: Auch dieser und jeder Pabst hat größere Gnadengaben, nämlich das Evangelum, Kräfte zum Wunder tun, Gaben zum Heilen usw., wie 1.Kor.12,28 steht.
  79. Zu sagen, dass das mit den Pabstwappen geschmückt und aufgerichtete Ablasskreuz(12) soviel wie das Kreuz Christi vermöge, ist eine Lästerung.
  80. Die Bischöfe, Seelsorger und Theologen, die zulassen, dass solche Reden in das Volk ausgestreut werden, werdenRechenschaft ablegen müssen.
  81. Diese muteillige Ablasspredigt beweirkt, dass es auch für gelehrte Männer nicht leicht ist, die Ehrfurcht für den Pabst gegen Verleumdungen oder gewiss scharfsinnige Fragen der Laien zu verteidigen.
  82. Beispielsweise: Warum leert der Pabst das Fegefeuer nicht um der allerheiligsten Nächstenliebe und der höchsten Not der Seelen - also um der überhaupt allergerechtesten Ursache - willen, wenn er unzählige Seelen um des allerunseligsten Geldes für den Bau eines Domes - also um der allergeringfügigsten Ursache - willen daraus befreit?
  83. Ebenso: Warum werden die Totenmessen und die Jahresgedächtnisse für die Verstorbenen weiterhin gehalten, und warum gibt der Pabst die dafür gestifteten Einnahmen nicht zurüc oder erlaubt sie zurückzunehmen, da es nun ungerecht ist, für aus dem Fegefeuer Erlöste weiter zu beten.
  84. Ebenso: Was ist das für eine neue Gnade Gottes und des Pabstes, dass sie dem Gottlosen und ihrem Feind um des Geldes willen gestatten, eine fromme und von Gott geliebte Seele freikaufen, und dennoch um derselben frommen und geliebten Seele selbst willen diese nicht aus grundloser Liebe zu erlösen?
  85. Ebenso: Warum werden kirchlichen Bußgeldbestimmungen, die durch die Sache selbst abgeschafft und tot sind, dennoch immer noch zugunsten der Ablässe durch Geld abgelöst, als ob sie noch sehr lebendig wären?
  86. Ebenso: Warum baut der Pabst, dessen Reichtümer heute größer sind als die des reichsten Crassus(13), nicht wenigstens diesen Petersdom lieber von seinem Geld als dem der armen Glaubenden?
  87. Ebenso: Was erlässt oder welchen Anteil gewährt der Pabst denjenigen, die durch vollkommene Reue ein recht auf vollständigen Erlass oder Anteil haben.
  88. Ebenso: Was könnte der Kirche an größerem Gut hinzugefügt werden, als wenn der Pabst, wie er es jetzt nur einmal tut, so täglich hundertmal jedem Glaubenden diese Erlässe und Anteile schenkte?
  89. Wenn der Pabst mehr durch Vergebung als durch Geld den Seelen das Heil verschaffen will, warum setzt er dann die einst schon gewährten Briefe und Ablässe außer Kraft, obgleich sie ebenso wirksam sind?
  90. Diese sehr heiklen Anfragen der Laien allein mit Gewalt zu unterdrücken und nicht durch Angabe von Gründen zu entkräften heißt, die Kirche und den Pabst dem Gelächter ihrer Feinde preiszugeben und unglückliche Christen zu machen.
  91. Wenn folglich die Ablässe entsprechend dem Geist nd der Absicht des Pabstes gepredigt würden, könnten alle jene Einwände leicht widerlegt werden, ja sie wären gar nicht vorhanden.
  92. Deshalb hinweg mit allen Propheten, die zu dem Volk Chisti sagen: "Friede, Friede!", und es ist kein Friede (Jer.6,14).
  93. Gut soll es allen Propheten ergehen, die zu dem Volk Christi sagen: "Kreuz, Kreuz!", und es ist kein Kreuz.
  94. Die Christen müssen ermahnt werden, dass sie danach streben, ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen
  95. und so ihr Vertrauen mehr darauf zu setzen, durch viele Trübsale in das Himmelreich einzugehen (Apg.14,22) als durch eine falsche Sicherheit des Friedens.

    Index

  1. Anrede für einen Priester.
  2. Die Vergebung schwerer Vergehen war seit dem Mittelalter den Bischöfen oder gar nur dem Pabst vorbehalten.
  3. In Todesgefahr oder Notsituationen soll auf Bußstrafe verzichtet werden.
  4. Die sanatorische (von lateinisch "sanore" - heilen) Rechtfertigungslehre betrachtet die Entwicklung des Christen als eine Heilung von den Schäden der Sünde, die im Wachsen der von Gott geschenkten Liebe sichtbar wird.
  5. Der Pabst gewährt Verstorbenen Erlass ihre Sündenstrafen, wenn jemand für seinen Ablass erwirbt und durch Fürbitte vor Gott einen Ersatz für Gebete und Gaben an Bedürftigte leistet, die der Verstorbene im Fegefeuer nicht mehr leisten kann.
  6. Angeblich erdulden sie die Fegefeuerstrafen, obgleich ein Teil ihrer Verdienste genügt hätte, sich von dieser Strafe freizukaufen.
  7. Die spätmittelalterliche Theologie unterschied zwischen einer Furchtreue, bei der die Furcht vor Strafe überwog, und einer Herzensreue, die aus Liebe zu Gott erwuchs.
  8. Der Beichtbrief erlaubt seinem Inhaber, der im allgemeinen an einen bestimmten Beichtiger gebunden war, sich irgendeinen Beichtvater zu wählen, der sogar in vorbehaltenen Fällen (vgl. oben Anm.2) freisprechen durfte.
  9. Vgl. oben These 6.
  10. Römischer Diakon, der wahrscheinlich 258 Märtyrer wurde.
  11. Siehe oben Anm.2.
  12. Die Ablasshändler errichten an dem jeweiligen Ort in der Kirche ein besonderes Kreuz, unter dem sie ihre Ablässe anboten, vgl. Martin Luther: sein Leben in Bildern und Texten, Hrsg. von Gerhard Bott, Gerhard Ebeling und Bernd Moeller, Frankfurt am Main 1983, 100(Abb.68).
  13. Marcus Licenius Crassus Dives (115 bis 53 v.Chr.) gilt als einer der reichsten Römer.

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