In den Jahren 1300 bis 1600 vollzog sich in der deutschen Sprache mit scheinbar unaufhaltsamer Konsequenz ein Vorgang, den man so ähnlich auch vom Englischen kennt: Das unbetonte Endungs-e verschwand in vielen Wörtern, vor allem bei den Pluralformen. Diese Entwicklung begann in Süddeutschland. Der Sprachhistoriker Werner Besch fasst in seinem Buch "Luther und die deutsche Sprache" zusammen: "1350-1400 ist die Tilgung des Plural-e Mittelbairisch, Ostschwäbisch, Schwäbisch weitgehend durchgeführt."
Diese oberdeutschen Mundarten hatten durch die Kanzleien der Habsburger-Kaiser lange Zeit das größte Prestige. Es gab bereits eine überregionale Schriftsprache auf ihrer Grundlage, das „gemeine Deutsch“. Von Süddeutschland aus verbreitete sich der Sprachtrend ganz mächtig. Besch schreibt: "1450 bis 1600 setzt sich die e-Tilgung immer mehr nach Norden durch und erlangt ihre größte Ausdehnung."
Diesen Lautstand bewahrt das 1623 in Königsberg entstandene Weihnachtslied "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit". Heute würden wir hochsprachlich sagen: "Macht hoch die Türen, die Tore macht weit." In dem Lied wird Gott auch noch „König aller Königreich“ genannt.
In der Linguistik nennt man dieses Verschwinden des unbetonten Vokals e-Apokope. Sie trat nicht nur bei Pluralformen auf, sondern auch bei Substantiven im Singular (man schrieb der Glaub, die Lieb, die Tauf) und bei Verben – der Unterschied zwischen Präsens er sagt und Präteritum er sagte wurde eingeebnet.
Diese Entwicklungen haben damit zu tun, dass im Deutschen Wörter auf der Stammsilbe betont wurden – das ist die Silbe, die den Sinn trägt, beispielsweise schlag- in schlagen, während das -en nur eine grammatische Zutat ist, die anzeigt, dass es sich um den Infinitiv handelte. Diese Stammsilbenbetonung führte dazu, dass die Vokale in der zweiten Silbe immer mehr verblassten: Althochdeutsch hieß es noch tragan, Altsächsisch dragan, im Mittelhochdeutschen war aus dem a in der Endsilbe schon ein e geworden: tragen.
Deutsch war 1300 bis 1660 auf dem gleichen Wege wie das Englische, wo das kleine e in Wörtern wie some, stroke, have zwar aufgrund der konservativen Orthographie noch geschrieben, aber schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen wurde.
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Doch dann kam Martin Luthers Bibelübersetzung und drehte das Rad der Geschichte zurück.
Luther machte das meißnische Obersächsisch zur Grundlage seiner deutschen Bibel und damit der neuhochdeutschen Schriftsprache. Obersächsisch und Thüringisch waren aber die einzigen deutschen Mundarten, die dem aus Süden vordringenden e-Schwund fast komplett widerstanden hatten.
In der letzten Bibelausgabe, die Luther noch selbst zum Druck vorbereitet hat, steht das Endungs-e zu 80 Prozent dort, wo man es heute erwarten würde. Um 1700 sind es in ostmitteldeutschen Bibeldrucken dann bereits 96 Prozent, um 1800 fast 100 Prozent.
Auch wenn evangelische Bibeldrucke in anderen deutschen Sprachlandschaften auf nicht ganz so hohe Prozentzahlen kommen, weil Luthers Bibeldeutsch am Anfang in Wortschatz und Grammatik den regionalen Besonderheiten angepasst wurde, steht doch fest: Im Zeitraum 1650–1750 lässt sich in allen überwiegend protestantischen Gegenden Deutschlands eine erhebliche Bremsung und Rückentwicklung des e-Schwunds erkennen – neben dem Obersächsischen, Thüringischen und Ostfränkischen auch im Hessischen, Osthochalemannischen und Elsässischen.
Der Sprachhistoriker Peter von Polenz schreibt in seiner dreibändigen Geschichte der neuhochdeutschen Sprache: "Erst nach der Reformationszeit begann vom Ostmitteldeutschen her die Gegenbewegung konservativer Grammatiker (‚lutherisches -e’), durch die das -e wiedereingeführt wurde." Sein Linguistikkollege Besch erkennt darin "den Trend zur Schriftsprache, eher dem mittelhochdeutschen Muster folgend, das oberdeutsche abwählend".