Philipp Melanchthon -
Reformator und Bildungspolitiker
Von Rüdiger Achenbach
Quelle: Deutschlandfunk Oktober 2015
Protest der evangelischen Stände
"Eure Hoheit, ich wage an Euch zu schreiben, denn mich zwingen wichtige und gefährliche Vorgänge, die jetzt alle Aufmerksamkeit und Fürsorge Eurer Hoheit erfordern."
Als Philipp Melanchthon diese Zeilen im Dezember 1521 an den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen schrieb, war das eingetreten, was viele bereits befürchtete hatten. Die Reformation der Kirche drohte in eine Revolution umzuschlagen. In Wittenberg hatte sich die Lage inzwischen krisenhaft zugespitzt. Der Theologieprofessor Andreas Karlstadt forderte die Beseitigung aller Bilder und Nebenaltäre aus den Kirchen, um die Gotteshäuser von den angeblich unchristlichen und heidnischen Bräuchen zu befreien.
Heinz Scheible, langjähriger Leiter der Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: "Das Nebeneinander alter und neuer Formen in der Stadt wurde von ungeduldigen Bürgern und Studenten als unerträglich empfunden; vereinzelt wurden konservative Priester und Mönche belästigt, Kircheninventar wurde zerschlagen."
Da Melanchthon nicht genug Durchsetzungsvermögen hatte, diesem Treiben ein Ende zu bereiten, ließ die Wittenberger Gemeinde schließlich Luther von der Wartburg in die Stadt holen. Allerdings gegen den Willen des Kurfürsten, der das Auftreten des Geächteten in der Öffentlichkeit als zu großes Risiko ansah.
Als Luther Anfang März in Wittenberg eintraf, gelang es ihm kraft seiner Autorität in wenigen Tagen wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Mit seinen berühmt gewordenen Invocavit-Predigten forderte er dazu auf, alle inzwischen zwanghaft eingeführten Neuerungen rückgängig zu machen. Karlstadt wurde zum Schweigen gebracht. Dennoch wurde nun immer deutlicher, dass die Reformationsbewegung kein einheitliches Bild bot.
Bernd Moeller, Professor für Kirchengeschichte an der Evangelischen Fakultät der Universität Göttingen:
"Die seit Jahrzehnten aufgestaute Unzufriedenheit und Unruhe trat jetzt in ihr akutes Stadium, weil die Neuwertung der bestehenden Ordnung die Meinung nahe legte, nun ließen sich auch die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten durchschlagend widerlegen und beseitigen."
Ein Beispiel dafür sind die Bauernaufstände der Jahre 1524 und 1525. Da seit Jahren der Adel die überlieferten Rechte der Bauern in der Feld-, Wald- und Fischereiwirtschaft immer stärker eingeschränkt hatte, begannen die Bauern zu revoltieren. Martin Luther war entsetzt, als er davon erfuhr, dass die Bauern jetzt sogar mit der Berufung auf die Bibel protestierten und die Abschaffung der Leibeigenschaft forderten.
Dieses Verhalten, so Luther, sei ein offener Widerspruch gegen das Evangelium. Denn im weltlichen Reich müsse es eine Ungleichheit der Personen geben. Ein Leibeigener könne durchaus im christlichen Sinne, also im geistigen Reich, ein Freier sein, aber nicht in der Welt. Luther forderte deshalb die Fürsten auf, ihrer christlichen Pflicht nachzukommen und gegen die Bauern vorzugehen.
Auch Philipp Melanchthon war ebenso wie Luther ein konsequenter Gegner der Vertreter des so genannten linken Flügels der Reformation, die mit der Berufung auf die Bibel soziale Reformen forderten und die bestehende Gesellschaftsordnung infrage stellten. Melanchthon regierte deshalb ziemlich schroff, indem er deutlich machte, dass es die Aufgabe der Obrigkeit sei, die göttliche Ordnung zu verteidigen:
"Denn die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst, sondern sie ist Dienerin Gottes, um an dem Rache und Strafe zu vollziehen, der Böses tut. Doch ist es für die Untertanen auch tröstlich zu wissen, dass Gott Gefallen am Gehorsam gegenüber der Obrigkeit hat, und dass sie, was sie der Obrigkeit Gutes tun, Gott erweisen. Denn Paulus schreibt: 'Jedermann sei der Obrigkeit untertan, die über ihn herrscht.' Deshalb kann nur der Teufel von denen Besitz ergriffen haben, die solche Worte Gottes nicht achten und sich dennoch auf das Evangelium berufen."
Melanchthon hatte eine geradezu panische Angst vor Aufruhr und Anarchie. Um die göttliche Ordnung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, gehört es für ihn daher auch zu den Pflichten der Obrigkeit, für Erziehung und Bildung zu sorgen:
"Gott fordert von euch, dass ihr eure Kinder zu Tugend und Religion erzieht. Deshalb sind vor allem in einem gut eingerichteten Staat Schulen nötig, wo die Jugend, die das Saatgut eines Staates ist, erzogen werden soll." Melanchthons ordnungstheologische Vorstellungen bilden zusammen mit seiner humanistischen Gesinnung die Grundlage für seinen unermüdlichen Einsatz für bessere Bildungsmöglichkeiten. Hans-Rüdiger Schwab, Humanismusforscher und Professor an der Katholischen Fachhochschule in Münster:
"Durch den Bauernkrieg sah sich Melanchthon in seiner Auffassung bestätigt, dass die Zukunft der reformatorischen Bewegung ohne ein leistungsfähiges öffentliches System schulischer und wissenschaftlicher Ausbildung nicht zu sichern war. In der Umsetzung dieser Aufgabe wurde er zum überragenden Bildungsorganisator seines Jahrhunderts, der schon zu Lebzeiten den Ehrentitel eines 'Praeceptor Germaniae', also 'Lehrer Deutschlands' erhielt."
Neben seinen Bemühungen beim Aufbau evangelischer Kirchenstrukturen war Melanchthon auch ein gefragter Bildungsexperte für die Neuordnung der Universitäten. Außerdem setzte er sich auch für die Gründung von Elementarschulen ein. Hans-Rüdiger Schwab:
"Von frühestem Alter an wollte er die Kinder unter Berücksichtigung ihres Fassungsvermögens zur Religion und zu anderen Tugenden belehrt sehen, damit sie später zur Erhaltung der bürgerlichen Ordnung beitrügen. Für über 50 Städte wurde er zum maßgeblichen Ratgeber bei der Schulgründung. Mit der Vielzahl seiner Lehrbücher und -pläne, nach denen Generationen von Schülern und Studenten lernten, gab er dem entstehenden protestantischen Bildungssystem ein einheitliches Fundament."
Trotz seines großen Engagements im Bereich der Bildung war Melanchthon gleichzeitig auch weiterhin einer der führenden Ansprechpartner für theologische und kirchenorganisatorische Fragen. Hans-Rüdiger Schwab:
"Da der geächtete Luther das schützende Kursachsen nicht verlassen konnte, wurde Melanchthon, gegen seinen Willen, zum wichtigsten theologischen Berater der evangelischen Stände auf den Reichstagen und bei den Religionsgesprächen der folgenden Jahrzehnte."
Die große Politik lernte Melanchthon erstmals auf dem zweiten Reichstag 1529 in Speyer kennen. Da Kaiser Karl V. seinem Bruder, Erzherzog Ferdinand, der den Reichstag leitete, die Anweisung gegeben hatte, mit aller Härte gegen die Vertreter der Reformation vorzugehen, wurden nun alle Fürsten und Stände des Reiches aufgefordert, Maßnahmen gegen die neue Lehre zu ergreifen. Wer dieser Anordnung, der die altgläubige Mehrheit auf dem Reichstag zugestimmt hatte, nicht folgte, dem drohte die Reichsacht.
Die evangelische Minderheit insgesamt 6 Landesfürsten und 14 oberdeutsche Städte konnten diesem Reichstagsbeschluss letztlich nur eine feierliche Protestation entgegensetzen, das war ein übliches Rechtsinstrument, mit dem eine überstimmte Minderheit ihren Widerspruch einlegen konnte. In dem berühmt gewordenen Protestschreiben, nach dem die Anhänger der Reformation von nun an auch "Protestanten" genannt wurden, heißt es unter anderem:
"Zu Ehre Gottes muss ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben. Mit Gottes Hilfe bleiben wir dabei, dass allein Gottes Wort und das heilige Evangelium rein gepredigt werden und nichts, das da wider ist."
Die evangelischen Reichstagsmitglieder wussten allerdings auch, dass der Reichstagsbeschluss gegen sie durchaus auch mit Waffengewalt durchgesetzt werden konnte. Sie befanden sich in einer äußerst prekären Rechtslage. Dennoch war ihre Protestation ein Zeichen ihrer Geschlossenheit. Auch wenn es einige in ihren eigenen Reihen gab, die zu mehr Vorsicht mahnten. Der Kirchenhistoriker Robert Stupperich:
"Diese Protestation war die erste gemeinsame Tat der evangelischen Stände. Melanchthon hatte an ihrer Abfassung keinen Anteil. Er war tief erschrocken und fragte, ob man dem Kaiser nicht doch nachgeben sollte."
Melanchthon unterschätzte die politische Situation. Immerhin hatten sich bereits mehrere katholische Landesherren im sogenannten Dessauer Bund mit dem Ziel zusammengeschlossen, die evangelische Lehre auszurotten. Deshalb führte Philipp von Hessen führte bereits Geheimverhandlungen, um anderseits auch ein großes Bündnis der Protestanten auf die Beine zu stellen. Der Kirchenhistoriker Karl Kupisch:
"Der Plan des hessischen Landgrafen beabsichtigte nichts Geringeres als den Abschluss eines antikatholischen und antihabsburgerischen Bündnisses, das von der Schweiz quer durch Deutschland bis an die Ostsee reichen sollte."
Doch ein Zusammenschluss der Protestanten in Deutschland und der Schweiz war nur möglich, wenn der Schweizer Reformator Zwingli und der Wittenberger Luther ihre theologischen Meinungsverschiedenheiten ausräumten. Aus diesem Grund organisierte Philipp von Hessen im Oktober 1529 in Marburg ein Religionsgespräch, bei dem sich die Vertreter beider Gruppen zwar auf einige gemeinsame Artikel einigen konnten, doch in grundsätzlichen Fragen, wie zum Beispiel bei der Abendmahlslehre, war zwischen Luther und Zwingli keine Verständigung möglich. Deshalb musste Philipp von Hessen seine Idee einer großen antikatholischen Allianz wieder aufgeben.
Da die evangelischen Landesherren und Stände des Reichstags aber nicht mehr an den feindseligen Plänen des Kaisers zweifelten, musste zumindest über ein "deutsches" Verteidigungsbündnis der Protestanten nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang stellte dann der Kurfürst von Sachsen grundsätzlich die Frage, ob es denn einem Christen überhaupt erlaubt sein könne, dem Kaiser Widerstand zu leisten. Philipp Melanchthon antwortete darauf, mit eindeutiger Ablehnung:
"Widerstand ist gegen das Gebot Gottes. Der Christ soll sich nicht auflehnen, sondern gehorchen und dulden. Selbst wenn der Kaiser seine Zusagen nicht hält, haben die Untertanen kein Recht, ihm entgegen zu treten. Wer trotzdem auf Widerstand dringt, nimmt das Evangelium nicht ernst."
Auch Luther vertrat dieselbe Position. Die Juristen stimmten beiden zwar zu, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt worden sei, allerdings gaben sie zu bedenken, dass die Territorialfürsten die von Gott verordnete Obrigkeit seien, während der Kaiser nur von den Fürsten gewählt und eingesetzt werde und diese deshalb bei einem Fehlverhalten des Kaisers auch ein Widerstandsrecht hätten.
Doch zunächst wurden die Verteidigungspläne auf evangelischer Seite zurückgestellt. Denn der Kaiser kündigte nun an, dass er auf dem geplanten nächsten Reichstag in Augsburg den Anhängern der Reformation die Möglichkeit anbiete, ihre evangelische Lehre vorzutragen. Im protestantischen Lager wurde dieses Angebot des Kaisers als überraschend positives Zeichen gewertet. Der sächsische Kurfürst beauftragte deshalb Melanchthon, eine Rechtfertigungsschrift der Protestanten aufzusetzen. Mit dieser Schrift, die man Confessio Augustana, also Augsburger Bekenntnis, nannte, wollte man beweisen, dass man auf evangelischer Seite durchaus auf dem Boden der Kirchenväter stehe und auch die politische Ordnung im Reich nicht infrage stelle. Deshalb erwartete man nun mit Spannung, wie der Kaiser darauf reagieren würde.