Martin Urban im Gespräch mit Andreas Main
"Die Kirchen haben Angst vor der Wissenschaft"
Martin Urban stammt aus einer Theologenfamilie, sein Herz schlug aber zunächst vor allem für die Naturwissenschaft. Martin Urban studierte Physik, Chemie und Mathematik an der Freien Universität Berlin. Als Physiker gründete und leitete er die Wissenschaftsredaktion der "Süddeutschen Zeitung". Als Wissenschaftspublizist und Sachbuchautor veröffentlichte Martin Urban mehrere erfolgreiche Titel zu theologischen, philosophischen und psychologischen Themen. In seinem neuesten Buch "Ach Gott, die Kirche! - Protestantischer Fundamentalismus und 500 Jahre Reformation" entlarvt er alles, was er für rückwärtsgewandt hält.
Andreas Main: Herr Urban, prominente evangelische Christen sagen mir hinter vorgehaltener Hand, wir Protestanten kehren einen Konflikt unter den Teppich - den Konflikt zwischen Fundamentalisten und Liberalen. Sie, Herr Urban, packen den Stier bei den Hörnern, Sie teilen den Eindruck, dass EKD und Evangelikale auf Schmusekurs gehen. Woran machen Sie das fest?
Martin Urban: Ja, die Kirche war mal eine geistige Macht und wird zum bloßen Sozialverein. Die Ursache dafür ist: Die Kirche rutscht ab in den Fundamentalismus, indem sie die Erkenntnisse der Wissenschaften - die Theologie eingeschlossen - nicht beachtet, die der Naturwissenschaften nicht versteht und auf archaischen Vorstellungen beharrt, die bereits seit hundert Jahren zumindest theologisch angezweifelt werden.
Main: Wird dieser Konflikt, der da brodelt in der evangelischen Kirche, wird der unter den Teppich gekehrt?
Urban: Ja. Und das hat damit zu tun, dass die Kirche schon immer Angst hat vor der Wissenschaft. Angst, ja zunächst mal fing es an mit der Angst vor der Evolution, dann aus der Angst vor den frühen historischen Erkenntnissen. Vor gut hundert Jahren gab es den sogenannten Bibel-Babel-Streit, weil man entdeckt hat, dass die Sintflut-Geschichte in der Bibel eine Abschrift aus dem Gilgamesch-Epos war, das im Zwei-Strom-Land vor Tausenden Jahre früher entstanden war, also nicht etwa eine Offenbarung Gottes für die Redakteure des Alten Testaments.
Main: Welche Kirche, welche Strömungen in den Kirchen haben am meisten Angst vor den Naturwissenschaften?
Urban: Je ungebildeter die Menschen sind, desto größer die Angst. Die Unbildung sozusagen ist im Vormarsch. Das hat damit zu tun, dass die Intellektuellen die Kirchen verlassen, weil sie ihnen nichts zu sagen hat. Noch 3,5 Prozent ungefähr der evangelischen Kirchensteuerzahler gehen sonntags in die Kirche - und das sind eher die schlichten Menschen. Das soll überhaupt kein Vorwurf sein. Ihnen wird etwas gegeben - und das ist gut so. Aber die wählen nun die Kirchenvorstände und die Synodalen und die dann die Bischöfe mit der Folge, dass es eine schleichende Entwicklung hin zu immer schlichteren christlichen Vorstellungen gibt, weil - wie gesagt - die Angst, das könnte alles zusammenbrechen, wenn man irgendwie daran rührt, was Erkenntnisse sind, die im Widerspruch zu Dogmen stehen, weil die Angst davor die Kirchen schweigen lässt.
Main: Sie sind fast 80 Jahre alt - und manch einer wird da altersmilde. Sie nicht. Ihr Buch und vermutlich auch dieses Gespräch hier im Deutschlandfunk wird manch einen verärgern - vor allem in den Kirchen. Warum tun Sie sich das an?
Urban: Es ist mir wichtig in meiner Kirche, in die ich hineingeboren und in der ich aufgewachsen bin, meiner Kirche treu zu bleiben. Aber da kann ich nur, wenn ich sowohl Wissenschaftler bleiben kann und Wissenschaftspublizist als auch Mitglied einer Kirche. Das heißt, diese Diskussion muss geführt werden. Sie wird in meiner Familie geführt, sie wird mit meinen Freunden geführt, aber sie muss öffentlich werden. Und das vermeidet die EKD jetzt insbesondere unter ihrem neuen Vorsitzenden.
Main: Das ist schon ihr Vorwurf, dass dieses heiße Eisen, dieses Tabu nicht angepackt werden soll. Warum? Urban: Das ist die Angst davor, dass man liebgewordene Vorstellungen oder Vorstellungen, an die man sich gewöhnt hat, auf einmal aufgeben muss. Man kann nicht mehr einfach von Offenbarungen sprechen, wie das üblich ist, seit die Neurowissenschaftler einem sagen können, dass Offenbarung ein kreativer Akt ist, der im Gehirn passiert und nicht von außen. Man kann nicht mehr von einem Geist oder Heiligen Geist gar sprechen, der von außen in das Hirn einwirkt, wenn die Naturwissenschaftler sagen, da gibt es überhaupt keine Bewegung von Neuronen, die die Voraussetzung wäre für so einen Einfluss von außen. Es gibt aber kreative Akte und es gibt Erkenntnisse, die man durch Nachdenken und durch geniale Einfälle gewinnen kann. Und vieles, was im Christentum auch mir wichtig ist, ist wohl so entstanden - zum Beispiel das Konzept Gott überhaupt.
Main: Ich möchte, ohne mich hier zu positionieren, ein wenig gegenhalten - quasi als des Teufels Advokat - und frage Sie: Warum sollen freie Menschen in einem freien Land nicht in einen freikirchlichen Gottesdienst gehen, wo eben eher vom Heiligen Geist und der Offenbarung geredet wird und der ihren religiösen Gefühlen entspricht und nicht Ihren?
Urban: Sollen sie doch - wir haben ja Religionsfreiheit. Dagegen ist gar nichts zu sagen. Aber die Kirche wird damit nicht mehr ein Gesprächspartner für die Intellektuellen im Lande, wird nicht mehr ernst genommen und bleibt nur noch ein Sozialverein.
Main: Umgekehrt - Konkurrenz belebt das Geschäft. Warum werden nicht die Volkskirchen davon inspiriert, von diesen kleinen Mitbewerbern in diesem religiösen Supermarkt?
Urban: Ja - die halten Leichtgläubigkeit für Glaubensstärke. Ich denke und sehe - und das ist ja auch die Geschichte der Wissenschaften, das, was Erkenntnis vor 2000 Jahren schon war und über die Jahrhunderte hinweg gehalten wurde, im Lichte besseren Wissens zum Aberglauben wird. Und mit Aberglauben muss man sich auseinandersetzen, aber kann das nicht unbedingt als Bereicherung empfinden. Ich zumindest nicht.
Main: Sie sprechen von Aberglauben, haben offenbar den Eindruck, dass Verstand, Nachdenken in den meisten Kirchen kaum gefragt ist. Wieso ist das so unattraktiv, sich der Aufklärung als den Weg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu verpflichten?
Urban: Es ist anstrengend, und man muss liebgewonnene Vorstellungen aufgeben. Als Kind glaubt man an den Weihnachtsmann und den Osterhasen und das Christkind. Und es ist schmerzlich, wenn man dann mit dem Älterwerden noch als Kind merkt, ja - das sind schöne Geschichten, aber die haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Und ähnliche Gefühle haben offensichtlich viele Menschen, wenn sie ihren traditionellen Glauben so nicht mehr leben können. Denn so einfach sind die Verhältnisse nicht - mit dem Wissen, was wir heute haben. Da kann kein Gott oben auf irgendeinem Stuhl thronen. Das sind alles uralte Bilder, die auch zum Teil sehr schön und auch sehr poetisch sind. Aber wenn man dann ganz genau hinschaut, da sind viele dieser Vorstellungen eben Aberglaube geworden.
Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag" im Gespräch mit dem Publizisten Martin Urban. Herr Urban, Sie sind Physiker, Sie haben die Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung Ende der 1960er Jahre aufgebaut und bis in dieses Jahrtausend geleitet. Sie sind durch und durch Naturwissenschaftler. Darf ich Sie als Advocatus Diaboli fragen: Sind Sie ein Fundamentalist der Naturwissenschaft?
Urban: Nein.
Main: Begründen Sie, warum nicht.
Urban: Ich weiß, die Erkenntnis geht im Lichte jeweils neuer Beobachtungen weiter. Und sie kann zu keinem Ende kommen. Übrigens auch die historischen Wissenschaften nicht, denn im Lichte neuer Techniken der Analyse und so weiter... Nein, ich bin kein Fundamentalist. Ich weiß nicht alles. Ich weiß, dass die Entwicklung weitergeht.
Main: Deklinieren wir das mal an einem konkreten Beispiel durch. Gerade war Ostern. Als Naturwissenschaftler würden Sie wahrscheinlich sagen: Eine Auferstehung des ermordeten Juden Jesus aus Nazareth, so wie sie in der Bibel erzählt wird, die kann es nicht gegeben haben. Sie sind aber nach wie vor Kirchenmitglied. Was bleibt übrig, wenn man als Naturwissenschaftler Ostern feiert?
Urban: Also, in der Tat ist es auch meine Meinung, die ja auch viele Theologen, insbesondere historisch arbeitende Neu-Testamentler teilen, dass das Grab Jesu nicht leer war, er also nicht leibhaftig auferstanden ist. Jesus ist auch nicht Gott geworden, sondern Jesus ist ein gottbegnadeter Mensch gewesen, der alles das entwickelt und uns erklärt hat, was unsere humanistischen Vorstellungen ausmacht. Er war derjenige, der uns deutlich machte, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind, dass die fundamentalistischen Vorstellungen seiner jüdischen Umwelt, der Mensch ist für den Sabbat da, und der gesagt hat, nein der Sabbat ist für den Menschen da. Also all das, was das Humanum ausmacht, das verdanken wir Jesus. Und er hat uns ein Bild Gottes vermittelt, das ist auch ein Bild, mit dem die Menschen seit 2000 Jahren leben und sterben und Sinn in ihrem Leben finden können. Und das teile ich.
Main: Also Jesus als ein guter Mensch wie Mahatma Gandhi, der Dalai Lama, Martin Luther King oder Mutter Theresa?
Urban: Also Mutter Theresa war noch gotteskritischer als Jesus selbst, der ja auch gestorben ist in dem Wissen: Wir wissen nichts - und: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Er konnte dies auch nicht beantworten. Nicht ein Mensch wie andere - ich will ihn gar nicht vergleichen mit anderen, sondern so außerordentlich, dass mit Recht unser Abendland von ihm geprägt lebt und alles, was auch moralischen Fortschritt ausmacht - trotz aller Irrwege, die die Kirchen gegangen sind, verdanken wir Jesus. Und dann kam halt Martin Luther dazu und hat versucht, uns die Aufklärung nahe zu bringen und das wieder gut zu machen, was die Kirchen in ihrer Entwicklung als Fehlentwicklung haben entstehen lassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.