zum Gedenken

In diesem Artikel finde ich viele Parallelen zu meinem Vater.
Vom RAD zur Wehrmacht an die Ostfront (s. auch "Die Abenteuer des Werner Holt"). Nach dem Krieg seine Heimat nicht wiedergesehen. Die Eltern und Schwester mussten 1945 fliehen, nicht vor der Roten Armee, sondern vor der Polnischen.
Dieses Thema war nicht tabu, aber es gab keine Antworten, nur schweigen. Die Mauer konnte nicht durchbrochen werden. Häufig in der Nacht unruhig und unverständliche Laute und Sätze, diese Träume möchte ich nicht kennen.
Später, in den letzten Jahren, schon an Demenz erkrankt, wollte er immer mal wieder "nach Hause gehen". Wir haben es damals nicht verstanden, sind uns erst heute sicher, was wirklich gemeint war.
Er war kein Mann der großen Worte, aber immer da für Frau, Kinder und Enkel.


Vertriebener: Mein Vater schrie jede Nacht im Schlaf 1945 musste mein Vater aus Schlesien flüchten, damals war er neun und hatte eine Beinverletzung. Diese Flucht prägt unsere Familie bis heute.

Von Markus Deggerich

22. August 2019

Dieses Schweigen. Dieses unerträgliche Schweigen, diese Mauer, an der alles abprallte. Wie geht es dir? Stille. Was denkst du? Stille. Was fühlst du? Stille. Sein lautes Schweigen, das über den Esstisch kroch, das Schweigen, das jeden in der Familie quälte, am meisten ihn selbst, es klingt nach, als Echo aus der Vergangenheit, bis heute.

Heimkehrer: "Da bin ich wieder": Berni Deggerich (1935 bis 2015) besuchte 1991 die Orte seiner Kindheit in Niederschlesien, von wo er als Neunjähriger flüchten musste.

Mein Vater war ein sehr stiller, man sagt wohl introvertierter Mann. Man konnte von ihm alles haben, ohne dass er je etwas zurückforderte, nur eines nicht: sein Innerstes. Hochsensibel, aufmerksam, gutmütig, selbstlos, sozial, hilfsbereit, fleißig, bescheiden, durchaus streng, diszipliniert, bei jedem beliebt - aber eben so in sich gekehrt. Zum Verzweifeln. Vor allem für Kinder.

Er war neun Jahre alt, als es abends an die Tür klopfte. Der Dorfvorsteher trommelte alle zusammen. Man solle aufbrechen, Frauen und Kinder, nur das Nötigste packen, die Männer aber, die sollten bleiben und den Russen als Volkssturm eine Mistgabel entgegenstrecken. Es war Mitte Januar 1945, der Flecken Erde in Niederschlesien wäre nicht als Dorf zu benennen: Eichenbaum bei Grünberg war nur eine Siedlung, ein paar Bauernhöfe und sonst nur Felder und Wald.

Mein Großvater Heinrich hatte hier als Siedler aus Westfalen Land gekauft in den Zwanzigerjahren und eine Familie gegründet mit Anna, die fünf Kinder gebar: Hedwig, Paula, Heinrich junior, Josef und, am 5. Mai 1935, meinen Vater Bernhard, genannt Berni.

Als sie flüchten sollten, war Berni krank: Er hatte ein verletztes Bein, eine eitrige Entzündung im Knie, und konnte nicht laufen. Sein Vater schob ihn in einer Schubkarre zum Sammelplatz, hob ihn hoch, setzte ihn auf den Ackerwagen, den die beiden Pferde Dora und Lotte ziehen sollten. Es war das einzige Mal in ihrem gemeinsamen Leben, dass Berni in den Augen seines Vaters Tränen sah: der Moment, in dem er ihn loslassen musste, so hat er es mir später erzählt. Auf der Flucht in einem Treck aus sechs Familien, zu Fuß und mit Pferdewagen, mussten sie immer wieder die Straße frei machen fürs Militär. Sie versteckten sich in Wäldern und Gräben vor Flugzeugen, sie bettelten um Milch und Brot oder Unterkunft, mitten im Winter, die Leichen am Wegesrand waren meist Kinder, erfroren. Sie zogen zunächst von Grünberg Richtung Südwesten, Richtung Forst, Cottbus, Riesa, einen weiten Bogen machend um Berlin, mal 20 Kilometer am Tag, mal 70. Eines Nachts sahen sie in der Ferne eine Wand aus Licht: Dresden ging unter im Feuersturm.

Als Bernis Beinverletzung sich verschlechterte, sollte er "operiert" werden. Vier Männer legten ihn auf einen Küchentisch und hielten ihn fest an Armen und Beinen. Still sollte er sein. Halt still. Sei still. Ohne Narkose schnitt ein Tierarzt ihm das Bein auf, der Eiter spritzte hoch durch die Luft. Er schrie. Und schrie. Und schrie.

Mein Vater überlebte, in der ersten Etappe brauchten sie zwei Monate für rund 550 Kilometer bis in den Harz, Mitte März 1945, wo sie das Kriegsende erlebten und den Einmarsch der Amerikaner, auf der sicheren Seite sozusagen. Aber mein Vater hörte nie mehr auf zu schreien. Für den Rest seines Lebens: Er schrie, jede Nacht, im Schlaf.

Im Herbst 1945 hatten sie ihr Ziel erreicht, Westfalen, von wo aus Opa Heinrich einst Richtung Schlesien ausgewandert war. Willkommen waren sie nicht, noch mehr Mäuler zu stopfen, zwangseinquartiert, die Kinder verteilt auf Verwandtschaft. Berni sollte, quasi als Integrationsmaßnahme, als Messdiener in der Kirchengemeinde angemeldet werden. Der Priester lehnte den zehnjährigen Flüchtlingsjungen ab, Katholiken aus dem Osten waren seiner Meinung nach keine richtigen Katholiken. Auch die "Landsmannschaft" der Schlesier nahm sie nicht auf, in deren Augen waren sie keine echten Schlesier, weil Opa Heinrich ja nicht dort geboren, sondern dort hingezogen war. Niemand wollte sie.

Das Ringen um Anerkennung, geachtet, respektiert zu werden, anzukommen, wieder - irgendwo - dazuzugehören, das blieb prägend und begleitete ihn sein ganzes Leben.

Er passte sich an. Er half jedem, der ihn um etwas bat, und es war für ihn nie ein Handel. Er übertrug das auch auf uns. Wir sollten nicht auffallen, keine Blicke auf uns ziehen. Für alle da sein. Niemanden wegschicken, um selbst nicht weggeschickt zu werden.

Wichtig war, was die Nachbarn über uns denken könnten, nicht, was wir selbst dachten. Eine Psychologin hat es mir mal erklärt, es sei ihr in ihren vielen Therapien aufgefallen. Menschen mit Fluchterfahrung würde sie immer sofort erkennen, selbst noch in der nächsten Generation: sozialer als andere, weicher, bescheidener, ängstlicher, sensibler - und stiller. Mein Vater wehrte sich praktisch nie, auch nicht, wenn er offensichtlich ausgenutzt wurde.

Ich lernte zu akzeptieren, dass das Reden über Gefühle nicht seine Sprache war.

Sein Integrationswille hatte immer eine Kehrseite: die Angst, nicht zu genügen. Aus Angst aufzufallen, anzuecken, aus Furcht, man könne schlecht über ihn reden oder ihn nicht akzeptieren, schwieg er in Diskussionen oder nickte zustimmend, auch wenn er anderer Meinung war. Er ließ sich zu viel gefallen. Laute, dominante, gerne besserwisserische Menschen fand er immer unangenehm, sie erdrückten ihn. Da war kein Platz für ihn. Es drängte ihn nie in die erste Reihe, er wollte nicht "angesehen" werden.

Er vermisste nicht den Besitz oder was sie für Heimat hielten. Er vermisste vielleicht eine Kindheit, die er nie hatte. Seine Heimat war später sein Haus, das er mit eigenen Händen erbaute, seine Kinder, seine Frau.

Nach dem Fall der Mauer bin ich einmal mit ihm nach Polen gefahren, in das Dorf, in dem er die ersten neun Jahre gelebt hatte. Wir fuhren auf einer kleinen Fähre über die Oder, und mein sonst so stiller Vater lief ganz nach vorn, breitete die Arme aus und rief: "Da bin ich wieder."

In den drei Tagen dort erkannte ich ihn nicht wieder: Er sprudelte vor Geschichten, war offen und redselig, erzählte, wie er seinen Kopf in einen Kaninchenbau gesteckt hatte und fast erstickt wäre, wie er Flusskrebse gesammelt und sie den französischen Gefangenen durch einen Zaun zugesteckt hatte, wie er den Hintern versohlt bekam, weil er beim Kühehüten eingeschlafen war. Er streunte durch Felder, schwamm in der Oder. Er leuchtete. Er war Kind.

Ich lernte, dass seine Stille, sein Schweigen, nie Lieblosigkeit waren, sondern Verzweiflung, Unsicherheit. Er sagte mir dann: "Ich habe es nicht gelernt, über mich zu reden." Diesen Satz, den jedes Kind hören will, "ich habe dich lieb", ich habe ihn nie gehört. Aber gespürt.

Ich lernte zu akzeptieren, dass das Reden über Gefühle und Erlebtes nicht seine Sprache war. Wir suchten andere Wege, fanden unsere Ebene. Wir haben nie darüber geredet.

Ganz still.


Quelle: gekürzt aus spiegel.de 2019


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 21.01.2023 - 19:37