zum Gedenken

Mehr als die Hälfte keine Reichsdeutschen

Hunderttausende Ausländer kämpften in der Waffen-SS - etliche, um zu überleben

Freitag, 21.10.2016, 12:04 · von FOCUS-Online-Autor Harald Wiederschein

Sie kämpften auf Seiten Nazi-Deutschlands: Im Zweiten Weltkrieg dienten hunderttausende Ausländer in der Waffen-SS. Erst seit kurzem beschäftigen sich Historiker intensiv mit dem lange verdrängten Thema - in vielen Ländern ist es bis heute ein Tabu. Dänen und Norweger, Niederländer und Franzosen, aber auch Ungarn, Rumänen, Balten und Ukrainer zogen unter dem Kommando oder Seite an Seite mit deutschen SS-Männern in den Kampf. Ja sogar Muslime aus Bosnien und Albanien marschierten im Zeichen des Totenkopfes. Aus insgesamt 24 Nationen rekrutierten sich die Verbände der Waffen-SS. Gegen Ende des Krieges waren von ihren mehr als 900.000 Angehörigen über die Hälfte keine Deutschen aus dem "Reich".

Nazi-Propaganda versuchte Widersprüche zu überdecken

Das mag ein wenig verwunderlich wirken angesichts des von der SS selbst gepflegten Bildes vom "arischen" blonden und großgewachsenen Elitekrieger. Immerhin wurde die SS-Uniform auch von so genannten slawischen "Untermenschen" getragen, die andernorts ausgerottet werden sollten. Die Nazi-Propaganda versuchte derartige Widersprüche zu überdecken. Ohnehin schwadronierte sie bereits nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 über den gemeinsamen Kampf europäischer "Freiwilliger" gegen den Bolschewismus.

"Waffen-SS keine rein reichsdeutsche Angelegenheit"

Wie viele Nazi-Mythen bestand auch dieser weit über das "Dritte Reich" hinaus und kursiert in rechtsextremen Kreisen bis heute. "Richtig daran ist, dass die Waffen-SS tatsächlich keine rein reichsdeutsche Angelegenheit war", sagt der Politikwissenschaftler und Soziologe Thomas Casagrande. "Doch ansonsten verzerrt und verklärt eine derartige Sicht die damalige Realität erheblich."

Wirklich freiwillig waren der Waffen-SS beispielsweise längst nicht alle beigetreten, die in den verschiedensten Winkeln Europas den Waffenrock des militärischen Arms der "Schutzstaffel" trugen. Am ehesten noch die angeblichen "Germanen" aus den besetzten Ländern Dänemark, Norwegen und den Niederlanden. Bei ihnen handelte es sich oft um überzeugte Faschisten.

Sogar russische Kriegsgefangene wurden rekrutiert

Anders sah es schon bei den so genannten "Volksdeutschen" aus, die etwa in Ungarn, Rumänien oder Südtirol lebten. Sie bekamen bei der SS die Möglichkeit, statt in ihren nationalen Armeen in besser ausgerüsteten und geführten Verbänden zu kämpfen - und erhofften sich dadurch höhere Überlebenschancen.

Die Balten hingegen, die zu den "Fremdvölkischen" gezählt wurden, wollten sich vor allem von der sowjetischen Herrschaft befreien. In der Waffen-SS zu dienen galt vielen von ihnen als Heimatverteidigung.

Sogar russische Kriegsgefangene wurden rekrutiert. Diese Männer entgingen damit häufig dem sicheren Tod. "Die Sterblichkeit in den Lagern war hoch und sie besaßen meist nur ein geringes Wissen über die SS", sagt der Jenaer Historiker Jochen Böhler, der das von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderte Projekt "Non-Germans in the Waffen-SS: A Cultural History" leitet. "Da wären sie doch verrückt gewesen, wenn sie diese Möglichkeit nicht genutzt hätten."

Konkurrenz zu Wehrmacht und Außenministerium

Generell nahm im Lauf der Jahre der Zwang zu, in die Waffen-SS einzutreten. Je ungünstiger der Krieg für Nazi-Deutschland verlief, desto stärker wurden die Pressionen, um mit neuem "Menschenmaterial" den Sieg doch noch zu erzwingen.

"Der Ort und der Zeitpunkt spielten eine große Rolle dabei, aus welchen Gründen jemand den Weg in die SS fand", erklärt die Schweizer Historikerin Franziska Zaugg. "Es gab eine große Vielfalt an Ursachen und Motiven, die sich häufig auch miteinander vermischten."

Doch nicht nur militärische Aspekte trugen dazu bei, dass die Waffen-SS ständig weitere Einheiten aufstellte und in immer mehr Ländern Fuß zu fassen suchte. "Viel entscheidender waren politische Gründe, die Konkurrenz zur Wehrmacht und Himmlers Rivalität mit Außenminister Joachim von Ribbentrop und dessen Amt", sagt der Historiker Jens Westemeier.

In der SS wurden die Ausländer oft gekränkt, erniedrigt und bestraft

Dementsprechend trieb gerade der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, den Ausbau und die Expansion der Waffen-SS energisch voran. Insbesondere bemühte er sich, Muslime für den Eintritt zu gewinnen, weil er sie als natürliche Feinde der Juden und als Verbündete gegen das Britische Empire betrachtete.

Tatsächlich dienten zum Beispiel einige tausend muslimische Bosnier und Albaner in den Divisionen "Handschar" und "Skanderbeg". Durch einen besonders ausgeprägten Antisemitismus scheinen sie sich jedoch nicht ausgezeichnet zu haben. Und Himmlers erträumtes Ziel vom Aufstand der weltweit 350 Millionen Muslime gegen die Briten blieb eine realitätsferne Fantasterei.

"Es gab dort keinen echten Internationalismus"

Stattdessen sorgte die Aufnahme von Ausländern innerhalb der SS für massive Konflikte. "Es gab dort keinen echten Internationalismus, stattdessen kam es zu Übergriffen gegen so genannte ‚Fremdvölkische' und ‚Volksdeutsche'", erläutert Casagrande. Kränkungen, Erniedrigungen und Bestrafungen durch die "reichsdeutschen" Ausbilder seien an der Tagesordnung gewesen. Sogar die Südtiroler, die ja eigentlich selbst als "Reichsdeutsche" gegolten hätten, seien als Menschen zweiter Klasse behandelt worden.

"Militärisch gesehen ein schlechter Witz"

So muss es nicht verwundern, dass etliche nichtdeutsche SS-Männer desertierten oder gar den Aufstand wagten. Zumal wenn sie fern der Heimat eingesetzt wurden, die sie eigentlich verteidigen wollten. Mit den Zielen des Nazi-Regimes konnte der Großteil wenig anfangen. Entsprechend sinnlos erschien es ihnen, sich in der Fremde für Hitlers Wahnideen verheizen zu lassen.

Dem Krieg eine Wende geben konnten auch die ausländischen SS-Einheiten nicht. "Dazu waren sie ursprünglich auch nicht konzipiert worden. Und militärisch gesehen waren diese ‚Freiwilligen'-Verbände bisweilen ein schlechter Witz", urteilt Westemeier. "Dass sie teilweise bis heute als eine Elite angesehen werden, zeigt nur, wie sehr die NS-Propaganda über 1945 hinaus weitergewirkt hat."

Grausame Kämpfe gegen Partisanen

Besonders häufig wurden nichtdeutsche Einheiten eingesetzt, um Partisanen zu bekämpfen. Dabei begingen sie zahlreiche Kriegsverbrechen. Grausam wüteten einige von ihnen etwa auf dem Gebiet des vormaligen Jugoslawien.

"Es kam sowohl zu ‚angeordneten' als auch Kriegsverbrechen, die nicht befohlen wurden und von den Deutschen kaum kontrolliert werden konnten", sagt Zaugg. "Beispielsweise das Massaker von Velika." In dem Ort ermordeten Angehörige der Divisionen "Skanderbeg" und "Prinz Eugen" 428 Serben, darunter 120 Kinder, und brannten 300 Häuser nieder.

SS-Veteranen werden in manchen Ländern bis heute als Helden gefeiert

Lange Zeit wurde die Tatsache, dass hunderttausende "Fremdvölkische" und "Volksdeutsche" in der Waffen-SS gedient hatten, von der historischen Forschung vernachlässigt. Insbesondere in den Herkunftsländern dieser SS-Männer war das Thema häufig ein Tabu - und ist es teilweise bis heute. In manchen werden sie dagegen offen als Helden gefeiert. In der Ukraine etwa oder im Baltikum, wo jährlich am 16. März SS-Veteranen durch Riga marschieren.

Erst seit einigen Jahren bemüht sich eine junge Generation von Historikern aus ganz Europa, dieses Kapitel der Geschichte seriös aufzuarbeiten. "Es geht bei diesen Forschungen nicht darum, irgendjemanden moralisch zu verurteilen oder ihn umgekehrt reinzuwaschen", betont Böhler. Ziel sei es vielmehr, ein historisch genaueres Bild zu gewinnen - etwa davon, was die Leute damals dazu gebracht habe, in die Waffen-SS einzutreten. Nur so ließen sich die zahlreichen Mythen, die sich um das Thema gebildet hätten, beseitigen.


ein Bericht von Focus online

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