zum Gedenken
So kamen NS-Seilschaften zur rettenden Verjährung

Von Sven Felix Kellerhoff | Veröffentlicht am 10.10.2016

Die idyllisch gelegene Rosenburg bei Bonn war 1949 bis 1973 Sitz des Bundesjustizministeriums
Quelle: picture-alliance / dpa

Mit einer Manipulation konnte ein hoher Beamter im Bundesjustizministerium 1968 viele Verfahren gegen NS-Täter einstellen. Die Historikerkommission des Hauses findet schockierende Details.

Niemand wird gern angeklagt, schon gar nicht wegen schwerer Verbrechen bis hin zu Totschlag und Beihilfe zum Mord. Mitte der 60er-Jahre fĂĽrchteten Tausende frĂĽhere oder noch aktive Polizisten, Juristen und Ministerialbeamten, fĂĽr ihre Beteiligung am Holocaust zur Verantwortung gezogen zu werden.

Martin Sandberger (1911-2010) war als Chef des Einsatzkommandos 1a und als Kommandeur der Sicherheitspolizei in Estland an herausragender Stelle am Völkermord beteiligt. Wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslänglich begnadigt. 1958 entlassen, konnte er wieder in seinen alten Beruf als Jurist zurückkehren.

Dann trat am 1. Oktober 1968 eine scheinbar unbedeutende Änderung des Ordnungswidrigkeitengesetzes in Kraft – und wenige Monate später mussten die meisten Strafverfahren gegen NS-Täter in der Bundesrepublik eingestellt werden. "Die Welt" kritisierte drei Monate später hilflos die ärgerliche "Justizpanne".

Aufgrund einer angeblich übersehenen Nebenwirkung der Gesetzesänderung hatten nun alle NS-Straftaten außer Mord 15 Jahre nach Beginn einer möglichen Strafverfolgung als verjährt zu gelten, also am 9. Mai 1960: Verfahren, die erst später gegen NS-Täter eröffnet worden waren, mussten eingestellt werden. Bald wurde vermutet, dass der zuständige Unterabteilungsleiter im Bundesjustizministerium (BMJ), Eduard Dreher, die vermeintliche Panne zielbewusst vorbereitet hatte. Das erschien wahrscheinlich, doch ein schlüssiger Beleg fehlte bisher.

Das hat sich jetzt geändert. Die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission des BMJ, die am Montag in Berlin ihren Abschlussbericht vorstellt, hat Indizien für Drehers Manipulation gefunden, die überzeugend sind. Ihre beiden Leiter, der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker und der Erlangener Strafrechtler Christoph Safferling, kommen zum Ergebnis, der Unterabteilungsleiter sei der "einzige, der ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit besaß", die Gesetzgebung zu manipulieren. Und sie können sogar das Tatwerkzeug benennen: eine Randnotiz auf einem Vermerk.

Franz Six (1909-1975) war im Reichssicherheitshauptamt für „Gegnerforschung“ und „Weltanschauliche Forschung“ zuständig, hätte im Falle einer Invasion in England dort die Staatspolizei aufbauen sollen und wurde im Nürnberger Einsatzgruppenprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt. 1952 entlassen, machte er als Verleger von „Spiegel“-Büchern und als Unternehmensberater Karriere.

Nachweislich wurde das Ministerium am 17. September 1968 über die angeblich unabsehbare Folge der Gesetzesänderung informiert – da wären noch 13 Tage Zeit gewesen, diesen Fehler zu vermeiden. Der damalige Staatssekretär im Justizministerium, Horst Ehmke, lässt keinen Zweifel daran, dass die Regierung reagiert hätte. Schon am 25. September hätte das in der nächsten Kabinettssitzung beschlossen werden können.

Doch Dreher informierte die Ministeriumsspitze nicht über die Warnung. Im Gegenteil: Er ließ sich Zeit, neun Tage, um genau zu sein. Erst dann notierte er auf einem Vermerk eines Mitarbeiters, dass man sich keine Sorge zu machen brauche. Der letzte Schritt eines Ränkespiels mit dem Ziel der "versehentlichen" Amnestie.

Die Gesetzesänderung trat wie geplant in Kraft, und die offenbar beabsichtigte Wirkung folgte: Reihenweise mussten Verfahren gegen NS-Täter eingestellt werden, nicht zuletzt der bevorstehende große West-Berliner Prozess gegen Gestapo-Funktionäre.

Übrigens hatte der Unterabteilungsleiter Dreher selbst großes Interesse daran: Er hatte, wie Görtemaker und Safferling detailliert zeigen, als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck an zahlreichen Unrechtsverfahren mitgewirkt und profitierte damit von der vermeintlichen "Justizpanne" auch persönlich.

Doch Mitarbeiter des BMJ betrieben nicht nur auf diese trickreiche, vor der Öffentlichkeit und ihrer eigenen Behördenspitze verdeckte Weise Strafvereitelung zugunsten von NS-Tätern. Es gab sogar eine darauf spezialisierte Abteilung, die Zentrale Rechtsschutzstelle (ZRS). Sie warnte 1950 bis 1968 systematisch mutmaßliche Kriegsverbrecher vor internationalen Ermittlungsverfahren und betreute verurteilte deutsche Täter in ausländischer Haft.

Werner Best (r. ; 1903-1989) wurde als Statthalter nach Dänemark abgeschoben. In Kopenhagen zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wurde er 1951 in die Bundesrepublik abgeschoben und machte als Justiziar in der Industrie Karriere. Verfahren gegen ihn kamen nicht zur Eröffnung.

Die Arbeit der ZRS, erst im Justizministerium, dann im Auswärtigen Amt, ist schon gelegentlich angesprochen worden, auch in der anfangs hoch gelobten, bald aber wegen methodischer Mängel scharf kritisierten Studie "Das Amt" über das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Das entsprechende Kapitel in Görtemakers und Safferlings fast 600 Seiten starker Arbeit zeigt deutlich: Sachliches Vorgehen ist deutlich zielführender als die aufgeregte Rhetorik der AA-Kommission, deren Vorsitzender das Auswärtige Amt schon mal als "verbrecherische Organisation" bezeichnete.

Natürlich hat auch die BMJ-Kommission Nazis gezählt – das ist die Grundlage jeder historischen Aufarbeitung von Kontinuitäten. Dazu konnte sie die Personalakten von allen 170 Mitarbeitern auf Referatsleiterebene und höher einsehen, die bis einschließlich 1927 geboren worden waren. Das Ergebnis kann nicht wirklich überraschen: Mehr als die Hälfte des fachlich tätigen Personals des Ministeriums bis 1973 hatte der NSDAP angehört.

Zwar war kein "Alter Kämpfer" darunter, also niemand, der bis 1930 der Hitler-Bewegung beigetreten war, und auch niemand, der sein Parteibuch 1931/32 erworben hatte. Dagegen gehörten immerhin 23 von 90 späteren BMJ-Mitarbeitern zu den "Märzgefallenen". Also zu jenen Opportunisten, die zwischen Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und der Aufnahmesperre zu Hunderttausenden in die NSDAP strömten.

Den relativ höchsten Anteil von früheren Parteimitgliedern gab es 1957, neun Jahre später hatten drei der fünf Abteilungsleiter und sogar sechs der zehn Unterabteilungsleiter in der Nazizeit der NSDAP angehört. Diese Tatsache griff die SED-Propaganda gern auf, um den demokratischen deutschen Staat zu diskreditieren.

Doch, das halten Görtemaker und Safferling völlig zu Recht fest, war nur eine formale Belastung – wichtiger ist, ob und, wenn ja, wie stark sich nationalsozialistisches Denken in der Gesetzgebung der Bundesrepublik auswirkte. Das hat die BMJ-Kommission an verschiedenen Beispielen untersucht, etwa dem Staatsschutzrecht und der Reform des Jugendstrafrechts, aber auch der lange hintertriebenen Aufhebung der "Erbgesundheitsurteile".

Wie keine andere Gestalt personifiziert der Ministerialbeamte Hans Globke (r.; neben Konrad Adenauer) das vermeintliche Scheitern der rechtsstaatlichen Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik.

Sehr deutlich zeigen sich die Folgen der Personalauswahl etwa im lange streng geheimem „V-Buch“. Seit Erlangung der fast uneingeschränkten Souveränität 1955 war klar, dass die Bundesrepublik für den Krisen- und Kriegsfall gesetzliche Regelungen brauchte. Weil aber das NS-Regime juristisch auf zwei Notstandsgesetzen beruht hatte, der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz, war das eine hochpolitische Angelegenheit.

Seit 1958 beriet der Bundestag unter öffentlicher Anteilnahme die künftige "Notstandsverfassung". Doch parallel damit stellten Beamte des BMJ für den Fall eines Konfliktes vor Inkrafttreten dieser Regelungen ein „Kriegsbuch“ von Notverordnungen zusammen.

Sie hebelten faktisch das Grundgesetz aus. Unter anderem sollten im Krisenfall die Steuern pauschal um 20 Prozent erhöht, die Rundfunkanstalten der Kontrolle der Bundesregierung unterstellt und eine Art "Schutzhaft" für Verdächtige ermöglicht werden. "Das BMJ hatte damit bei der ersten wirklichen Bewährungsprobe seiner Rolle als ,Hüter der Verfassung‘ versagt", urteilen Görtemaker und Safferling.

Mit den 1968 gegen erheblichen öffentlichen Widerstand verabschiedeten Notstandsgesetzen hatte das "V-Buch" so gut wie nichts gemein. Die darin genau festgelegten Regeln für den Verteidigungsfall sind geradezu das Gegenteil. Zu verdanken ist dies aber nicht den Beamten des BMJ, sondern vor allem dem Justizminister der ersten Großen Koalition, Gustav Heinemann, ab 1969 Bundespräsident, und dem damaligen Staatssekretär im Innenministerium Ernst Benda.

Warum aber war das Justizministerium der jungen Bundesrepublik so stark von NS-belastetem Personal geprägt? An den Gründungschefs konnte es nicht liegen. Der erste Justizminister Thomas Dehler war mit einer von den Nazis diskriminierten Jüdin verheiratet, sein Staatssekretär Walter Strauß verlor 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft seine Beamtenstelle im damaligen Reichswirtschaftsministerium und entging später nur knapp dem Tode. Beide waren jeder Sympathie für den Nationalsozialismus völlig unverdächtig.

Trotzdem stellten sie ab 1949 statt nach Deutschland zurückgekehrter Emigranten oder bewusst gesuchter unbelasteter Mitarbeiter viele Juristen ein, die auch im Dritten Reich im Staatsapparat tätig gewesen waren. "Dehler wie Strauß ging es in erster Linie um die Arbeitsfähigkeit des Ministeriums", bilanzieren Görtemaker und Safferling. Sie war ihrer Ansicht nach nur gewährleistet, wenn die Beamten über "die nötige fachliche Kompetenz und Erfahrung verfügten".

Dazu gehörte sicher auch die Vorstellung vom "unpolitischen Beamten" – auch wenn es davon gerade im Dritten Reich fast keine gegeben hatte. Ja, der jedenfalls auf der Ebene von Ministerien sogar ein "Mythos" war und ist, wie die beiden Kommissionschefs feststellen, "weil Politiknähe und Politikberatung zum Wesen und zu den Kernaufgaben der Ministerialverwaltung gehören".

Denn Juristen und zumal solche im Justizministerium sind stets "Techniker der Macht" und tragen entscheidend zur Stabilisierung jedes politischen Systems bei. In den allermeisten Gesetzen des BMJ war daher kein „braunes Gedankengut auszumachen“. Allerdings fehlte es an der "nötigen politisch-historischen Sensibilität", wie Görtemaker und Safferling an Beispielen wie etwa dem "V-Buch" zeigen. Im Bereich der Strafverfolgung von NS-Täter führte das sogar zu kontraproduktivem Verhalten. Wer, wie beispielsweise Eduard Dreher, der hochbegabte Strafrechtsexperte, selbst mit einer Anklage rechnen musste, war eben nicht besonders geneigt, dieses Thema voranzubringen.

Manfred Görtemaker / Christoph Safferling: "Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit", C. H. Beck, München. 588 S.


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