Sohn des Schlächters von Polen
Nazi-Nachfahre gibt gescheiterter Entnazifizierung die Schuld
Dienstag, 18.10.2016, 10:48 · von FOCUS-Online-Autor Armin Fuhrer
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Alliierten Millionen Deutsche entnazifizieren. Niklas Frank, der Sohn des "Schlächters von Polen", hat sich vergessene Akten angeschaut und urteilt: Die Entnazifizierung ist komplett gescheitert. Das habe Nachwirkungen bis heute.
Die Akten sind versteckt, verstaubt, vergessen und wurden Jahrzehnte nicht angefasst. 3,6 Millionen gibt es davon, zum Teil bestehen sie nur aus einer Seite, zum Teil sind große Kartons mit ihnen vollgestopft. Es gab sogar schon einmal die Diskussion, ob sie nicht besser vernichtet werden sollten. "Dazu kam es zum Glück nicht", sagt Niklas Frank.
Frank ist jahrelang durch Deutschland gereist, hat Archive besucht - und sich tausende von Entnazifizierungsakten aus den Jahren 1946 bis 1951 vorlegen lassen. 175 veröffentlicht er jetzt, versehen mit teils bissigen Kommentaren.
Die Vergangenheit lässt den früheren Journalisten Niklas Frank nicht los. Als Kind von Hitlers Anwalt Hans Frank, gibt es für ihn wohl nur drei Möglichkeiten: verdrängen, was der Vater getan hat oder wofür er verantwortlich war, beschönigen, so wie es viele Nachkommen prominenter Nationalsozialisten getan haben oder sich der Realität stellen, auch wenn es schmerzhaft ist und letztlich zur Distanzierung führen muss. Letzteres hat Frank getan.
Sein Vater Hans Frank, ein Nazi der ganz frühen Stunde, im NS-Staat oberster Jurist, ist vor allem als Generalgouverneur des besetzten Polens während des Zweiten Weltkrieges in die Geschichte eingegangen. "Schlächter von Polen" war nur einer seiner bezeichnenden Spitznamen. Er wurde im Oktober 1946 vom Nürnberger Gerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sein Sohn Niklas hat ihn sich schon vor Jahrzehnten mit dem Buch "Mein Vater. Eine Abrechnung" schonungslos vorgeknöpft. "Das tut weh, aber danach geht es einem besser als vorher", so seine Erfahrung.
Klar, nur wenige Kinder von Nazis haben einen solch berühmten und mit Schuld aufgeladenen Vater wie der heute 77-jährige Niklas Frank. Aber die NSDAP hatte 1945 immerhin 8,5 Millionen Mitglieder. Folglich haben Millionen Nachkommen in den Nachkriegsjahrzehnten gelebt und leben noch immer.
"Aber niemand aus der Familie hat sich später dafür interessiert, was der Vater, die Mutter oder die Großeltern während der Nazi-Diktatur und des Krieges getan haben". Das war eine der Erkenntnisse, die Frank während seiner Recherchen mit am meisten erschüttert hat.
Bis auf wenige Ausnahmen wie die der Frauen des ebenfalls in Nürnberg hingerichteten Außenminister Joachim von Ribbentrop oderdes 1942 von Partisanen ermordeten Reinhard Heydrich oder Hermann Görings Frau Emmy, hat Frank sich in den Archiven ganz willkürlich Akten vorlegen lassen. "Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich wollte ganz einfach einen Querschnitt haben". Etwa 3000 Akten hat er eingesehen. Das Ergebnis hat ihn einerseits empört, andererseits belustigt.
Für die Entnazifizierung wurden in den drei Westzonen Spruchkammern gebildet. In der sowjetischen Zone übernahmen Gerichte die Aufgabe, womit die Entnazifizierung sogleich unter der Aufsicht der SED ablief, die die Justiz kontrollierte. Ziel der Entnazifizierungsaktion, die von den alliierten Siegermächten gestartet und bald in deutsche Hände gegeben wurde, war es, dafür zu sorgen, dass ehemalige Nationalsozialisten im öffentlichen Leben in beiden Teilen des neuen Deutschland keine Rolle mehr spielen würden. Dass dieses Vorhaben - auf beiden Seiten - gründlich misslungen ist, ist eine längst bekannte Erkenntnis. Auf welche Art und Weise sich aber fast alle der Millionen Überprüften mindestens als Mitläufer, wenn nicht als Nazi-Gegner darstellten, hat Frank dann doch überrascht.
"Wenn man die Akten heute ahnungslos liest, muss man denken, die NSDAP hat fast ausschließlich aus Antifaschisten bestanden". Es wurde gelogen, verfälscht, betrogen - und das in ganz großem Stil. Viele "Zeugen" sagten zugunsten der "Betroffenen" aus und bescheinigten ihnen, schon immer Antinazis gewesen zu sein, selbst wenn sie Mitglied der Partei, SA oder SS gewesen waren. Eine verschwindend geringe Zahl von "Betroffenen" galt am Ende als belastet. Die allermeisten wurden als "Mitläufer" oder "Entlastete" eingestuft.
Vor allem die Amerikaner waren ursprünglich mit großem Interesse in die Entnazifizierung gestartet. Umso kälter dann aber der Kalte Krieg mit der Sowjetunion wurde, umso mehr kühlte auch das Interesse ab, belastete Personen ausfindig zu machen.
Westdeutschland wurde in den Westen integriert und da glaubte man, es sich nicht leisten zu können, auf viele NS-Belastete verzichten zu können. Im sowjetischen Machtbereich wurde die Entnazifizierung missbraucht, um Gegner oder auch nur angebliche Gegner des neuen Systems auszuschalten.
Die Deutschen interessierte das Thema ohnedies nicht übermäßig. Ihnen waren das eigene Überleben und der Wiederaufbau des zerstörten Landes wichtiger. "Das muss man auch immer berücksichtigen, wenn man aus der bequemen Sicht des heutigen Demokraten urteilt", so Frank.
Den offiziellen Begriff "Betroffene" findet Frank symptomatisch für das ganze, im April 1951 beendete Verfahren. "Die waren nicht ‚betroffen', das waren doch eigentlich Angeklagte ". Nicht einen einzigen Fall habe er gefunden, bei dem der "Betroffene" sich dazu bekannt habe, NSDAP-Mitglied oder Funktionär in der SA oder der SS gewesen zu sein.
"Niemand hat irgendwie bedauert, was er getan hat oder wofür er verantwortlich war". Nach Einsicht in die Akten kann es für Niklas Frank keinen Zweifel geben: "Die Entnazifizierung ist komplett gescheitert". Für ihn hat die Sache aber auch eine geradezu amüsante Seite. "Es ist saukomisch zu lesen, mit welchen absurden Argumenten die Leute sich verteidigt haben". Und doch blieb jedes Mal auch ein Schmerz zurück.
Frank arbeitet in seinem Buch nicht wie ein professioneller Historiker. Er sucht nicht die rote Linie, geht nicht mit wissenschaftlicher Präzision vor, sondern erzählt einzelne Geschichten, die am Ende aber auch ein Gesamtbild ergeben. "
Das Absurde und Komische an diesem ganzen Verfahren hat mich gereizt", erklärt er seine Motivation. Er zerlegt seine 175 ausgesuchten Fälle nicht systematisch, er schildert sie auch nicht einfach nur. Er kommentiert sie, tritt teilweise in eine Art Zwiegespräch mit den "Betroffenen" oder den Anklägern ein. Und das oftmals mit Ironie, Sarkasmus - bis hin zu bitterbösem Zynismus. Und ganz selten auch mal mit Sympathie und Lob.
Die Akten bilden nach Franks Ansicht eine sehr wichtige Quelle zur Geschichte des Dritten Reiches, aber ebenso auch zur Geschichte der Nachkriegszeit und zur Entstehung der beiden deutschen Staaten. Man lerne viel über den Alltag im NS-System, zum Beispiel darüber, wer damals wen denunziert hat.
Was Westdeutschland und neugegründete Bundesrepublik angeht, so macht das ganze Entnazifizierungsverfahren deutlich, dass hier nur eine "Schönwetterdemokratie" gegründet worden sei. In den ostdeutschen Akten hat ihn am meisten erschreckt, dass sich das System der Denunzierungen nahtlos im Sozialismus fortgesetzt habe. Von Demokratie konnte dort ja ohnehin keine Rede sein.
Die gescheiterte Entnazifizierung ist für Frank nicht einfach Vergangenheit, das Urteil darüber nicht einfach ein historischer Befund. Für ihn sind die Nachwirkungen bis heute spürbar: "Für mich gibt es eine direkte Linie von dieser gescheiterten Entnazifizierung zu den brennenden Flüchtlingsheimen". Das ist sicher eine sehr scharfe Meinung, die man in ihrer Radikalität nicht teilen muss. Aber wer Franks Buch liest, kommt nicht umhin festzustellen, dass einiges schief gelaufen ist bei dem, was als Entnazifizierung bezeichnet wird.
Ein Artikel von Focus online