1945 Weiße Fahne statt Bombenhölle
Fünf Männer meuterten 1945, um Helgoland vor der Zerstörung zu bewahren - kurz vor Kriegsende wurden sie als Verräter erschossen. Die Todesurteile bestätigte ein Admiral, den die Marine bis heute in Ehren hält.
Von Katja Iken
04.05.2020, 08.00 Uhr
Der Mann hat ein markantes Kinn, einen entschiedenen Blick und eine hohe Stirn - im Januar 2017 wurde eine Büste von Rolf Johannesson in der Aula der Marineschule Mürwik in Flensburg aufgestellt. Der Berliner war am 30. Januar 1945 zum Konteradmiral der Kriegsmarine befördert worden. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte er zu den Gründervätern der Bundesmarine und setzte sich für maximale Offenheit bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein.
Auch über die eigene Verstrickung ins Hitler-Regime schrieb Johannesson in seiner Autobiografie "Offizier in kritischer Zeit", die 1989 kurz vor seinem Tod erschien und 2016 neu aufgelegt wurde. Als Lebensmotto stellte der hochdekorierte Offizier dem Buch ein Perikles-Zitat voran: "Das Geheimnis des Glückes ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut."
In der schonungslosen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die er so vehement forderte, schonte er indes sich selbst. Denn über ein Detail verlor der Namensgeber des "Admiral-Johannesson-Preises", zweimal jährlich verliehen an die besten Nachwuchsoffiziere der Marineschule Mürwik, lebenslang kein Wort: Als Kommandant der Seeverteidigung Elbe-Weser und oberster Gerichtsherr bestätigte Konteradmiral Rolf Johannesson am 21. April 1945 die Todesurteile gegen fünf Widerständler, die Helgoland kampflos den Engländern übergeben wollten. Erschossen wurden daraufhin Dachdeckermeister Georg Eduard Braun, Fähnrich Karl Fnouka, Obersignalmaat Erich Paul Jansen Friedrichs, Obergefreiter Kurt Arthur Pester und Fähnrich Martin Otto Wachtel.
Fünf sinnlose Tote, wenige Tage vor Ende eines sinnlosen Kriegs. Fünf Männer, wild entschlossen, Helgoland im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden Niederlage vor der Zerstörung durch die Alliierten zu retten. Den Widerständlern schwebte nichts Geringeres vor, als einen mit rund 4000 Soldaten bemannten, hochgerüsteten Flottenstützpunkt in ihre Gewalt zu bringen.
Die Nationalsozialisten hatten Helgoland, einzige deutsche Hochseeinsel, gut 60 Kilometer von Cuxhaven in der Nordsee gelegen, zur gigantomanischen Kriegsfestung ausgebaut, strotzend vor Waffen, Militäranlagen, Munition. Das Nordostland wurde neu angelegt, die Insel wie ein Schweizer Käse von Tunneln durchbohrt, im Süden entstand ein gigantischer U-Boot-Bunker mit drei Meter dicken Decken. Zudem stationierte man vor Kriegsende sogenannte K-Verbände mit besonders hitlertreuen Soldaten.
Der Rote Felsen hatte sich tiefbraun verfärbt, nach der "Machtergreifung" 1933 hatte die Gestapo ohne Gnade alle Inselbewohner verfolgt, die gegen den Aufstieg der Nazis opponiert hatten. Zu den Männern, die verhaftet, aufs Festland gebracht und zur politischen "Umerziehung" in Konzentrationslager verschleppt wurden, gehörte auch Erich Friedrichs - neben Georg Braun Kopf der Helgoländer Widerstandsgruppe.
Den Nationalsozialisten galt Restaurantbesitzer Friedrichs als Staatsfeind, weil er sich 1919 zusammen mit Gleichgesinnten für eine Rückkehr der Insel zu England stark gemacht hatte; Helgoland war erst 1890 ans Deutsche Reich gegangen. Mitte September 1933 kam Friedrichs mit seinem Freund August Kuchlenz ins KZ Kuhlen in Schleswig-Holstein. Die Gestapo ließ die beiden Männer erst frei, nachdem sie eine Erklärung unterschrieben hatten, sich künftig politisch nicht mehr zu betätigen. Woran sich Friedrichs - wegen seiner Unlust auf alkoholische Getränke als "nüchternster Wirt der Insel" gerühmt - jedoch nicht hielt.
Regelmäßig gingen ab Anfang 1945 beim Besitzer des "Friesenhauses" in der Schifferstraße Männer ein und aus, die dachten wie Friedrichs und Braun: Der Krieg ist verloren, wir müssen uns kampflos ergeben und die weiße Fahne hissen, damit die Insel nicht von den Alliierten zerbombt wird.
Doch trotz der aussichtslosen Lage weigerte sich Inselkommandant Alfred Roegglen, den englischen Forderungen nachzugeben und die Insel zu übergeben. Das erfuhren die Widerständler wohl direkt von den Engländern, zu denen sie heimlich Funkkontakt aufgenommen hatten.
Als Obersignalmaat kannte sich Friedrichs mit Funkverkehr bestens aus. Auf der Insel stellte die Gruppe geheime Sender auf und informierte die Engländer über ihren Plan: Die Widerständler, unter ihnen niedrige Marineoffiziere und Zivilisten, wollten die auf der Insel stationierten hochrangigen Militärs beim Mittagessen überwältigen und außer Gefecht setzen. Um die Soldaten der K-Verbände vom Kampf abzuhalten, wollte man Geschütze des Oberlandes auf die Kaserne im Unterland richten. Ein so abenteuerliches wie mutiges, aber auch nicht völlig aussichtsloses Vorhaben.
Doch Inselkommandant Roegglen bekam Wind von den Plänen, denn unter die Widerständler hatten sich zwei Verräter gemischt: Paul Münster und Ernst Clement. Die beiden Oberfeldwebel nahmen an den heimlichen Treffen teil und berichteten alles ihren Vorgesetzten.
Ab dem 10. April 1945 ließ Roegglen sich von Soldaten bewachen, bald bemerkte die Familie Braun, dass sie heimlich beobachtet wurde. Nachts hörte sie Schritte; wenn jemand unverhofft aus der Tür trat, sprangen Menschen über den Gartenzaun und liefen davon. Die Schlinge zog sich langsam zu. Am 17. April stellten die Engländer den Widerständlern per Funk ein Ultimatum - so erinnerten sich Zeitzeugen: Wenn am nächsten Tag bis zwölf Uhr mittags nicht die weiße Fahne gehisst sei, werde die Insel bombardiert.
Die Gruppe geriet enorm unter Zeitdruck, ihre Pläne waren noch nicht ausgereift. Wie genau sollten die Offiziere überwältigt, wie die Soldaten in Schach gehalten werden? Eine Gelegenheit dazu bot sich nicht mehr: In der Nacht vom 17. auf den 18. April landeten ein vom Festland beordertes Kriegsgericht sowie ein SS-Kommando auf der Insel. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, Posten mit Maschinenpistolen brachten sich in Stellung.
Um Punkt sechs Uhr früh schlug die Gestapo zu: Als erster wurde Martin Wachtel aus dem Schlaf gerissen, es folgten Kurt Pester und Karl Fnouka. Erich Friedrichs wurde verhaftet, als er gerade seinen Dackel spazieren führte, bei Georg Braun wurden Frau und Töchter mit abgeführt. Insgesamt wurden rund 20 Menschen verhaftet.
Das britische Ultimatum verstrich. Und tatsächlich startete die Royal Air Force mittags ihren vernichtenden Großangriff auf die Insel, noch bevor die Verschwörer aufs Festland transportiert werden konnten.
In den beiden Angriffswellen am 18. und 19. April luden fast tausend Flugzeuge ihre Bombenlast auf Hitlers Kriegsfestung ab. 95 Prozent aller Häuser wurden unbewohnbar, 128 Menschen starben - Helgoland glich einer Mondlandschaft. Noch vor der Evakuierung der Bevölkerung wurden die verhafteten Widerständler, die im Bunker überlebt hatten, per Schnellboot nach Cuxhaven transportiert und zwei Tage später vor Gericht gestellt. "Tod durch Erschießen wegen Verschwörung und Aufforderung zur Meuterei", lautete im Schnellverfahren das Urteil gegen fünf der Verhafteten.
Was aus den anderen Widerständlern wurde und wie ihre Pläne genau aussahen, konnte die Helgoländerin Astrid Friederichs trotz intensiver Recherchen nicht herausfinden. Sicher ist: Die Todesurteile wurde in Windeseile von Konteradmiral Rolf Johannesson bestätigt und noch am selben Tag vollstreckt.
Nur viereinhalb Stunden nach der Urteilsverkündigung starben die fünf Helgoländer am 21. April 1945 um 18.30 Uhr auf dem Schießplatz Cuxhaven-Sahlenburg. Vier Männer hatten die ihnen angebotene Augenbinde angenommen. Weil Georg Braun abgelehnt hatte, musste er mit dem Rücken zum Erschießungskommando stehen und fiel nach vorn.
"So einer kann doch kein Vorbild sein"
Die Kritiker machten ihrem Ärger 2019 mit einem offenen Brief Luft, initiiert vom Autor Jakob Knab, unterzeichnet etwa von Hannes Heer (Ex-Kurator der Wehrmachtsausstellung), Uwe Danker (Direktor am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Uni Flensburg) und Fregattenkapitän a.D. Dieter Hartwig, ebenso von Heinz Pester, Autorin Astrid Friederichs und Helgolands Museumsdirektor Jörg Andres.
Die Büste müsse weg, der Preis umbenannt werden, einer wie Johannesson, zumal Mitglied der "Legion Condor", sei nicht traditionswürdig, protestieren die einen. Moralisch habe der Admiral zwar Schuld auf sich geladen, jedoch wie kaum ein anderer sein Handeln bereut und nach dem Krieg Großes für die Flotte geleistet, kontern die anderen: "Das ehrende Andenken in der Marine ist eben kein unkritisches", so ein wissenschaftliches Gutachten des Bundestags vom Juni 2019. "Es überhöht ihn gerade nicht als Vorbild, sondern zeigt die Persönlichkeit in all ihren Schattierungen."
Quelle: spiegel.de vom 04.05.2020
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Museum Helgoland
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