Gomulka sagte zu Holt: "Eigentlich sollten wir uns nicht beklagen. Weißt du noch, wie wir uns während der Flak-Ausbildung unterhielten, wozu der stumpfsinnige Drill gut ist? Damit man Sehnsucht nach dem Einsatz bekommt."
Sie saßen zusammen auf der Latrine. Das war hier der einzige Ort, wo man ungestört ein paar Worte wechseln konnte. Gomulka war seit dem Urlaub schweigsam und in sich gekehrt. Sie rauchten. Über das Lager brach die Dämmerung herein.
"Hast recht", antwortete Holt. Essen stand mir bis oben ran, dachte er, und jetzt wünsch ich mich zurück. Alles, was kommen kann, ist besser als dieses Lager!
Die Gerüchte von einem bevorstehenden Einsatz verstummten nicht. Jeder hatte anfangs mit Unruhe und Angst an diesen Einsatz gedacht, heute gab es wenige, die ihn nicht herbeiwünschten. "Man ist verdammt vergesslich", sagte Holt. "Wir werden uns eines Tages hierher zurückwünschen!" - "Bis jetzt haben wir´s jedesmal schlechter erwischt", meinte Gomulka. Holt sog an der Zigarette. "Gottesknecht war ein märchenhafter Vorgesetzter!" - "Die Flak war überhaupt die reinste Sommerfrische", erwiderte Gomulka. "Dort haben sie uns wenigstens noch wie Menschen behandelt." Holt nickte.
Hier trieb ein von morgens fünf bis abends sieben minutiös geregelter und genau vorgeschriebener Tagesablauf die Jungen an die Grenze der Erschöpfung. Holt hielt durch, er war gesund und kräftig, er schickte sich drein, dass Obervormann Schulze ihn zwanzigmal mit Karabiner und Sturmgepäck über die Eskaladierwand jagte und nahm alle Strapazen als Training. Nur Härte, dachte er, wird mich die Anstrengungen des Krieges ertragen lassen! Aber der Ton, der hier herrschte, zermürbte ihn doch, die Schikane, das ausgeklügelte und dabei so einfache System, den Willen jedes einzelnen zu brechen.
Das Lager, auf dem Gelände einer Gärtnerei, war von einer hohen Ziegelmauer umgeben. Dicht beim Tor lag die große Verwaltungsbaracke mit Wachlokal, Arrestzelle und den Wohnungen der Führer. Dahinter dehnte sich der Appellplatz, hundert Meter im Quadrat, mit Schlacke bestreut. Die Gärtnerei, rings um die drei Unterkunftsbaracken, war in ein Übungsgelände mit Aschenbahn, Eskaladierwand und Wassergraben, Feldstellungen, Unterständen, Schützengräben und Drahthindernissen verwandelt worden. Die Arbeitsmänner wurden militärisch ausgebildet. An die Stelle des Spatens war der Karabiner getreten.
Holt gehörte mit Gomulka, Wolzow und Vetter zum Trupp des Obervormanns Schulze und lag mit ihnen zusammen in einer Stube, in einem der großen, unwirtlichen Barackenräume, in dem gewöhnlich fünfzehn Arbeitsmänner mit einem Stubenältesten untergebracht waren. Aus der Batterie und Holts ehemaliger Klasse waren noch ein paar andere Schüler zur gleichen Abteilung eingerückt.
Obervormann Schulze war ein grober, stiernackiger Bursche von zwanzig Jahren. Über dem unbewegten, leeren Gesicht floh die Stirn flach nach hinten. Den wasserhellen Augen fehlte jeder menschliche Ausdruck, sie blickten so tierhaft drein, dass Holt das Gefühl nicht loswurde, er habe es mit einem angezogenen Affen zu tun. Der deprimierende Eindruck wurde verstärkt durch die zu lang herabhängenden, mit Muskelwülsten bepackten Arme und eine reichliche Körperbehaarung, die Holt morgens beim Waschen mit immer neuem Ekel erfüllte. Die Intelligenz des Obervormanns reichte gerade, empfangene Befehle weiterzugeben, mit einer eigenartig gequetschten Stimme, die sich zu heiserem Gebrüll erheben konnte. Er verfügte über ein paar auswendig gelernte Dienstvorschriften, war trotz seiner Beschränktheit nicht ohne Schläue und dabei von rücksichtsloser Ungerechtigkeit. Er verfolgte jeden, der intelligenter war als er selbst, mit Misstrauen und Hass.
An diesem Abend hackte Schulze auf Vetter herum. Christian Vetter war nicht mehr dick oder schwammig, er war gewachsen und überragte Holt an Körpergröße. In den sechs Wochen hatte er sich mehr als Holt und Gomulka an den rohen Ton gewöhnt und eine Reihe von Angewohnheiten angenommen, deren er sich noch bei der Flak geschämt hätte. Er rülpste, ließ rücksichtslos die Darmwinde fahren und quatschte mit den anderen in gemeinen Worten von Weibergeschichten, was Holt um so abstoßender und alberner fand, als Vetter noch immer vor jedem weiblichen Wesen einen roten Kopf bekam.
Obervormann Schulze bediente sich in seiner Begriffsarmut zweier immer wiederkehrender Schimpfwörter: "Sie Untier" und "Sie nasser Sack". Die Bezeichnung Untier, fand Holt, passte am besten auf Schulze selbst, wie er so dastand, nach vorn geneigt, das tote Gesicht vorgeschoben und die langen Arme in die Hüften gestützt. "Sie nasser Sack!" brüllte er mit seiner gequetschten Stimme Vetter an. "Mit Sie wer ich noch fertig, aber jetzt falln Sie um, Sie Untier, das kost zwanzig, von wegen über mir lustig machen!" Vetter kippte gehorsam nach vorn auf den Fußboden und zählte laut: "Eins... zwei... drei..."
Holt zog sich aus und baute sorgfältig an seinem Kleiderpäckchen. Überflüssig, dass ich mir solche Mühe geb, dachte er dabei. Es ist sowieso ein Lotteriespiel, wen es trifft! Fast alle lagen schon auf den Strohsäcken, nur Wolzow fehlte noch.
Holt kletterte auf sein Bett. Wolzow hatte sich eine Ausnahmestellung erobert. Nach außen hin knallte er vor Schulze die Hacken noch lauter als andere, aber hinter dieser Kulisse der Subordination soufflierte er dem Obervormann beim Dienst und flüsterte ihm alles ein, was nötig war, das Ansehen des Truppführers bei den Vorgesetzten sprungartig zu heben. Wolzow verhalf Schulze zu der Anerkennung, sein Trupp sei der beste der Abteilung. Wolzow organisierte den Dienst, und der Obervormann befahl mit armen Worten, was Wolzow durchdacht hatte. Wolzow war der eigentliche Führer des Trupps. Schulze fügte sich und fuhr gut dabei, in der Illusion, dass er der Vorgesetzte und Wolzow eine Art Adjutant sei. Das einzige Originale an Schulze war das Schimpfen und Brüllen und das Leuteschinden.
Wolzow zeigte sich seit den Urlaubstagen finster und verschlossen, was Holt auf den Drill schob. Wer weiß, ob ich mich nicht auch so verändert hab... Er rauchte, obwohl das Rauchen im Bett verboten war. Aber er konnte sich nicht entschließen, die Zigarette auszudrücken. Vetter und ein blonder, gutmütiger Bauernbursche aus dem Harz hatten Stubendienst und fegten eifrig den geölten Bretterboden. Der Obervormann saß angekleidet an seinem kleinen Tisch neben der Tür. Endlich polterte Wolzow in die Stube. Er hatte im Speiseraum den Dienstplan abgeschrieben und reichte Schulze das Blatt. Der Obervormann rief: "Ich verles den Dienstplan von morgen!!" Dann gab er Wolzow das Papier zurück. Wolzow las: "5 Uhr wecken. - 5 Uhr 20 bis 5 Uhr 29 Frühstück. - 5 Uhr 30 raustreten zum Morgenappell. - 6 Uhr bis 8 Uhr 45 Ordnungsdienst. - 9 Uhr bis 10 Uhr 44 Waffenausbildung: Panzerfaust. - 10 Uhr 45 bis 10 Uhr 59 Pause. - 11 Uhr bis 11 Uhr 55 Abteilungsunterricht: Verhütung von Geschlechtskrankheiten römisch zwei. - 12 Uhr bis 12 Uhr 45 Mittagessen, anschließend Mittagsruhe. - 13 Uhr 30 raustreten und Abmarsch zum Scharfschießen, Karabinerübungen III und IV. - 20 Uhr Abendessen. - 21 Uhr Nachtruhe." Wolzow bückte sich und flüsterte Schulze ein paar Worte zu. Der Obervormann rief: "Karabinerübung IV wird mit Gasmaske geschossen, bis morgen früh Meldung bei mir, wer neue Klarscheiben braucht!" Holt verbarg die Zigarette hinter der hohlen Hand. Käm der Schulze nie drauf! Wenn die Kerle nichts sehn und lauter Fahrkarten schießen, dann wär das Donnerwetter da!
Schulze gab noch den Stubendienst bekannt: "Wenskat und Huber... Dass Sie früh ranhaun, dass Sie gleich Kaffee holn könn!" Er ging von Bett zu Bett, in zehn Minuten war Stubendurchgang. "Gomulka, natürlich Ihr Kleiderpäckchen, saumäßig, raus, Sie Untier, wegen Sie fällt der ganze Trupp auf!" Er warf Gomulkas Uniformstücke durch die Stube. Gomulka sprang schweigend aus dem Bett und las seine Sachen zusammen.
Holt hatte endlich die Zigarette ausgedrückt und überdachte schläfrig den kommenden Tag. Ordnungsdienst, üble Schinderei. Waffenausbildung, Panzerfaust, kann interessant werden. Abteilungsunterricht, wieder mal Geschlechtskrankheiten, die eine Stunde geht vorbei. Dann raus zum Schießstand, ein Elend, diese Marschiererei.
Schulze, an der Tür postiert, meldete: "Stube fünf mit ein Obervormann und vierzehn Mann fertig zur Stubenabnahme!" Unterfeldmeister Böhm, der Zugführer, ging als "Führer vorn Dienst" durch die Baracken. Er mochte guter Laune sein, denn sonst pflegte er gleich an der Tür loszubrüllen: "Sauerei! Mistloch!!" Heute trat er schweigend in die Stube. Hoffentlich bleibt er friedlich, dachte Holt. Da ging es schon los: "Füße vorzeigen!" Holt hing die Beine aus dem Bett. Gomulka war vorhin barfuss auf den geölten Fußboden gesprungen und hatte sich danach die Sohlen nur flüchtig an einem Lappen abgewischt. "Dreckschwein, Misthund!" schrie der Unterfeldmeister. "Schulze, sehn Sie sich diese Sau an!" - "Raus, Sie Untier!" schimpfte Schulze. Gomulka zog die Hose über und lief in den Waschraum.
Böhm stand unschlüssig in der Stube. Jetzt überlegt er, ob´s genug ist, dachte Holt und sah den Unterfeldmeister suchend umherblicken... Jetzt geht´s los, jetzt findet er bestimmt was! "Was ist denn das?" sagte Böhm langsam. "Ein Gewehr ohne Mündungsschoner?" Er brüllte: "Wem gehört der Karabiner!?" Holt beugte sich weit aus dem Bett, bis er den Gewehrständer sehen konnte: Gott sei Dank, meins ist es nicht! Jemand sprang aus dem Bett. "Sie wahnsinnige Gestalt! Sie irrsinniges Vieh, Sie wahnsinniges!" Jetzt ist er in Fahrt, jetzt geht es weiter! "Fünfzig Kniebeugen, das Gewehr in Vorhalt, ich bring Ihnen bei, wie man mit seiner Waffe umgeht, Sie hohläugiges Gespenst!" Er hat immer neue Schimpfwörter, dachte Holt. "Und hier: Staub unter dem Gewehrständer! Und dort: eine Kippe im Aschenbecher, Jesusmariaundjosef: eine Kippe!" Jetzt ist der Stubendienst dran, dachte Holt, armer Christian!, und wütend: Die Kippe hat der Schulze ausgedrückt, als Böhm reinkam! "Dreck, überall Dreck!" tobte der Unterfeldmeister. "Die Kerle scheißen wohl in die Ecken, ja, was ist denn das für ein Saulader, ein Schweinekoben, ein stinkiger Affenstall, verdammt!" Stille. "Alles raus, los, raus, alles!" Holt sprang aus dem Bett, vier, fünf Handgriffe, er war angezogen, er schnürte schon die Schuhe zu. "Schulze! Fünfzehn Minuten Nachtschliff, aber im dritten Grad! Häschen-hüpf will ich sehn!" Und wieder brüllend: "Ihr werdet robben, bis euch der Nabel glänzt!"
Holt lief langsam in die Nacht hinaus, bis Schulzes gequetschte Stimme "Achtung!" rief. Im Gänsemarsch trabten sie in Richtung Hindernisbahn durch die Gärtnerei. Die Aschenbahn entlanggehüpft, mit vorgestreckten Händen, dann auf dem Bauch gekrochen, es war finster, man konnte mogeln. Zurück in die Stube: Handtuch, Seife, ab in den Waschraum. Jetzt wird er wohl Ruhe geben, jetzt ist er befriedigt!
Sie krochen in die Betten. Der Unterfeldmeister stand mitten in dem trüb erleuchteten Raum. "Ich bring euch Ordnung bei!" sagte er beinahe sanft. "Ich lehr euch, was Sauberkeit ist, ihr unerzogenen Ferkel, ich mach noch Menschen aus euch... und wenn ihr drüber krepiert!" Er ging zur Tür. "Gute Nacht!" Holt wickelte sich in eine Decke. Schlafen, nichts als schlafen!
Der Bettenbau war das Problem seines derzeitigen Lebens. Ein schlecht gebautes Bett bedeutete ein eingerissenes Bett, und dieses löste das Strafgericht Schulzes aus. Der Obervormann besaß alle Vollmachten, das Bett zum zweiten, dritten oder vierten Male einzureißen, unter Preisgabe der Mittagspause und jeder Minute der kargen Freizeit, immer wieder, bis zum Zapfenstreich und darüber hinaus. Es gab Fälle, da das Bett fünfzehn-, auch zwanzigmal am Tage gebaut worden war, und Schulze stand dabei und riss es zum fünfzehnten oder zwanzigsten Male wieder ein. Ein schlecht gebautes Bett hieß, einen Tag lang ununterbrochen gequält und gepeinigt zu werden.
Es war schwer, das Bett zur Zufriedenheit des "Führers vom Dienst" herzurichten, und unmöglich, wenn der "Führer vom Dienst" Böhm hieß. Die Strohsäcke lagen hier, von allen Seiten sichtbar, auf dem eisernen Bettgestell. Sie sollten geometrisch exakte Quader darstellen, mit waagerechter Oberfläche, senkrechten Längsseiten und rechtwinkligen Kanten. Also wurden Bretter oder Kartonstreifen unter dem Laken verborgen. Man hatte gelernt, trotz eines zerlegenen Strohsacks mit Hilfe von Latten und Hölzern das Laken so zu spannen, dass alles ganz ideal aussah. Aber bei Böhm nützte das nichts. Böhm betrachtete die Betten nicht, er befühlte sie.
Holt kämpfte den üblichen Kampf, er fühlte sich heute schlecht in Form, das machte ihn mutlos. Er drückte und knetete und stapelte die zusammengefalteten Decken millimetergenau übereinander. Währenddessen goss er einen Becher des lauwarmen Kaffees hinunter und kaute lustlos einen mit Kunsthonig bestrichenen Brotkanten. Noch zehn Minuten! Wenskat, ein Schlächtergeselle aus dem Westerwald, fegte geschäftig. Wenn das Bett jetzt keine Gnade fand, dann war es Gottes Wunsch und Wille oder des Schicksals oder vielleicht eben auch nur Böhms, aber das blieb sich gleich. Holt zog die Drillichjacke über. Koppel, Mütze, Fingernägel, Schuhputz, Halsbinde - alles in Ordnung! Er fuhr noch einmal mit der Bürste über die Knobelbecher. Dann verschloss er vorsichtig den Spind. Hier riskierte man nicht nur, wegen "Verleitung zum Kameradendiebstahl" bestraft zu werden, hier riskierte man, dass tatsächlich der Tabak verschwand, und dann war es das Beste, zu schweigen, denn hier war nicht der Dieb, sondern der Bestohlene schuld.
Fertig! Holt schaute auf Schulze, Schulze schaute auf Wolzow, Wolzow schaute auf die Armbanduhr. Schulzes Strohsack sah erbärmlich aus! Kunststück, sein Bett war ein Obervormannsbett! "Fertigmachen zum Raustreten!" Jemand hastete zur Tür herein und schimpfte: "Nicht mal in Ruhe kacken kann man hier!"
Durch das geöffnete Fenster schrillte die Trillerpfeife. Es war nun hell. Im Osten hinter den Bergen flammte der Himmel. Aus allen Baracken liefen die Mannschaften zum Appellplatz. Das Antreten klappte nicht schlechter als sonst, doch Böhm schrie: "Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach hinten weg... marsch, marsch!" Hundertachtzig Mann trabten über den Platz, dass die Schlacke stiebte. "Hinlegen!" Auf und Nieder, zehn-, zwölfmal, bis endlich die Pfeife schrillte. "Achtung!... Euch Schweine werd ich munter machen!" brüllte Böhm. "Nach hinten weg... marsch, marsch!" Erst als Oberfeldmeister Lesser, der Abteilungsführer, aus der Verwaltungsbaracke trat, gab Böhm sich zufrieden.
Das übliche Zeremoniell: Meldung, Flaggenhissung, Ausgabe der Parole... Hinweise fürs Scharfschießen? Wolzow wird schon aufpassen! "Abteilung... rechts um! Im Gleichschritt... marsch!" Die Kolonne zog um den Appellplatz, das gehörte nun schon zum Ordnungsdienst. - "Ein Lied!" Vorn stimmten sie an: "Ich habe Lust..." Holt murmelte: "Ich habe Lust...", hinten schrie es: "Lied durch!" Das war Lessers Leib- und Magenlied. "Drei... vier!" Das Marschieren war tatsächlich leichter und weniger stumpfsinnig, wenn man sang. Holt dachte: Das geht jetzt anderthalb Stunden so, dann kommt die Schleiferei in den Trupps! - "Ich habe Lust im weiten Feld..." Holt schrie: "Zu streitää-än mit dem Feind!" Schlafen müsste man, dachte er, statt hier im Kreis herumzumarschieren! Schulzes gequetschte Stimme, ohne Rücksicht auf die Melodie, klang an seiner Seite: "... wohl als ein tapfrer Kriegesheld. - ." Als Hilfsausbilder hat man gar kein schlechtes Leben, überlegte Holt, während er sang: "... der´s treu und ree-eeed-lich meint!"
"Lied aus!" brüllte Böhm. "Nennt ihr das vielleicht singen, ihr kastrierten Ratten? Wartet, ich werd euch die Stimmritzen öffnen! Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach links weg... marsch, marsch! Hinlegen! Auf!" So ging das fünf Minuten. Dann wieder: "Drei... vier! Ich habe Lust..." Holt war noch außer Atem, aber er brüllte, was die Lungen hergaben. Plötzlich dachte er: Böhm ist weg, vielleicht reißt er jetzt mein Bett ein! "Wohlan, die Fahne weht", sang er, und: "Es helfe mir der Herre Gott zum Sieg..."
Holts Bett war nicht eingerissen. Er setzte den Stahlhelm auf ‚ und nahm den Karabiner aus dem Ständer. Die Trupps suchten sich in der Gärtnerei einen Platz, in einem Grabenstück oder hinter dem Mauerrest eines zerstörten Treibhauses. Nun war "kriegsmäßiges Verhalten" vorgeschrieben. Schulze nahte mit einer Übungspanzerfaust. Man hörte Wunderdinge von dieser Waffe. "Leistet enorm viel", sagte Wolzow, "wenn du gut triffst." Holt und Wolzow standen rauchend abseits, das Rauchen war vor dem Mittagessen verboten, aber Schulze achtete heute nicht darauf. Er hatte mit sich selbst zu tun. "Der T 34/85", erzählte Wolzow, "wie er seit vorigem Jahr im Einsatz ist, hat eine Frontpanzerung von fünfundsiebzig Millimetern, das haut die Panzerfaust durch, wenn sie günstig trifft," Schulze befahl: "Antreten! Gewehre zusammensetzen!" Sie standen im Halbkreis um ihn herum. "Die Panzerfaust!" begann er. "Die Panzerfaust ist ein Panzerbekämpfungsmittel. Ein Panzerbekämpfungsmittel für den Infanteristen, und heißt Panzerfaust. Fahrn Sie fort, Wolzow!" Wolzow sprach konzentriert, in leicht dozierendem Ton. Schulze schrie zwischendurch: "Wiederholen Sie, Wenskat!" Wenskat war nicht dumm, aber träge, er machte: "Ha?" und wurde eine Weile über die Aschenbahn gejagt. Wolzow erklärte das Prinzip der Hohlladung; die Panzerfaust sei eine Hohlladung, die auf den Panzer geschossen werde und im Aufprall detoniere. Ob Schulze nicht länger die Rolle des Zuschauers spielen oder ob er sich die heimliche Angst abreagieren wollte, die er vor diesem Thema gehabt hatte, blieb unerfindlich. "Fallen Sie um", schrie er plötzlich den Arbeitsmann Kranz an, "fünfzig Sachen pumpen!" Ringsum schaute man interessiert zu, wie Kranz sich abmühte und langsam ermattete.
Unterfeldmeister Böhm trat um die Mauerecke. "Weitermachen!" Er war mittelgroß, etwa dreißig Jahre alt, und seine wässrigen blauen Augen drückten stets Misstrauen aus. Im Zivilberuf war er Inhaber einer Stehbierhalle in einer rheinischen Industriestadt. Auch heute sah er misstrauisch von einem zum andern und ließ wiederholen. Es ging nicht ohne Gebrüll ab. "Holt, was erlauben Sie sich zu grinsen?" - "Herr Unterfeldmeister, mein Gesicht hat gezuckt!" - "Der Bauch", schrie Böhm, "der vollgefressene Wanst soll Ihnen zucken, so werden Sie jetzt robben! Nieder! Bis zum Wassergraben!" Holt ließ sich Zeit. Stärkt die Muskeln, dachte er verbissen. Als er zurückkehrte, war Böhm schon bei der nächsten Gruppe. Schulze erklärte mit mageren Worten die Bedienung der Panzerfaust. Wolzow führte das praktisch vor. "Werner, Sepp, Christian, aufpassen! Die Panzerfaust ist wichtiger als alles andere!" Der Unterricht endete mit der üblichen Einpaukerei. Vier Handgriffe, zehnmal wiederholt und zehnmal geübt. Erstens Sicherungsdraht lösen, zweitens Visier hochklappen... Visier hochklappen, zum Kotzen stur ist das, dachte Holt. Drittens Sicherungsschieber in Stellung "entsichert" schieben... Das hängt mir ellenweit zum Hals heraus! Viertens Feuertaste drücken, erstens, zweitens, drittens, viertens, Draht, Visier, Sicherungsschieber, Feuertaste, das vergess ich mein Lebtag nicht mehr, und wenn ich hundert Jahre alt werde! Anschlagsarten, hinten mindestens zehn Meter frei wegen des Feuerstrahls, Rückstoß gibt´s keinen, und immer wieder erstens bis viertens, Draht bis Feuertaste, Anschlagsarten, los, zeigen Sie noch mal, jetzt Sie, jetzt Sie hier, Sie Untier, jetzt Sie noch mal, wehe, das klappt nächstens nicht, wehe! Ob man freilich trifft, dachte Holt, bleibt vorläufig unklar. Ob ich die Nerven hab, so ein Ding auf fünfzig Meter gegen einen Panzer abzuschießen?
"Keine Sorge!" erklärte Wolzow, als es endlich vorüber war. "Wenn ein Sherman seine dreiunddreißig Tonnen gegen dich loswälzt, dann drückst du von allein ab!" - "In die Hosen!" rief Wenskat.
Unterricht in der Kantine. "Der Knochenschuster!" sagte jemand. "Achtung!" Irgendwer meldete irgendwem. "Heutiges Thema für den Abteilungsunterricht: Verhütung von Geschlechtskrankheiten römisch zwei. - Hinsetzen." Ein blutjunger Feldunterarzt trat vor die Abteilung und setzte sich nachlässig auf die Tischkante. Er begann in leichtem Plauderton. Seine Laszivität war eher zynisch als derb. Er liebte es, die übelsten Dinge im Diminuitiv zu nennen und versah sie mit niedlichen Beiwörtern, etwa so: "Was wir Ärzte den syphilitischen Primäraffekt nennen, das ist ein ganz reizendes Geschwürchen..." Wenn er jemanden zur Beantwortung einer Frage aufforderte, pflegte er ihn mit einer unverständlichen Krankheitsbezeichnung zu kennzeichnen: "Sie, ja, der Struma mit den Basedow-Augen!"
"Wir hatten übrigens gesehen", sagte der Feldunterarzt, "dass man sich die böse Syphilis notfalls auch auf dem Klo holen kann. Wie ist denn das nun mit dem Tripper? Kann man sich denn auch das Tripperchen auf dem Abort anlachen? Sie... ja, Sie dort, den Spund mit der blühenden lmpetigo contagiosa staphylogenes mein ich, stehn Sie auf, Sie wandelnder Grind, antworten Sie!" Vorn erhob sich ein Arbeitsmann mit schorfbedecktem Gesicht und stammelte: "Nein, aber doch nicht, das geht nicht." - "Das ist ein verhängnisvoller Irrtum", sagte der Feldunterarzt. "Warum haben Sie sich übrigens nicht krankgemeldet? Sie verseuchen ja das ganze Protektorat! Setzen. Natürlich kann man den Tripper auch auf dem Klo bekommen, allerdings nur, wenn man dort mit seinem Mädchen die einschlägigen Dummheiten treibt." Und In dieser Tonart ging es weiter...
Morgen Revierreinigen, Zeugputz und so weiter, dachte Holt, da ist ein Spindappell fällig, und ich muss die Parabellum verstecken. Bloß früh nicht auffallen, sonst muss ich nachmittags die Latrine scheuern! Wäsche tauschen, vielleicht rückt der Kammerchef neue Fußlappen raus...
Die Stunde ging zum Glück rasch vorbei. Händewaschen, Anzug säubern, Essbesteck, Haare kämmen, Fingernägel, womöglich steht Böhm am Eingang und lässt sich die Hände zeigen... "Raustreten zum Mittagessen!" Tatsächlich, Böhm stand an der Tür: "Zeigt eure Krallen her!" Holt durfte passieren, hinter ihm ging das Gebrüll los; "Ist denn so was möglich, o Gott, diese Toppsau! Scheren Sie sich zur Hölle!"
Zwei Trupps aßen zusammen an einem langen Holztisch, dreißig Mann, eng aneinandergedrückt. Der Stubendienst schleppte Waschschüsseln voll Pellkartoffeln heran, einen Eimer graubrauner Soße, in der undefinierbare Fleischfetzen schwammen. "Achtung!" Der Abteilungsführer, Oberfeldmeister Lesser, gefolgt von Feldmeister Böttcher, stapfte zwischen den Stuhlreihen hindurch zu seinem Tisch, wo er gemeinsam mit den Zugführern aß. "Tischspruch!" Aus einer Ecke brüllte jemand auf sächsisch: "Kartoffeln mit Soße und Zwiebeln dazu, das läuft durch die Hose bis in die Schuh!" Der Oberfeldmeister lachte, dann rief er; "Alle Mann ..." - "...ran!" brüllte die Abteilung.
Holt fand das Essen miserabel, aber er hatte Hunger und aß große Mengen Kartoffeln.
Es war üblich, beim Essen ekelerregende Dinge zu erzählen, und es galt als Zeichen soldatischer Tugend, dessen ungeachtet weiter zuessen.
Böhm trat in die Kantine, einen dicken Packen Briefe unter dem Arm. Heute muss für mich was dabei sein, dachte Holt. Er hatte bisher vier Briefe von Gundel erhalten. Böhm verteilte die Post an die Truppführer. Holt schielte auf Schulze. Der setzte sich wieder und legte die Briefe mitten in die Kartoffelschalen und Soßenflecken hinein. Auf der Stube teilte er aus.
Holt sah auf die Uhr; gleich eins. Er zog einen Schemel ans Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Er riss ungeduldig den Umschlag auf. Als er letzthin an Gundel schrieb, hatte er sich gehenlassen. Es gab Tage, da ihn Schikane, Gebrüll und Drill zur Verzweiflung trieben. In einer solchen Stimmung hatte er sich Gundel anvertraut. Zu Mutlosigkeit und Bedrückung hatten sich trübe Erinnerungen gesellt, und das Ergebnis waren konfuse und abstrakte Worte gewesen, die ihn am anderen Morgen reuten.
Nun überflog er ihre Zeilen; ganz am Ende stand: "Ich kann verstehen, dass du manchmal traurig bist."
Ihre Handschrift war kindlich und wenig ausgeschrieben. In den ersten beiden Briefen war ihr sprachlicher Ausdruck ungeschickt und holpernd gewesen, aber nun schrieb sie so unbefangen, wie sie gesprochen hatte. "Lieber Werner, stell Dir vor, was ich gestern erlebt habe! Beim Einkaufen hat mich eine Dame angesprochen." Erst hatte es "Frau" geheißen, aber das Wort war durchgestrichen. "Sie hat ihren Namen genannt: Gomulka." Seltsam! Holt las gespannt weiter: "Dann hat sie gefragt, ob ich nicht einen Augenblick Zeit habe. Auf der Straße sagte sie, Du bist ein guter Freund von Sepp. So heißt ihr Sohn. In der Badeanstalt hattest du mir erzählt, dass Deine Freunde Gilbert und Sepp heißen. Da habe ich ihr geglaubt. Du sollst Frau Gomulkas Mann erzählt haben, dass Du bei uns gewesen bist und dass es Dir gar nicht gefallen hat. Auch die Leute nicht. Wenn Du das erzählt hast, musst Du Herrn Gomulka ja sehr gut kennen. Dann hat sie gefragt, was ich in meiner Freizeit mache. Und ob ich sie nicht einmal besuchen will? Sie war sehr nett. Ich weiß gar nicht, warum. Sie hat gesagt, leider hat sie keine Tochter, so ein junges Mädchen wäre ihr schon recht, manchmal am Abend, und auch sonntags. Als Besuch. Wenn ich nicht will, erzählt sie auch keinem davon, und ich kann vom Hügelweg durch die Gärten kommen, dass es keiner sieht. Ich habe gesagt, dass ich es mir überlegen muss, aber vielleicht komme ich doch einmal, wenn es ihr wirklich recht ist. Lieber Werner, Du musst mir schreiben, ob ich hingehen soll und was es für Leute sind. Du weißt ja, warum ich mit vielen nichts zu tun haben will."
Was haben Gomulkas für Gründe, Gundel einzuladen? Menschenfreundlichkeit? Holt erinnerte sich:... das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben... Sie habe viel Arbeit, schrieb sie, aber sie sei das Anpacken ja gewöhnt. Die Kinder machten doch Freude, obwohl sie frech zu ihr seien, denn sie habe Kinder gern, auch freche. Die Bitte um eine Photographie könne sie ihm nicht erfüllen, denn sie habe keine. Dann jener Nachsatz und am Ende der Wunsch: "Schreib mir bald wieder, wenn es Dir nicht zuviel Mühe macht."
"Fertigmachen zum Raustreten!" Holt sagte zu Gomulka: "Lies mal, Sepp?" Er hatte Gomulka Gundels Schicksal erzählt. Gomulka nahm den Brief. "Warum lädt deine Mutter sie ein?" fragte Holt. "Was weiß ich?" entgegnete Gomulka.
Das Antreten zog sich in die Länge. Der Abmarsch zum Scharfschießen verzögerte sich. Oberfeldmeister Lesser ließ auf sich warten. Ein Kradmelder war ins Lager gerollt, nun hieß es, der Chef telefoniere. Die Abteilung stand Gewehr bei Fuß, Gerüchte machten die Runde, Feldmeister Böttcher und die Zugführer wurden vom Appellplatz weg zur Schreibstube gerufen. Auf einmal war es kein Gerücht mehr: Einsatz!
Die nächsten Stunden ging im Lager alles drunter und drüber. Schulze schrie: "Wolzow, Wenskat, Holt, Gomulka, Huber... mitkommen!" Sie holten drei Kisten Patronen. Während in der Stube scharfe Munition verteilt wurde, meckerte Vetter: "Zweihundert Schuss pro Mann, wer soll denn das schleppen?" Aber Wolzow wies ihn zurecht.
Am frühen Abend stand die Abteilung marschfertig. Holt stützte sich auf den Karabiner. Der Tornister drückte. Am Koppel lasteten die gefüllte Patronentasche, Seitengewehr, Infanteriespaten, Gasmaske, Brotbeutel und Feldflasche. Die Armbinden mit dem Hakenkreuz waren befehlsgemäß von den Uniformen abgetrennt worden. Oberfeldmeister Lesser trat vor die Front. "In der verbündeten Slowakei", schrie er, "wollen de Feinde des Reiches, unterstützt von bolschewistischen Fallschirmspringern, der schwer ringenden Front in den Rücken fallen! In einem Aufruf hat der slowakische Staatspräsident erklärt, dass der Abschaum der Gesellschaft aufgeboten worden ist, um in der Slowakei ein Chaos zu entfesseln und den Boden reif für den Bolschewismus zu machen! Da die slowakischen Kräfte zu schwach sind, hat Staatspräsident Tiso den großen deutschen Verbündeten um Truppen zur Niederwerfung der Bolschewistenhorden gebeten." Er stand breitbeinig vor der Front, die Brauen zusammengezogen. "Wir übernehmen Wachdienste und unterstützen die Kampftruppen bei Verlade- und Entladearbeiten, gegebenenfalls natürlich auch im Kampf. Jetzt könnt ihr zeigen, was ihr gelernt habt." Der dicke Feldmeister Böttcher übernahm das Kommando und ließ die drei Züge abrücken. Auf dem Bahnhof standen Viehwaggons bereit.
Maschine dampfte langsam aus der Station, dann stand der Zug viele Stunden in der Nacht. Holt schlief, in eine Decke gewickelt, auf dem harten Boden. Am nächsten Tag hielt der Zug abermals viele Stunden auf freier Strecke. Ein Gerücht lief von Wagen zu Wagen: "Der Lokführer ist getürmt!" Gomulka lachte unterdrückt. Am Nachmittag ging es endlich weiter. In der folgenden Nacht blieb der Zug mit einem Ruck stehen, so dass die Arbeitsmänner durcheinander rollten. Draußen war Geschrei, schon krachten ein paar Schüsse. "Raus!" schrie Wolzow. Holt sprang mit dem Karabiner in die Nacht. Vorn blitzten Schüsse. Wolzow schoss stehend ins Dunkel. Bei der Maschine brüllte jemand wie besessen: "Stopfen! Stoooooopfen!" Das Licht einer Taschenlampe huschte über die Gleise. Wolzow lief nach vorn, wo nun ein rotes Signallicht leuchtete. Oberfeldmeister Lesser brüllte: Ihr wahnsinnigen Säcke! Ihr verdammten Idioten!"
Die Arbeitsmänner standen auf dem Bahnkörper neben dem Zug. Wolzow berichtete: "Eine Brücke. Natürlich bewacht. Da zeigen die Posten ein Langsamfahrt Signal, der Lokführer hält, die Posten im ersten Wagen knallen gleich wild drauflos. Da haben die Brückenposten natürlich zurückgeschossen, die wussten auch nicht mehr, was gespielt wird." Die Maschine zog ruckend an, alles kletterte durch die Schiebetüren in die Wagen. Holt sah auf der Brücke ein paar Gestalten stehen, Gewehre umgehängt. "Ist was passiert?" - "Komischerweise nicht", sagte Wolzow, "aber das ist ein mieses Zeichen, dass keiner getroffen hat!" Am nächsten Tag erreichten sie endlich das Ziel. Der Zug lief in einen Güterbahnhof ein. Gleisanlagen, Schuppen und Stellwerke dehnten sich weitflächig bis zum Wald. Ein paar Kilometer weiter überspannte eine Eisenbahnbrücke das tiefeingeschnittene Tal eines schmalen, reißenden Flusses. "Das ist der Gran", erklärte Wolzow nach einem Blick auf die Karte. Die Stadt lag eine halbe Wegstunde vom Güterbahnhof entfernt zwischen dichten Laubwäldern, eine kleine, verschlafene Stadt mit wenigen Straßen. Sie marschierten durch die engen Gassen. Obwohl es Mittag war, sah man kaum einen Menschen. Sie sangen: "...her zu uns, dass wir die Saat beginnen, ein Hunger ist in die Augen gesetzt, neue Lande, neue Lande wollen wir uns gewinnen." Sie marschierten durch die Stadt hindurch und hinaus aus dem verwinkelten Straßengewirr auf einen großen freien Platz. Dort befahl Böttcher Halt. Ein größeres freistehendes Gebäude kehrte die Front mit dem Eingang dem Platz und der Straßenmündung zu, ein zweigeschossiges Schulhaus, von einem weitflächigen, dicht bepflanzten Garten umgeben, der mit niedrigen Lattenzäunen zu beiden Seiten des Gebäudes an den Platz grenzte. Die Giebelwände waren kahl und fensterlos. Die Fenster an der Frontseite waren im Erdgeschoß eng vergittert, desgleichen die Kellerfenster.
"Scheißquartier!" sagte Wolzow, während er das Gewehr absetzte. "Schlecht zu bewachen!" Böttcher hatte mit den Zugführern das Schulhaus besichtigt und gab Befehle. "Erster Zug Wachdienst. Zweiter Zug räumt die Schule aus. Dritter Zug holt Stroh ran. Los, auf dem Hof Gepäck ablegen, Waffen werden ständig mitgeführt. Gewehre umhängen. Links um. Zugweise Reihe rechts, ohne Tritt marsch. Mitkommen."
Holt trat durch den Eingang, die, wenigen Stufen hoch, dann wichen die Mauern zu beiden Seiten weit zurück und umschlossen eine geräumige Eingangshalle. Dort zweigten links und rechts die Korridore mit den Klassenzimmern ab. Geradeaus, dem Eingang unmittelbar gegenüber, führte eine breite Holztreppe ins Obergeschoß. Rechts daneben ging es wieder ein paar Stufen hinab und dann an der Kellertür vorbei durch die Hoftür ins Freie. Von der Eingangshalle sah man links, vor dem Korridor, durch eine Tür in einen kleinen Raum. Dort stand der Hausmeister, ein dunkelhaariger Mann von fünfzig Jahren. Böhm schnauzte ihn an "Schlüssel her, los! Sie scheren sich weg hier! Weg, Mann!" brüllte er. Der Hausmeister verstand offensichtlich kein Deutsch. Nun verließ er durch die Hoftür das Schulhaus.
Holt arbeitete bis zum Abend. Er half, Schulbänke und Katheder auf den Hof zu räumen. Der dritte Zug brachte Wagenladungen voll Stroh heran. Sie schleppten die Ballen in alle Klassenzimmer.
Am anderen Tag hatte der zweite Zug Wachdienst. Böhm teilte ein. Der erste Trupp mit Obervormann Schulze übernahm die Quartierwache, der zweite Trupp mit Obervormann Rößler die Stadtstreifen, der dritte mit Obervormann Berger die Wache am Bahnhof, der vierte mit Obervormann Lachmann die Wache an der Eisenbahnbrücke: Böhm erklärte: "Die Brückenwache schießt von zwanzig bis sechs Uhr ohne Anruf, in dieser Zeit hat die Bevölkerung Ausgehsperre. Die Quartier- und die Bahnhofswache schießt nach einmaligem Anruf. Die Stadtstreifen nehmen alle Zivilisten fest, die nach einundzwanzig Uhr auf der Straße angetroffen werden. In der Polizeistelle, wo das Wachlokal ist, sind feste Zimmer. Die Polizei geht nachts keine Streifen. Am Tage werden ständig Ausweise kontrolliert, eine Liste der gültigen Papiere hängt im Wachlokal. Sind noch Fragen?" Niemand meldete sich. Böhm fuhr fort: "Die Slowakei ist mit uns verbündet, aber die Bevölkerung ist aufsässig und deutschfeindlich. Die örtlichen Polizeiorgane genießen kein Vertrauen, wenn irgendwas passiert, werden sie festgenommen und entwaffnet. Bei allen Verhaftungen rücksichtslos zupacken! Widerstand mit allen Mitteln brechen! Es ist besser, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, als verdächtige Elemente laufen zu lassen." Er las aus seinem Notizbuch ab: "Jedoch ist nach Möglichkeit darauf zu achten, dass mit dem Reich sympathisierende Bevölkerungsteile korrekt behandelt werden." Er befahl: "Gewehre umhängen!" Dann legte er die Hände an die Hosennaht: "Zweiter Zug... stillstann! Parole 'Morgenlicht'." Er hob den Arm zum Gruß. "Vergatterung!" Die Trupps zogen sofort zur Ablösung.
Schulze und seine Leute nisteten sich im Erdgeschoß ein, links, in dem Zimmer des Hausmeisters, das als Wachlokal benutzt wurde. Dort waren ein paar Munitionskisten aufgestapelt; auf einem Tisch lag das Wachbuch. Holt hatte gemeinsam mit Gomulka von Mitternacht bis zwei Uhr morgens Posten zu stehen. Die anderen beiden Züge waren am Vormittag zu den wenigen umliegenden Dörfern marschiert, wo sie Heu und Stroh zu beschlagnahmen und zum Bahnhof zu bringen hatten. So war der Trupp Schulze allein im Schulhaus.
Am Mittag saß Holt mit Wolzow im Wachlokal. Wolzow hatte deutsche Zeitungen aufgetrieben, sie waren nicht mehr ganz neu. Er rauchte und las. Holt fragte: "Wie sieht es an den Fronten aus?" Wolzow ließ das Blatt sinken. "Dass Finnland kapituliert hat, das weißt du? Bulgarien hat nun auch die Beziehungen zum Reich abgebrochen. Und an der Invasionsfront muss es eine üble Geschichte gegeben haben, die Front scheint in Auflösung zu sein. Nur an der Riviera gibt es noch feste Linien. Lyon ist gefallen, die Mosel erreicht." Er fragte mürrisch: "Genügt das? Im Osten hat die Entwicklung einen reißenden Verlauf angenommen. Im Mittelabschnitt stehn sie vor Warschau ..." - "Warschau?" rief Holt erschrocken. - "Ja. Der Aufstand ist immer noch nicht niedergeschlagen. Im Nordabschnitt greifen die Russen an, bei Narwa sind sie durch die Front gebrochen. Nun rollt auch in der Ukraine eine Offensive, die Russen können bald in den Karpaten sein, sozusagen Wand an Wand mit uns hier. Das siebenbürgische Kronstadt ist schon gefallen. Der Stoß zielt offenbar nach Ungarn hinein... Noch was? Ja, richtig, die V 2! Die Briten scheinen sie nicht schlechter zu verdauen als die V 1."
Holt fragte, wie er schon oft gefragt hatte: "Wie soll denn das um Gottes willen weitergehen?" - "Na, halt irgendwie", sagte Wolzow. "So´n Krieg ist zum Glück recht zählebig, und jetzt wird ja auch allerhand getan, ihn wieder ordentlich hochzupäppeln! Goebbels hat ganz radikale Maßnahmen zum totalen Kriegseinsatz erlassen, Schulen werden geschlossen, fast das ganze Schrifttum wird stillgelegt, das preußische Finanzministerium ist aufgelöst, und so weiter. Hier, im 'Völkischen Beobachter', der ist allerdings schon bisschen älter, da ist eine Rede abgedruckt, die der Staatssekretär Dr. Naumann zum Eintritt ins sechste Kriegsjahr gehalten hat, in Danzig. Es heißt hier, Doktor Naumann gab..." - "Lass mich lesen!" sagte Holt. Wolzow reichte ihm die Zeitung. Holt überflog den Vorspann: "...gab ein ungeschminktes, durch keinerlei Winkelzüge beschönigtes Bild der Lage... getragen von der Gläubigkeit des Nationalsozialisten... seinen Zuhörern gleichzeitig die deutschen Siegeschancen überzeugend zu begründen vermochte... klang die Kundgebung in einem einzigen großen Bekenntnis zum Führer und seiner Idee aus..." Wo steht denn die Begründung unserer Siegeschancen? Das muss ich unbedingt lesen! Er überflog den Wortlaut: "...totaler Erfolg daher nur durch einen totalen Einsatz möglich... Wellenberge und Wellentäler... Tage des Eintritts in das sechste Kriegsjahr fallen in ein solches Wellental... unseren Feinden einige Tatsachen zur Kenntnis gebracht, in denen die Überwindung aller Krisen bereits vorgezeichnet... Erstens: der Führer ist nicht vom deutschen Volk zu trennen, und das deutsche Volk steht bedingungslos zu ihm... zweitens: das deutsche Volk ist nationalsozialistisch, nicht allein in glücklichen, sondern erst recht in schweren Tagen... drittens: es gibt kein Versagen der deutschen Heimat, in der Gewißheit des Sieges." Ja aber die Begründung der Siegeschancen, wo ist sie denn? Holt las hastig weiter: "... kämpfen wir um die Zeit, die wir zur Mobilisierung unserer Reserven noch benötigen..." Aha! Wolzow fragte: "Spielst du einen Offizier,sskat mit?" Holt schüttelte den Kopf. Er las. "Unsere Gegner täuschen sich", las er, "wenn sie sich am Vorabend des Sieges wähnen... neue Divisionen rücken an die Front... Festung Deutschland wird verteidigt werden, wie nie zuvor eine Festung verteidigt wurde, dann aber wird unsere Stunde kommen..." Dann, dachte Holt, dann... wann? "... steht das deutsche Volk... gehärtet und im Schmelztiegel seines Kampfes gestählt wie nie zuvor... wilden und fanatischen Entschlossenheit durchdrungen, sein Land, sein Leben und seine Weltanschauung bis zum letzten Blutstropfen zu behaupten... Weltanschauung... kämpft für sie, in schlechten Tagen mit größerer Entschlossenheit als in den guten und glücklichen Stunden..." Aus. Ende.
"Da hast du den Völkischen", sagte Holt, "mir reicht es jetzt wieder mal, Gilbert, mir reicht es wirklich! Wer ist dieser Naumann?" - "Ein SS-General, SS-Brigadeführer, er wird ein 'an der Front gehärteter politischer Soldat genannt'... Also, wenn du nicht mitspielst, dann leg ich mir eine Patience!"
Gomulka trat ins Wachlokal. "Werner, wir müssen gleich ablösen!" Holt setzte den Helm auf und nahm den Karabiner. Sie warteten am Hintereingang. Der große, quadratische Hof war an drei Seiten vom Garten umgeben, und der buschreiche, mit Obstbäumen und Ziersträuchern bepflanzte Garten grenzte an den nahen Wald. In der Mitte des Hofes stand eine Pumpe, rechts am Zaun ein Schuppen, und daneben führte eine Pforte in den Garten. Hinter der Pumpe, dem Hofeingang gegenüber, wohnte der Hausmeister in einem kleinen Gartenhaus aus roten Backsteinen.
Bei der Pumpe lümmelten ein paar wachfreie Arbeitsmänner, Wenskat, Baruffke, Zöllner und Meermann, auch Vetter war dabei, alle halbnackt, sie hatten sich dort gewaschen. Holt sagte: "Sieht vorläufig aus wie´s große Los, der Einsatz, neben dem Lagerbetrieb eine Erholung!" Gomulka antwortete nicht. Holt sah aus dem Gartenhäuschen ein junges Mädchen treten und über den Hof zum Schuppen gehen. Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt und hatte sehr helles und langes Haar. "Schau dir an, was die Slowaken für hübsche Mädchen haben!" sagte er. Aber Gomulka schwieg hartnäckig.
Beim Brunnen pfiff Wenskat schrill auf zwei Fingern, jemand rief langgezogen: "Heeeee! Puppchen!" - "Die solln sich was schämen", sagte Holt, "was soll die denn von uns denken!" Er ging über den Hof... Gomulka folgte ihm. "Haste gesehn, Holt?" fragte jemand. "Das wär meine Hutnummer, wie?" Holt sagte: "Benehmt euch!" - "Quatsch doch nicht, Mensch", sagte Wenskat, "hier so´n Zimt machen wegen der Slowakischen!"
Das Mädchen brachte zwei Zinkeimer aus dem Schuppen und näherte sich zögernd der Pumpe. "Die will Wasser holen!" krähte Vetter. Holt sah, als sie herankam, dass sie große blaue Augen hatte. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie erinnerte ihn in allem, in Gang und Haltung und in der Art, wie sie den Kopf trug, an Uta. Wenn die Kerle unverschämt werden, dachte er, dann... Aber er dachte zugleich: Vorsicht, dass ich nicht wieder in irgendwas hineintreib...
Das Mädchen stellte einen Eimer unter das Wasserrohr. Wenskat rief: "Na, Kleine, willst dir von uns bissel pumpen lassen?" Das Mädchen verstand wohl kein Deutsch und nahm das rohe Gelächter unbewegt hin. Sie wollte den Pumpenschwengel fassen, aber Wenskat streckte rasch ein Bein aus und schrie: "Nix daitsch, wos? Verstehste nicht? Was wir wollen ist international!" Sie versteht wirklich kein Deutsch, dachte Holt, und er fuhr Wenskat an: "Nimm die Knochen weg... los!" Wenskat sagte verständnislos: "Was willste? Bist wohl..." Holt sagte drohend: "Du nimmst sofort das Bein weg, oder es setzt was!" - "Der Kerl spinnt lauwarm", sagte Wenskat, aber er zog doch den Fuß zu sich heran. Das Mädchen trat an den Brunnen, füllte die beiden Eimer und trug sie zum Gartenhaus. Die Arbeitsmänner sahen ihr nach. Wenskat sagte böse: "Wie meinst´n das, dass du wegen der mit mir Streit anfängst, ha?" An der Hoftür brüllte Schulze: "Holt, Gomulka! Posten ablösen!"
Missmutig standen sie zwei Stunden auf dem Gehsteig vor dem Eingang. Die Stadt lag wie ausgestorben. Am späten Abend rückten die beiden Züge ins Quartier und füllten den Schulhof mit Lärm. Als es Mitternacht war, ging Holt mit Gomulka die Streife um Schule und Garten. Gomulka begann unvermittelt: "Das ist die Tochter vom Hausmeister, Milena heißt sie. Der Schulze hat ein Auge auf sie." - "Schulze?" rief Holt. "Dieser Pavian?" - "Als er von ihr erzählt hat, da hab ich zum erstenmal in seinem Gesicht etwas wie einen Ausdruck ge-sehn. Übrigens keinen guten." Was reg ich mich auf? dachte Holt. Sie geht mich nichts an! Aber... sie soll wissen, dass hier nicht alle dumm und rüpelhaft sind. Gomulka sprach weiter: "Warum hast du sie an der Pumpe in Schutz genommen?" - "Ich sag dir was!" rief Holt wütend. "Wenn der Schulze... Also, daraus wird nichts!" - "Sieh dich vor", sagte Gomulka bedächtig. "Angriff auf einen Vorgesetzten, Kriegsgericht, aber soweit kommt es gar nicht, gegen den Schulze hast du keine Chance, der dreht dir einfach den Hals um. Der Wolzow würde mit ihm fertig, aber auf den rechnest du besser nicht. Und außerdem ..." - ‚Halt!" rief Holt und sprang erschrocken in die Deckung der Mauer. Er hob den Karabiner. Aus dem Dunkel rief es die Losung. Es war Böhm. "Halten Sie das Maul! Brüllen Sie nicht so rum!" Holt meldete. Keine besonderen Vorkommnisse. Böhm meckerte: "Auf Posten wird nicht gequatscht! Passen Sie lieber auf!" Er trug eine Maschinenpistole um den Hals und tauchte wieder im Dunkel unter. Sie setzten den Rundgang fort. Holt meinte nach einer Weile mit gedämpfter Stimme:... und außerdem?"
Gomulka blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um; er durchforschte mit seinen Blicken die Nacht. "Seit hier die Aufstandsbewegung ist", flüsterte er, "soll hier, wie im ganzen Osten, nicht nur der Kommissarbefehl gelten, sondern auch der Führererlass über die Behandlung von Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner ... Das heißt, wenn sich einer was gegen die Slowaken zuschulden kommen lässt, wird er nicht kriegsgerichtlich, sondern nur disziplinarisch bestraft." Kommissarbefehl, Führererlass? "Woher... weißt du das?" fragte Holt befremdet. "Der Erlass ist ja berüchtigt", antwortete Gomulka ausweichend. "Kannst ja mal Wolzow fragen, der weiß das alles! Der Erlass wird der Truppe nicht mehr bekanntgegeben, nur den Führern, denn wenn ihn die Soldaten erfahren haben, dann sind sie so verroht, dass die Disziplin gelitten hat." - "Woher weißt du das?" fragte Holt abermals. "Das ist ja gleichgültig", meinte Gomulka. "Ich sag dir´s, damit du gewarnt bist. Du kannst dich nicht mal auf die Kriegsgesetze berufen, wenn du dem Mädel gegen Schulze beistehst." Sie gingen weiter. Dieser widerwärtige Schulze, dachte Holt hassvoll, dieser bösartige Gorilla! Aber sein Hass war mit Hilflosigkeit gemischt. "Da soll ich also zusehn, wenn er sich an dem Mädchen vergreift?" Er ereiferte sich: "Das sagst du?" Gomulka zeigte zunächst keine Absicht, zu antworten. Aber dann sagte er doch: "Dass du dich so in Wut hineinsteigerst, nimm mir´s nicht übel, Werner... Das machst du doch bloß, weil es um ein Mädchen geht."
Holt war gekränkt. "So...", sagte er. "Und die Russen, in der Batterie damals, waren das auch Mädchen?" Gomulka antwortete nachdenklich: "Nein... Du hast recht. Sei nicht böse", bat er, "ich dachte nur..." Er hat recht, dachte Holt, nein, er hat doch nicht recht... Vielleicht ist es immer noch wie vor einem Jahr, als ich glaubte, mit Gilbert für... Gerechtigkeit kämpfen zu müssen, damals, als mich die Marie Krüger behext hatte, dass ich dem Meißner an den Kragen wollte... Das war kindisch. Nein, es war nicht kindisch, aber... Es hat keinen Zweck, dachte er. Was ist Gerechtigkeit? Vielleicht ist alles falsch... oder vielleicht ist Mitleid wirklich Schwäche, und Ziesche hatte doch recht, und wahre Gerechtigkeit ist Härte, wenn wir Deutschen... Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte er.
Die nächsten Tage brachten schwere Arbeit. Transportzüge mit SS-Einheiten trafen auf dem Bahnhof ein. Die Arbeitsmänner entluden Waggons: Waffen und Gerät, Kraftfahrzeuge, auch Pferde und Fuhrwerke, leichte Feldgeschütze und Minenwerfer. "Jetzt geht´s den Banden an den Kragen!" frohlockte Vetter. "Jetzt dauert das keine acht Tage mehr!" Wolzow fluchte, als sie stundenlang Munitionskisten und Granatkörbe schleppten: "Das könnten auch die Slowaken machen, das faule Volk hockt daheim in den Stuben!"
In der Mittagspause löffelte er aus dem Kochgeschirr den faden Eintopf. "Eine kriegsstarke SS-Division ist das. Ich hab gehört, es sollen Spezialverbände sein, die Division hat in den Pripjet-Sümpfen Partisanen gejagt, die haben Erfahrung in so was!" Sie stapelten weiter Munitionskisten auf die wartenden Fahrzeuge. Ein paar Kisten Gewehrmunition wurden in der Schule abgeladen.
Eine Woche war verstrichen, ohne dass der Einsatz etwas anderes als Arbeit gebracht hätte. Der September ging zur Neige, aber das Wetter blieb sommerlich warm. Nur die Nächte waren schon kalt und neblig.
Holt lag eines Tages im Schulgarten in der Sonne und schaute in den Himmel. Er hörte Schritte. Das blonde Mädchen ging den Gartenweg entlang, mit einem Laubrechen und einem großen Henkelkorb. Holt sagte vernehmlich: "Guten Tag." Sie blickte rasch zu ihm hin, dann schaute sie wieder geradeaus, aber sie erwiderte seinen Gruß, indem sie flüchtig mit dem Kopf nickte.
Na also! dachte Holt befriedigt, sie kann unterscheiden zwischen denen und meinesgleichen!
In der folgenden Nacht stand er mit Wolzow an der Eisenbahnbrücke Posten. "Horch!" sagte Wolzow. In der Ferne grollte schwerer Kanonendonner. Es war gegen drei Uhr, die schmale Mondsichel stieg über die Berge. Holt fröstelte. "Hört sich an wie eine richtige Schlacht!" Wolzow entgegnete: "Aus dem Gebirge holt die so schnell keiner raus! Berge bis zwei-tausend Meter... da schaffst du nur mit Brachialgewalt Ordnung!" Holt erwog, Wolzow zu fragen, was es mit jenem "Kommissarbefehl" auf sich habe, aber irgend etwas hielt ihn zurück, die wachsende Entfremdung, eine unerklärliche Scheu... Das Geschützfeuer blieb bis zum Morgen hörbar. Als sie am Mittag in die Stadt zurückkehrten, hielten vor der Schule ein paar verdreckte Lastwagen. Auf dem Hof lagerten etwa zweihundert SS-Leute, zwischen Gewehrpyramiden und Gepäckstücken. Wolzow setzte sich zu ihnen. Dann brachte er Neuig-keiten. "Von wegen in acht Tagen Schluss", sagte er, "das war eine Illusion! Überall geht´s los, das halbe Land ist in Aufruhr, ganz in der Nähe haben sie eine Garnison niedergemacht. Die SS ist ganz schön abgekämpft. Die Partisanen, sagen sie, sind nicht schlechter als reguläre Truppen, manchmal noch zäher, weil ihnen die SS grundsätzlich den Pardon verweigert. Die Russen schmeißen ihnen Waffen ab, die Partisanen sind mitunter besser bewaffnet als die SS, alle mit Maschinenpistolen. Bin gespannt, wann es hier bei uns losgeht." Vetter erzählte: "Der erste Zug hat heut vormittag in der Stadt Haussuchungen nach Waffen gemacht. Gefunden haben sie nichts!"
Am frühen Nachmittag rückte die SS ab. Im Haus blieben nur der Wachtrupp vom dritten Zug und Schulzes Trupp, der nach der Brückenwache dienstfrei war. Die Arbeitsmänner lagen im Stroh und schliefen. Aber Holt litt es nicht im Zimmer. Er schlenderte ziellos über den Hof und in den Schulgarten.
Dort traf er die blonde Slowakin. Sie schleppte einen großen Korb, der mit Holz gefüllt war, mit Ästen und Reisig. Holt sagte: "Lassen Sie mich das tragen!" Er nahm ihr den Korb ab und trug ihn zum Schulhof. Er fragte über die Schulter: "In den Schuppen?" - "Ja." Sie versteht also doch Deutsch, dachte er überrascht. Sie schloss die Tür auf. Er setzte den Korb in einer Ecke ab, wo viel Holz auf einem Haufen lag. Sie war ihm gefolgt und sagte freundlich: "Danke." Er richtete sich auf. Er war verwirrt, denn sie stand nahe bei ihm. Er fasste sie plötzlich an den Schultern und zog sie an sich, aber da schlug sie ihn mit solcher Heftigkeit ins Gesicht, dass er taumelte. Wut stieg in ihm auf. Er dachte eine Sekunde lang an Gewalt. In seinem Inneren sagte eine Stimme: Etwas davon ist auch in dir! Die Scham schlug wie eine Welle in ihm hoch.
Das Mädchen hatte den Hackklotz zwischen ihn und sich gebracht, hatte das Handbeil herausgerissen und stand nun lauernd, nach vorn geneigt. Mit der Rechten umklammerte sie den Schaft des Beiles, während sie langsam den linken Arm hob und zur Tür wies. Sie sagte nur ein einziges Wort: "Hinaus!" Er wollte eine Entschuldigung stammeln, eine Rechtfertigung, etwas von einem Missverständnis, aber aus ihren Augen traf ihn ein Blick so abgründigen Hasses, dass er wortlos den Schuppen verließ.
Er ging in den Garten. Er sah das Mädchen rasch über den Hof laufen, zum Gartenhaus hin, sie trug noch immer das Beil in der Hand. Aber das alles drang gar, nicht in sein Bewusstsein. Im Schulgarten stand er wie geistesabwesend zwischen den Sträuchern. Er versuchte, dieses erstickende Gefühl der Scham loszuwerden. Er dachte: Die soll sich nicht aufspielen! Schließlich bin ich ein Deutscher, und sie... Da wuchs das Schamgefühl ins Unerträgliche. Sein Gesicht brannte, wie vom Feuer versengt.
Drei Tage später hielt Trupp Schulze wieder Quartierwache. Holt saß in der Wachstube, als Schulze das Zimmer verließ und die Stufen hinab zur Hoftür ging. Ein paar Minuten später brüllte Böhm vom Kellereingang her: "Schulze... Schulze!" brüllte er noch einmal. Wenskat trat ins Wachlokal und sagte grinsend: "Der Schulze hört jetzt nischt, der ist der Kleinen in den Garten nachgeschlichen, dem hing richtig die Zunge raus!"
Das traf Holt wie ein Schlag. Aber da stand Böhm in der offenen Tür: "Pennt denn die ganze Wache? Los, Holt, Gomulka, mitkommen!" Wenskat verschwand auf dem Hof. Holt stieg die Kellertreppe hinab. Er kramte unter einem Stapel Patronenkisten einen Kasten Pistolenmunition hervor, den Böhm für seine Maschinenpistole brauchte, und trug ihn mit Gomulka ins Wachlokal. Da stürzte Wenskat ins Zimmer. Sein Gesicht war verzerrt. "Wache!... der Schulze, im Garten, Herr Unterfeldmeister... tot!"
Böhm starrte Wenskat an, sein Mund öffnete und schloss sich. Dann überschlug sich seine Stimme: "Mitkommen!" Sie rannten über den Hof in den Garten. Zwischen den Büschen lag Schulze. Der Anblick war furchtbar. Wolzow beugte sich ungerührt über den Toten. Die Stirn klaffte von einem Beilhieb. Er lag auf dem Rücken, die Beine waren im Hinstürzen seltsam nach hinten geknickt. Waffenrock und Hose waren geöffnet. In der linken, krampfhaft verschlossenen Faust hielt er ein dichtes Büschel hellblonden Haares. Wolzow richtete sich auf. "Der ist hin." Er sah sich suchend um. "Dort!" Holt sah im Gras ein Beil liegen, das Beil.
"Herr Unterfeldmeister!" schrie Wenskat. "Die Blonde vom Hausmeister! Er ist ihr nachgegangen, und als ich sehen wollte, wo er bleibt, da lag er hier!"
Böhm lief schon los. Sie folgten ihm. Aus dem Schulhaus stürzten immer mehr Leute. Böhm rüttelte an der Klinke des Gartenhäuschens. "Tür einschlagen!" Wolzow stieß mit dem Kolben des Karabiners zu, dass es donnerte, immer wieder, bis das Schloss barst. Der Korridor lag offen vor ihnen. Wenskat stürmte als erster hinein, durchmaß mit wenigen Schritten den Vorraum und riss die Tür auf.
Mitten im Zimmer stand der Hausmeister, ein Jagdgewehr im Anschlag, der Schuss krachte. Wenskat brach schreiend zusammen. Böhm riss dem Hausmeister das Gewehr aus den Händen und schlug mit dem Kolben auf ihn los, er brüllte: "Verbrecher! Bandit! Slawenvieh!" Der Hausmeister fiel, zu Boden, Böhm trat ihn mit den benagelten Stiefeln und tobte: "An die Wand... Sofort an die Wand!" Das Mädchen stand am geöffneten Fenster, einen halbgefüllten Rucksack zu Füßen.
Böhm fuhr auf das Mädchen los: "Die Hände hoch, du Aas!" Das Mädchen hob die Arme. "Vetter, Wolzow!" schrie Böhm. "Den Wenskat ins Krankenzimmer! Gomulka, Schwedt, den Banditen auf die Beine bringen, aber schnell, an die Mauer, Gesicht zur Wand! Holt, stehn Sie nicht rum, das Aas abführen, Gesicht zur Wand... Wirst du wohl die Arme oben lassen, du Hurenstück! Meermann, Runge... mitkommen!" Er lief davon. Gomulka und Schwedt hoben den Hausmeister auf, er wankte vor ihnen durch den Korridor auf den Hof. Das Mädchen folgte unaufgefordert.
Holt ging ein paar Schritte hinter ihr. Sie hielt die zitternden Hände im Nacken verschränkt, das Haar fiel über Hände und Schultern. Er trug den entsicherten Karabiner unter dem Arm. Die Linke umklammerte den Kolbenhals, der Finger lag am Abzug. Wenn sie wegläuft, dann muss ich schießen. Dann werde ich schießen. Sein Blick suchte einen Punkt zwischen den Schulterblättern. Etwas links, dachte er, dann spürt sie nichts.
Der Hausmeister lehnte den zerschlagenen Kopf gegen die Mauer des Schulhauses. Das Mädchen trat neben ihn hin. Holt stand dicht dahinter, das Gewehr in den Händen, er dachte: Gleich kommt Böhm wieder, dann muss ich schießen...
Böhm brüllte von der Haustür her: "In den Keller! Los, vielleicht bewegt ihr euch ein bisschen schneller!" Böhm öffnete unten ein stockdunkles Loch, ein massives Gelass mit eiserner Tür. "Schwedt, Sie bleiben als Posten hier, bis ich Ablösung schicke. Die andern mitkommen."
In der Wachstube stand der Trupp beisammen. Wolzow meldete: "Wenskat tot. Vier Mann auf Posten!" Böhm überflog die Gesichter, er murmelte die Namen: "Gomulka, Holt, Vetter, Zöllner, Meermann, Matzke, Runge... Schwedt im Keller... Wolzow, Sie übernehmen den Trupp! Ich hab mit dem Oberfeldmeister telefoniert. Er ist am Bahnhof. Wenn er zurück-kommt, will er die beiden verhören. Er sagt, es stinkt, es stinkt überall, und es stinkt auch hier ganz gewaltig... Der erste Zug ist zurückgerufen worden. Der dritte Zug war nicht zu erreichen. Die Wachen werden heut nacht verdoppelt. Wolzow... Schulze ins Krankenzimmer. Dann das Erdgeschoß von Stroh säubern, ist zu brenzlich, alles hoch ins Obergeschoß, bloß das Wachlokal bleibt hier. Ich muss zur Brücke. Sie melden die Wache beim Oberfeldmeister, sobald er zurückkommt. Lassen Sie sich Befehle geben."
"Erster Trupp hört auf mein Kommando", rief Wolzow. "Vetter, Posten verständigen, die werden vorläufig nicht abgelöst! Zöllner und Meermann, Schulze holen!" Vetter ging durch die Tür. Wolzow rief: "Arbeitsmann Vetter, wollen Sie nicht den Befehl wiederholen?" .- Jawohl", sagte Vetter verdattert. - "Ich bin mit Truppführer anzureden!" - "Jawohl, Truppführer!" - "Los, ab!... Ordnung muss sein", schrie Wolzow. "Wir räumen die Zimmer im Erdgeschoß aus."
Der erste Zug rückte ein. Das Haus dröhnte von Hammerschlägen. Sie nagelten von innen die herausgerissenen Türen gegen die Erdgeschoßfenster. Irgendwer befahl, auch die Flügel der Eingangs- und der Hoftür dazu zu verwenden. "Hauptsache, sie können uns keine Bomben durch die Fenster schmeißen", sagte Unterfeldmeister Rischka, der den ersten Zug befehligte. Gegen Abend kehrten Lesser und Böttcher zurück. Wolzow meldete sich bei ihnen im ersten Stock. Als er die Treppe wieder herabkam, sagte er zu Holt: "Kannst die ParabelIum tragen, er hat nichts dagegen." Am Abend war auch Böhm wieder da, und Holt sah ihn hinter dem Oberfeldmeister in den Keller steigen. Wolzow brachte die Nachricht: "Die beiden werden morgen der SS übergeben." Holt antwortete nicht.
Endlich wurde es ruhig im Haus. Der erste Zug unter Rischka übernahm mit je zwei Trupps die Bahnhofswache und den Streifendienst in der Stadt und rückte ab. Der zweite Zug wurde zur Brücken- und zur Quartierwache eingeteilt. Am späten Abend holte Böhm noch einen der beiden Trupps von der Schulwache zur Brücke. "Drei Trupps an die Brücke ..." sagte Gomulka, "und nur ein Trupp für die Schule?" - "Sie faule Sau!" schrie Böhm. "Da werden Sie eben nur alle drei oder vier Stunden abgelöst, ich brauch die Leute! Die Brücke ist wichtiger als das Quartier, der Oberfeldmeister hat das so befohlen!" Widerstrebend ließ er den Obervormann Rößler zurück. Wolzow stellte drei Doppelposten auf, vor dein Eingang auf der Straße und im Hof. Der dritte patrouillierte durch das Schulgelände.
Sie saßen im Wachlokal, Wolzow, Holt, Gomulka, Vetter, auch der Obervormann Rößler, ein ruhiger Mensch, der nur manchmal im Jähzorn üble Schimpfwörter hervorstieß. Wolzow rauchte eine dicke Zigarre und kommentierte die Tagesereignisse. "Wir sind vierzehn Mann hier, dazu Böttcher und Lesser. In der Nacht soll der dritte Zug zurückkommen, dann sind wir genug Leute." Vetter meinte: "Also, diese Nervosität, so was! Wenn sie so aufgeregt sind, dann gibt es meistens überhaupt nichts."
Holt verließ das Wachlokal. Das Gerede war ihm zuwider.
Er stand einen Augenblick an der Haustür und sah die beiden Posten unbeweglich im Dunkel... Er dachte an das Mädchen im Keller; dieser Gedanke quälte ihn wie ein körperlicher Schmerz. Ich hätte sie erschossen, dachte er. Er war unfähig, damit fertig zu werden. Er warf sich im-Obergeschoß ins Stroh, aber er fand keinen Schlaf.
Elf Uhr löste er mit Gomulka den Streifenposten ab. Gomulka schärfte den anderen ein: "Dass ihr nicht etwa auf uns schießt!" Sie liefen langsam ihre Runde, die Straße vor dem Schulhaus entlang, durch den Garten um den Hof herum und auf der anderen Seite wieder zur Straße. Der Zaun beiderseits des Schulhauses war niedergelegt worden. Sie schwiegen und horchten angespannt in die Dunkelheit.
Es war Mitternacht. Sie verließen den Schulgarten und traten auf die Straße. In der Stadt, ganz nahe, knallte ein Schuss. Holt erstarrte. Eine wüste Schießerei begann. Rasche, dünne Feuerstöße aus Maschinenpistolen, dazwischen in immer dichterer Folge Gewehrschüsse. Beim Eingang brüllte es: "Steh!" Dann knallte es auch dort. Gomulka lief los, zum Eingang hin. Holt hörte hinter sich hastende Schritte durch das Gebüsch des Gartens brechen. Er schoss. Vor ihm in der Dunkelheit blitzte das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole. Jenseits des Schulplatzes, wo die Straße zwischen den Häusern stadtwärts führte, setzte heftiges Feuer ein, verstummte, flackerte wieder auf. Nun fielen auch aus dem Schulhaus Schüsse.
Holt hörte Schritte über das Pflaster hallen, jemand lief von der Stadt her auf den Garten zu, stürzte hin und schrie: "Hiiiilfe!" Holt war mit ein paar Schritten bei dem Gefallenen, der auf dem Bauch lag, den Kopf hob und röchelte: "Die Stadtwache... Die Streifen... Alles..." Dann klirrte der Kopf mit dem Helm auf das Pflaster. Am Straßenausgang jenseits des Schulplatzes begann ein Maschinengewehr zu feuern, in kurzen Stößen.
Holt flüchtete zwischen die Gartenbüsche. Aber auch auf dem Hof schoss es, hinter ihm im Garten, ganz nahe, überall. Er lief auf die Straße, lief nahe der Mauer am Schulhaus entlang, warf sich zu Boden und kroch zur Tür hin. Vor dem Eingang lag einer der Posten, der andere auf der Schwelle. Holt kroch über ihn hinweg ins Treppenhaus. Dort lag Rößler, unbeweglich.
Holt schrie: "Nicht schießen!" Er rollte sich zur Seite aus dem Schusswinkel des Maschinengewehrs, das seine Feuerstöße durch den Eingang ins Schulhaus schickte. Ununterbrochen fetzten Geschosse gegen die Wände. Oben, in der Vorhalle, blitzten in regelmäßigen Abständen die Abschüsse eines Karabiners auf.
Holt kroch, eng an die Wand gedrückt, die wenigen Stufen hoch und fand in der Halle endlich Deckung hinter dem Mauer-Vorsprung. Wo die Tür ins Wachlokal führte, kniete Wolzow, in Hemdsärmeln und barhäuptig, und sandte Schuss auf Schuss durch die Tür ins Freie. Holt sah Vetter aus dem Wachlokal eine geöffnete Patronenkiste zu Wolzow hinschieben.
Wolzow lud. Er brüllte zu Holt hinüber, und bei dem Lärm der Schüsse konnte man sich nur schreiend verständigen: "Hast du´s geschafft, Werner? Zum Hoftor! Dort steht bloß der Kranz!"
"Wo ist Sepp?" schrie Holt zurück. Wolzow deutete mit dem Ellenbogen ins Wachlokal. "Streifschuss im Gesicht! Vetter hat ihn verbunden!"
Holt rechnete: Gilbert, Christian, Sepp und ich, sind vier. Rößler tot: fünf. Die Straßenposten tot: sieben. An der Hoftür einer: acht. Schwedt und Schwerdtfeger standen auf dem Hof, die sind wohl auch gefallen: zehn. Fehlen sechs Mann.
"Wo sind denn die anderen?" schrie er. Wolzow ließ sich von Vetter einen geladenen Karabiner reichen und gab das leergeschossene Gewehr zurück. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Die breite Holztreppe, die ins Obergeschoß führte, lag dem Eingang unmittelbar gegenüber. Ununterbrochen klatschten Geschosse in die Holzstiegen. Wolzow schoss wieder. Im Blitzen der Abschüsse sah Holt auf den zersplitterten Stufen drei regungslose Gestalten liegen, eine vierte lag am Fuß der Treppe in der Halle. Zehn und vier sind vierzehn. "Und Lesser und Böttcher?" schrie er. Wolzow antwortete zwischen zwei Schüssen: "Sind oben. Die traun sich nicht über die Stiegen runter!" Eine Kugel schlug dicht vor seinem Gesicht in den Mauervorsprung, der Putz stiebte. "Vetter, meinen Helm!" schrie Wolzow. Vetter reichte ihm den Stahlhelm.
Holt sprang endlich die Treppe hinunter zur Hoftür. Zu seiner Rechten führte die Kellertreppe hinab. Auch durch die geöffnete Hoftür schlugen ununterbrochen Schüsse herein und klatschten in die Mauer. Kranz stand eng an den Türrahmen gepresst und schoss auf den Hof hinaus. Er hörte, als das Schießen einen Augenblick nachließ, wie Böttcher im Obergeschoß laut "Obacht!" rief, dann fiel in der Halle klirrend ein Gegenstand zu Boden.
Holts Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Wolzow fischte mit dem Gewehrlauf ein in Papier gewickeltes Päckchen zu sich heran, las und warf es Holt hin. Dann begann er wortlos wieder zu feuern. Holt hob das Päckchen auf, ein Schlüsselbund fiel zu Boden. Er drückte sich tief in die Ecke zwischen Hof- und Kellertür, entzündete ein Streichholz und las: "Befehl vom Oberfeldmeister. Sofort die Gefangenen erschießen! Schlüssel anbei. Böttcher."
Holt warf das Streichholz weg. Die solln lieber sehn, dass sie runterkommen, dachte er. Er drehte den Zettel in den Händen. Er sah Kranz noch immer eng an den Türpfosten gepresst und dann und wann einen Schuss zum Brunnen hinüberfeuern. Von der Straße her schoss das Maschinengewehr wütend seine Feuerstöße durch die Tür. Die Treppe war der Kugelfang. Da kommt keiner runter, dachte Holt, der Lesser nicht, der Böttcher nicht. Er warf den Karabiner auf den Rücken.
Während er sich die Kellertreppe hinabtastete, begann sein Herz vor Angst wie rasend zu schlagen. Er zog die Parabellum und entsicherte sie. An der Mauer entlang fühlte er sich zu der Eisentür hin. Als er sie gefunden hatte, stand er und horchte. Er musste sich erst beruhigen, so sehr zitterte er vor Angst und Aufregung. Von oben drangen gedämpft die Schüsse zu ihm herab. Er zog den Schlüssel und öffnete. Das Licht eines Kerzenstummels fiel auf ihn.
Der Hausmeister stand schützend vor seiner Tochter. Holt stieß hervor: "Ihr müsst weg hier! Aber ich kann euch nicht rauslassen, sonst erschießen sie mich!" Das Mädchen starrte ihn an. Jetzt wird sie endlich begreifen, dass sie mir unrecht getan hat, dachte Holt. Der Hausmeister sprach mit seiner Tochter. Sie rief: "Schieß doch, Faschist!" Er schrie unbeherrscht, in seiner Nervosität durch dieses unverständliche Gebaren gereizt: "Red doch keinen Unsinn! Ich muss euch erschießen, und was ist, wenn jetzt einer kommt, dann bin ich dran, was soll ich denn tun?"
Sie redete hastig auf den Hausmeister ein, der misstrauisch auf Holt und auf die Pistole blickte und dann irgend etwas antwortete. "Schnell doch!" rief Holt ungeduldig. - "Haben Sie Schlüssel?" - Holt nickte. - "Gegenüber ist Werkzeug. Eine Brechstange!" - Holt blickte zu dem winzigen, vergitterten Fenster hoch. Er verstand. Er probierte die Schlüssel an der gegenüberliegenden Tür. Das Mädchen stand schon neben ihm: "Geben Sie her!" Sie öffnete, und der Hausmeister schob Holt zur Seite und suchte in dem stockdunklen Loch, bis er ein großes, doppelt u-förmig gebogenes Eisen fand. Das Mädchen schloss ab und gab ihm die Schlüssel zurück. Holt steckte die Pistole weg. Der Hausmeister kletterte auf eine hochgekantete Kiste und wuchtete mit dem Eisen an den Gitterstäben. Holt sagte: ‚1In fünf Minuten müsst ihr weg sein, dann kann ich melden, ihr wart schon fort, als ich runterkam." Sie nickte. Er wollte die Eisentür schließen, aber plötzlich sagte er heiser: "Und wenn uns eure Leute heut nacht... dann denk an mich!" Sie sah ihn groß an. "Schlagt eure Anführer tot! Wir werden sagen, dass sie euch nichts tun!" Verrückt, dachte Holt, sie ist verrückt! Er warf die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel um und lief nach oben.
Er trat gerade in dem Augenblick wieder in den Hausflur, als Kranz an der Hoftür das Gewehr fallen ließ, sich nach vorn neigte, sich immer mehr zusammenkrümmte und dann lautlos nach rechts auf die Seite fiel, mitten in die offene Tür. Holt kniete hinter der Mauer nieder und schob den Gewehrlauf hinaus. Bei der Pumpe blitzten wieder Schüsse auf. Kranz streckte sich, dann lag er unbeweglich. Holt schoss das Magazin leer. Er lud und wartete. Sinnlos, dachte er.
Im Haus war es auf einmal ruhig. Auch Wolzow schoss nicht mehr. Aber auf der Straße feuerte noch immer das Maschinengewehr. Das geht doch nun schon eine Stunde so, dachte Holt. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht eins. Wolzow brüllte: "Werner?" Auf dem Hof verstummte das Schießen. Der ent-fernte Gefechtslärm war nun deutlich vernehmbar. Wird am Bahnhof sein, dachte Holt. Im Garten brach Gebüsch. Auf dem Hof rief jemand fremdartige Worte. Jetzt sind sie weg, dachte er. "Werner!" brüllte Wolzow wieder. Holt antwortete: "Der Kranz ist auch tot! Und die Gefangenen hab ich nicht erschießen können. Die waren getürmt!"
Wolzow riss das Gewehr hoch, auch Vetter schoss, sehr rasch hintereinander knallten die Abschüsse der Walther-Pistole. Dann war wieder Ruhe. "Plötzlich an der Tür waren sie!" rief Vetter. "Wollten einfach rein, so was!" Auf einmal verstummte auf der Straße das Maschinengewehr. Eine mächtige Detonation erschütterte das Schulhaus, eine zweite, dritte, vierte, der Boden bebte, von der Decke fiel Putz. Dann war es totenstill. Wolzows Stimme: "Herr Oberfeldmeister! Das war oben!" Niemand antwortete. "Rauch", schrie Wolzow, "es brennt!"
Holt lehnte sich an die Mauer. Aus. Vorbei. Er hörte Wolzow rufen: "Lasst keinen rein!" Dann jagte er die Treppe nach oben. Auf den Hof fiel flackernder Feuerschein. Wolzow Polterte wieder die Treppe hinab, kam um die Ecke zu Holt und sagte: "Feierabend! Lesser und Böttcher sind hin... Handgranaten! Das Stroh brennt überall." - "Gilbert!" schrie Holt. - "Sei doch still!" Wolzow nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Holt sagte: "Wer ist denn noch da?" Wolzow antwortete: "Wir vier von Anton, sonst keiner."
Der Feuerschein schlug heller auf den Hof hinaus, auch durchs Treppenhaus flackerte rotes Licht. "Im Dunklen wär eine Chance gewesen", sagte Wolzow, "aber jetzt knallen sie uns ab, wenn wir durch den Feuerschein laufen, darauf warten die in aller Herrgottsruhe." Er dachte nach. "Wir müssten längst weg sein! Als es losging, hätten wir uns sofort zur Bahnhofswache durchschlagen müssen, das wär richtig gewesen, das können wir dem Lesser auf den Grabstein meißeln... Der Lesser", sagte er plötzlich wütend, "hat´s gewusst, dass es heut losgeht." Vetter rief: "Hier fällt solcher Kalk von der Decke!" - "Lass ihn fallen", rief Wolzow zurück, "pass lieber auf den Eingang auf!" Er dachte wieder nach. "Sag mal, hast du etwa den Hausmeister auskneifen lassen?" - "Nein." - "Komisch. Wie sind denn die getürmt?" - "Durchs Fenster." - "Aber die Fenster sind doch vergittert!" - "Die Stäbe waren rausgebrochen", rief Holt, "Herrgott, was wird denn aus uns? Sollen wir hier verbrennen?" - "Sei mal still!" sagte Wolzow. "Wo führt das Fenster hin? Auf den Hof?" - "Nein, in den Garten unter der Giebelwand." - "Gib den Schlüssel her", sagte Wolzow, "ich schau mir das an!" Er lief die Kellertreppe hinab. Uber Holt fauchte und prasselte das Feuer, Fensterscheiben zerklirrten und fielen auf den Hof.
"Mensch!" rief Vetter entrüstet. "Dort drüben, am Schulplatz, dort laufen sie rum! Die denken wohl, wir sind nicht mehr da?" Er schoss, der Schuss dröhnte, als Antwort jagte das Maschinengewehr einen Feuerstoß durch die Tür, dass die Treppe splitterte. Holt sah auch hinter dem Brunnen und beim Gartenhäuschen ein paar Gestalten, auf die der Feuerschein fiel, aber er schoss nicht.
Wolzow tauchte in der Kellertür auf. "Wenn wir ein bisschen Glück haben, kommen wir in den Garten. Mal sehn, wie´s weitergeht." Es geht also doch weiter, dachte Holt, es ist noch nicht alles zu Ende... "Und Sepp?" - "Wundschock. Wir nehmen ihn mit. Pass auf! Christian muss mit Sepp weg. Wir bleiben noch." Er überlegte schon wieder, mit schräggelegtem Kopf. Holt rief ungeduldig: "Also los doch!" - "Na, einen Moment! Hab dich doch nicht so! Was ist denn heut mit dir los? Ich überleg bloß. Ob die uns hier noch raushaun? Kampfauftrag hatten wir keinen. Ich denke, man kann den Ausbruch verantworten."
"Gilbert!" brüllte Holt. "Hör auf! Sonst hau ich allein ab!" - "Das wirst du nicht tun", sagte Wolzow, und er war böse. "Auf gar keinen Fall! Organisierter Rückzug: ja. Aber nicht türmen!"
Holt dachte entgeistert: Vier Mann... und organisierter Rückzug!
Vetter und Gomulka krochen durch die Halle. Dann standen sie bei Holt. Gomulka stützte sich auf Vetter und auf seinen Karabiner. Er war erschöpft, sein Gesicht sah blassgrau und eingefallen aus dem Mullverband hervor, die Lippen schimmerten bläulich, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. "Hast du Schmerzen? fragte Holt. "Fast gar nicht", antwortete Gomulka schwach. Er verschwand mit Vetter im Keller.
Auf der Straße schoss wieder das MG. Wolzow schoss zurück, er brüllte: "Schieß, Werner!" Jemand rannte aus dem Lichtschein in die Dunkelheit des Gartens. Holt schoss den Karabiner leer, über ihm tobte das Feuer, nun krachten Ziegel und Balken auf den Hof... Wolzow war neben ihm und steckte das Seitengewehr auf den Karabiner. "Laden, dann weg!" Sie flüchteten in den Keller. Holt stieg auf die Kiste und kroch durch das Fenster. Wolzow reichte ihm die Gewehre nach. Dann tauchten sie ins Gebüsch des Gartens. Gerettet! Holt blickte zurück. Das Feuer raste, die Flammen schlugen aus den Fenstern und hoch über dem Dach zusammen.
Unbehelligt erreichten sie den Bahndamm und folgten ihm zum Bahnhof. Hinter ihnen, in der Stadt, verstummte das Schießen. Sie mussten Comulka stützen und kamen nur langsam voran. Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den Bahnhof, wo noch immer Schüsse knallten. Sie warteten, weit abseits im Wald versteckt, bis es hell wurde und auch hier das Feuer verstummte. Die Reste der Bahnhofswache hatten sich in einem Stellwerk verschanzt.
Ringsum war alles ruhig, als sei in der Nacht nichts geschehen. Sie meldeten sich bei Unterfeldmeister Rischka, der bleich und demoralisiert zwischen seinen Leuten hockte.
Gomulka kam bald wieder zu Kräften. Er ließ sich von Holt ein neues Verbandpäckchen um den Kopf wickeln. Der Schuss war vorn schräg über die Wange gefahren und hatte bis zum Ohrläppchen eine fingerlange Fleischwunde gerissen, die stark geblutet hatte.
Wolzow und Vetter zogen unterdessen mit ein paar Mann in die Stadt und fanden sie verlassen und menschenleer. Gegen zehn Uhr traf zögernd, in einzelnen Trupps, der dritte Zug beim Bahnhof ein, führerlos und stark gelichtet. Er war am Abend auf dem Rückmarsch weit außerhalb der Stadt angegriffen und auseinandergetrieben worden. Der Zugführer war gefallen. Die Trupps hatten sich in den Wäldern versteckt. Wenig später erschien Böhm mit einer fünf Mann starken Bedeckung am Bahnhof. Auch die Brückenwache war angegriffen worden. Böhm übernahm das Kommando über die Abteilung, lief mit dem Notizbuch herum und versuchte, die Verluste fest-zustellen. Die Abteilung war von hundertfünfundachtzig auf hunderteinunddreißig Mann zusammengeschmolzen.
Holt zitterte bei dem Gedanken an die kommende Nacht. Er lag in einem Kornspeicher. Wolzow trieb sich draußen herum; am Nachmittag sagte er: "Wenn´s dunkel ist, dann kommen die wieder."
Aber am späten Nachmittag rollte eine motorisierte SS-Einheit in die Stadt. Die Arbeitsmänner drängten sich vor dem Bahnhof um die Lastwagen. Vetter rief: "Schau mal, was die für tolle Waffen haben!" - "Sturmgewehr 44", sagte Wolzow, "eine neue Maschinenpistole." - "Wenn wir so was hätten", rief Vetter, "da hätten wir heut nacht bestimmt gesiegt!"
Holt saß teilnahmslos auf der Betonrampe eines Güterschuppens. Wenn sie wiederkommen, dann verlieren wir wieder fünfzig Mann. Und morgen abermals. Und spätestens übermorgen bin ich dran. Noch zwei Tage... Böhm ließ antreten. Die Arbeitsmänner kletterten auf die Lastwagen. Die SS stand Gewehr bei Fuß vor dem Bahnhof und blieb.
Die Fahrzeuge rollten in einem Tal den Weg entlang, der dem Lauf eines reißenden Gewässers folgte. Das ferne Geschützfeuer, das seit dem Morgen über den Bergen grollte, kam näher und näher. Am Abend erreichten sie ein Dorf in einem weiten Talkessel. Der Ort war mit SS vollgestopft. Die Abteilung erhielt eine windschiefe Feldscheune als Quartier. Endlich gab es warmes Essen und Verpflegung. Die Abteilung hatte in der Schule alles Gepäck verloren. Holt war noch im Besitz des Brotbeutels und verstaute darin Konserven und Brot. Zigaretten und Tabak hoben die Stimmung. Holt brachte Gomulka zum Verbandplatz. Ein Sanitäter besah die Wunde und sagte verächtlich: "Mach keinen Zimt wegen dem Läusebiss …Was hast du gehabt? Einen Wundschock willst du gehabt haben bei dem Kratzer? Du bist ja bescheuert!"
Am anderen Tage rückte ein Großteil der SS ab, nur die Stäbe und Trosseinhejten blieben zurück. Böhm hatte ausgeschlafen und zeigte sich sehr geschäftig. Aus den Beständen der SS erhielt die Abteilung eine dürftige neue Ausrüstung, Brotbeutel, Feldflaschen, Feldspaten und jeder eine Zeltbahn. Die drei Züge, zu vier. Trupps, waren nun nur noch je einundvierzig Mann stark; als Truppführer wurden Arbeitsmänner, als Zugführer die dienstältesten Obervormänner eingesetzt. Sechs Mann waren überzählig, aus ihnen bildete Böhm einen "Kommandotrupp", den er Wolzow übergab; Wolzow suchte sich Holt, Vetter, Gomulka und noch zwei andere aus. Am Nachmittag brachte Wolzow Schnaps. Der Alkohol gab Holt nur für kurze Zeit Kraft und Entschlossenheit zurück. Dann beherrschte ihn wieder das trostlose Gefühl von Verlassenheit und Angst.
Böhm schleppte den Kommandotrupp ständig mit sich herum. "Kommandotrupp? Eine Leibwache hat er gewollt!" sagte Holt. - "Wir sind die Leibstandarte Adolf Böhm", rief Vetter, auf den die Ereignisse keinen sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten.
Die Abteilung erhielt einen neuen Einsatzbefehl. Wolzow erzählte. "Heut nacht hat die SS ein Dorf mit einer wichtigen Straßenkreuzung erobert und ist sofort weitergezogen. Wir sollen den Ort besetzen und die Kreuzung bewachen. Endlich mal ein eindeutiger Kampfauftrag, da weiß man doch, woran man ist!" Sie marschierten, über dichtbewaldete, mächtig ansteigende Berghänge, durch urwüchsige Laubwälder, auf Waldpfaden und Pirschwegen. Böhm orientierte sich nach der Karte. Ein Trupp zog als Vorhut voraus, die Abteilung folgte in Schützenkette, weit auseinandergezogen. Auf einem breiten, befestigten Fahrweg, unangefochten, wenn auch vom Marsch erschöpft, erreichten sie am Nachmittag ihr Ziel.
Vor ihnen öffnete sich ein grünes Tal, das sich langgestreckt, etwa drei Kilometer breit, von Osten nach Westen zog. Der Fahrweg stieß im Süden aus den Wäldern heraus, den steilen Berghang hinab ins Tal, und jenseits der Talsohle, im Norden, wieder hoch in die bewaldeten Berge. Die Talsohle entlang, von Osten nach Westen, floss ein breiter Wildbach durch versumpfte Wiesen, und seinem Lauf folgte eine Straße, die im Westen hinter einer Krümmung des Tales verschwand. Wolzow taufte sie Talstraße. Wo beide Wege einander im rechten Winkel schnitten, dort sah man ein halbes Dutzend Häuser, und am Bach ein paar niedrige Gebäude. Das war die ganze Ortschaft.
Am Fuße des Berges, auf den Wiesen, befahl Böhm Halt. Die weit auseinandergezogene Abteilung sammelte sich. Die Kreuzung lag etwa einen Kilometer vor ihnen. "Der erste Zug", schrie Böhm, "gräbt sich hier links und rechts der Straße ein, Front nach Süden gegen die Berge. Zweiter und dritter Zug Gewehre umhängen! Ohne Tritt... marsch!" Etwa hundert Meter vor der Straßenkreuzung ließ er abermals halten. "Der dritte Zug marschiert über die Kreuzung und über die Brücke, bis etwa einen Kilometer hinter das Dorf, und gräbt sich dort ein, Front nach Norden gegen den Berghang. Dritter Zug abrücken!" Er zog die Karte hervor und beriet sich mit Rischka.
Holt sah sich um. Die Wiesen waren sumpfig. Kein Spaß, sich da einzugraben, dachte er. Fünfzig Meter vor ihm, rechts an der Straße, lag ein Haus, ein Wirtshaus offenbar. Links sah Holt drei einzelne Gehöfte, dann die Talstraße, dahinter den Bach, den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Die Gebäude jenseits des Baches, Haus und Schuppen, gehörten zu einer Sägemühle, wie Holt an den Bretterstapeln auf dem Hof erkannte. Im Osten der Ortschaft war der Badi gestaut. Dort zweigte ein Arm des Gewässers ab, lief unter der Straße hindurch und dann durch das Gelände der Sägemühle, ehe er wieder in den Bach zurückmündete. Rechts an der Talstraße, etwa zweihundert Meter östlich der Kreuzung, sah Holt ein weiteres einzelnes Gehöft liegen, niedergebrannt, in Trümmern.
Die beiden Unterfeldmeister berieten noch immer. Wolzow hatte sich einfach dazugestellt. Der Kommandotrupp war ihm gefolgt und stand um die beiden Führer herum. "Also gut", sagte Böhm, "der zweite Zug nimmt im Dorf Quartier." Wolzow legte die Hände an die Hosennaht und fragte: "Warum graben sich der erste und der dritte Zug einen Kilometer außerhalb des Dorfes ein? Man soll seine Kräfte nicht unnütz teilen!" - "Hörn Sie auf, Sie dreifacher Idiot!" brüllte Böhm außer sich. "Wer hat Ihnen erlaubt, hier dämlich herumzuschwafeln?" Wolzow setzte umständlich den Helm auf. Böhm schrie: "Der zweite Zug wie befohlen ins Dorf, als Reserve! Die Züge bleiben liegen, wo sie sind, auf freiem Felde sind wir denen über, ich lass mich doch nicht wieder auf einen Häuserkampf ein! An die Talstraße stelle ich Doppelposten, und Sie Idiot, Sie mit Ihrem Kommandotrupp, Sie werden Wache schieben, bis Ihnen das Gekröse zum Arsch heraushängt!" Die letzte Beschimpfung kam schon schwächer, seine Wut war verflogen. "Gewehre zusammensetzen! Es darf geraucht werden!" Er warf sich ins Gras und knöpfte die Feldflasche los. "Wolzow! Der Kommandotrupp sucht Quartiere aus!"
Sie stiefelten den staubigen Weg entlang. "Schau mal, dort!" sagte Wolzow und wies mit der Hand nach rechts. Vor der Giebelwand des Wirtshauses neben der Straße lag ein grauer Haufen erstarrter Leichen. "Hat die SS Gefangene umgelegt!" Er rief über die Schulter: "Vetter, schaut euch links die drei Gehöfte an!"
Wolzow, Holt und Gomulka standen auf der Wegkreuzung. Sie gingen über die Brücke zur Sägemühle. Holt folgte Wolzow ins Wohnhaus. Gomulka öffnete die Tür zur Werkstatt. In den Räumen des Wohnhauses waren die Wände von Einschlägen zerhackt. Wolzow stapfte die Treppe hoch ins Obergeschoß. Holt sah unter dem eingeschlagenen Fenster einen Leichnam liegen, mit zertrümmertem Gesicht. Er lief ins Freie.
Aus der anderen Tür, die im rechten Winkel zur Wohnhaustür und nur wenige Schritte entfernt in die Werkstatt führte, trat in diesem Augenblick Gomulka, nein, er trat nicht, er taumelte. Er hielt sich an der Klinke fest, so dass er die Tür unwillkürlich hinter sich zuzog, dann fiel er gegen die Mauer. Sein Gesicht war grünlichgelb. Er krümmte sich zusammen, er schlug beide Hände vors Gesicht.
"Sepp!" rief Holt erschrocken.
Gomulka ließ die Hände sinken. Er stöhnte. Er sah Holt an. Aus seinen Augen sprach unbeschreibliches Entsetzen. "Geh nicht rein!" schrie er. "Mein Gott, geh nicht rein!" Abermals bedeckte er das Gesicht mit den Händen.
Holt war ratlos. Das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung schnürte ihm die Kehle zu. Gomulka sagte dumpf: "Doch... geh rein... Los, geh!"
Holt nahm den Karabiner von der Schulter, aber er hängte ihn wieder um, zog die Parabellum und entsicherte sie. Er riss die Tür auf und schaute in einen schmalen Korridor. Er trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er spähte vorsichtig in das kleine Büro. Nichts. Schließlich ging er in die Werkstatt.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Dann sah er. Was er sah, war so über alle Maßen grauenhaft, dass es sich in seinem Hirn erst wie aus Mosaiksteinchen zu einem vollständigen Bild zusammenfügen musste. Aber dann begriff er. Alles um ihn begann sich zu drehen, vor seinen Augen wurde es rot und dann schwarz. Er hielt sich am Türpfosten fest. Er wollte fliehen, aber die Glieder versagten und begannen haltlos zu zittern.
Er sah: Eine Kreissäge. Auf dem mit Sägespänen bestreuten, blutgetränkten Boden lagen russische Uniformstücke verstreut, und dazwischen ein paar über den Knien abgesägte Beine, eine Hand, ein Stück Schenkel. Auf dem Tisch der Kreissäge lag der nackte, armlose Oberkörper eines Menschen. In die Brust war ein großer Sowjetstern geschnitten. Aus dem Leib hatte das runde Sägeblatt die Gedärme herausgezerrt, und Eingeweide, Fleischfetzen und Kot erfüllten den Raum mit einem unerträglichen Gestank.
Jemand polterte durch die Tür und prallte zurück. Es war Wolzow. Auch er wurde aschfahl. Er zog die Schultern nach vorn, sein Kopf kippte zur Seite. Dann packte er Holt am Arm und zog ihn ins Freie.
Holt wankte ein paar Schritte in den Abend hinaus. Er spürte, wie ihm der Mageninhalt hochkam. Er erbrach sich. Wolzow sagte neben ihm: "Immer raus damit... Jetzt geht´s schon wieder besser!" Dann stieß er Holt mit der Faust in den Rücken: "Los, weg hier!"
Sie gingen die Straße zurück und trafen Vetter mit den anderen. "Zwei Gehöfte sind ganz ordentlich", sagte Vetter, "aber keine Sau im Stall, nicht mal ´n Karnickel!" - "Halt´s Maul!" sagte Wolzow.
Er ging zu Böhm. Böhm fragte: "Wo?" Wolzow deutete mit der Hand ins Dorf. Böhm hob die Schultern und schüttelte den Kopf, aber da rief Wolzow: "Wir haben auch Nerven, gehn Sie doch hin und sehen Sie sich an, was für eine Sauerei die SS dort angerichtet hat!" Rischka zog Wolzow zur Seite, nestelte seine Feldflasche los, und Wolzow nahm sie und trank. Holt sah das alles teilnahmslos mit an. Wolzow reichte ihm die Feldflasche. "Trink! Los doch, es ist Schnaps, das hilft, nimm noch einen Schluck, du auch, Sepp!" Holt trank und gab die Flasche weiter.
Vetter führte den Zug zu den beiden Gehöften. Bald wurde es dunkel. Böhm stellte den Kommandotrupp an den Talweg. Holt und Gomulka wachten nach Osten hin, bei dem einsamen, ausgebrannten Gehöft.
Wolzow durchstreifte das Dorf. Gegen Mitternacht kontrollierte Böhm die Posten, mürrisch und missgelaunt. Als er gegangen war, kam Wolzow wieder und rauchte bei Holt und Gomulka eine Zigarette. Er erzählte: "Ich hab ihm noch mal vorgeschlagen, die beiden Züge ins Dorf zu holen. Ich hab ihm gleich vorhin gesagt, wir müssen die Mühle abbrennen, aber er will nicht. Wenn sie das Dorf einnehmen und die Bescherung in der Mühle sehen, dann lassen sie ihre Wut an uns aus. Ich versteh die SS nicht! Wenn man so was macht, lässt man´s doch hinterher nicht offen rumliegen." Er trat die Zigarette aus. "Ich komm wieder." Er tauchte in der Nacht unter.
Gomulka hatte den Abend kein Wort gesprochen. Seine Bewegungen waren fahrig. Jetzt, da sie in der Dunkelheit beieinanderstanden, sagte er plötzlich: "Ich hab es gewusst. Aber ich hab es nicht geglaubt." Erst nach Minuten fuhr er fort: "Jetzt glaub ich alles."
Holt nahm den Karabiner von der Schulter und legte ihn auf die Patronentasche. Auge um Auge, Zahn um Zahn, dachte er. "Gnade Gott uns allen, wenn wir nicht Siegen!"
"Siegen!" sagte Gomulka verächtlich. "Das gibt es nicht. Das darf nicht sein, dass so was siegt!"
Holt antwortete nicht. Eine halbe Stunde verging. Es war still, nur der Bach rauschte.
"Ich hab, seit ich in die Schule gehe, nicht mehr an Gott geglaubt", sprach Gomulka wieder, und seine Rede war verworren. "Ich kann auch nie mehr an Gott glauben... Aber dass es den Teufel gibt, das glaub ich." Er sprach mit entstellter Stimme: "Seit ich das heute gesehen hab... und wenn ich nun denk, wie es werden wird mit Deutschland, dann hör ich meine Mutter, wie sie mir früher einmal aus der Bibel vorgelesen hat. Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden... und werden begehren zu sterben, und der Tod wird vor ihnen fliehen... Und ich seh das Kriegsende... das fahle Pferd, von dem es heißt: Und der daraufsaß, deß Name hieß Tod. Und die Hölle folgte ihm nach..."
Holt schauderte. Nun wußte er das Gefühl zu deuten, das ihn seit Stunden nicht mehr losließ. Es war Todesangst. Er horchte mit allen Sinnen in die Dunkelheit. Der Mond ging erst frühmorgens auf. Das Rauschen des Baches deckte alles zu. In einsamer Nacht, und auf verlorenem Posten.
Wolzow rief die Losung, noch ehe seine Schritte laut geworden waren. "Was Neues? Nein? Es ist gleich eins." Er stand regungslos. "Böhm hat sich hingelegt. Ich geh jetzt mal zum dritten Zug. Wenn was ist... schießt lieber zu früh als zu spät."
Die Nacht sog ihn auf.
Es wurde empfindlich kalt. In der Dunkelheit leuchtete nun blaß der weiße Nebel, der aus dem Bach stieg und langsam über die Wiesen kroch. Gomulka flüsterte an Holts Ohr: "Ich hör was!" Holt starrte in die Nacht. "Dort vorn!" Holt sah und hörte nichts. Gomulka hob das Gewehr.
"Warte!" Holt ging langsam den Weg entlang. Er dachte: Das ist falsch, da kann Sepp nicht schießen. Aber er ging doch weiter. Endlich blieb er stehen und lauschte. Nichts. Nur der Bach rauschte. Holt drehte sich um und horchte nach Süden über die Wiesen hin. Nichts.
Ein klirrender Schlag traf seinen Helm, glitt ab, traf die Schulter, warf ihn hin, im Fallen drehte er sich um sich selbst, dann traf ein zweiter, kraftvoller Kolbenschlag seinen Körper. Der Klang einer gewaltigen erzenen Glocke dröhnte in seinen Ohren, hob ihn hoch über das Tal, bis er das einsetzende Schießen nur noch von fern vernahm, das Geschrei der Kämpfenden, das Brüllen Wolzows, der den dritten Zug auf der Brücke in einen Feuerhagel hineinführte. Aber das alles war schon ausgelöscht. Ein großes, warmes Glücksgefühl erfüllte ihn.
Heftiges Stoßen und Schaukeln löste unerträgliche Schmerzen aus. Holt stöhnte. Er drehte den Kopf zur Seite. "Lieg still!" sagte Wolzow barsch. "Dir haben sie wahrscheinlich etliche Rippen eingeschlagen." Holt lag auf einem Lastwagen. Neben ihm röchelte jemand. Er schloss wieder die Augen. Sein Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Er wusste nicht, was geschehen war. "Wo ist Sepp?" fragte er schwach. - "Auch hier. Hat einen Schuss im Arm. Mir ist einer durch die Wade gegangen. Durch die Hand ein Bajonettstich. Lieg still, wer weiß, was bei dir alles kaputt ist!" Holt wälzte sich auf die schmerzende Seite. So lag er besser. Das Röcheln neben ihm war grauenhaft.
Der Wagen erreichte bald einen Verbandplatz. Dort nahm man die Verwundeten nicht an. Auch der Hauptverbandplatz wollte nichts von ihnen wissen und schickte sie fort. Der Wagen fuhr weiter, immer weiter. Das Röcheln neben Holt verstummte. Erst tief in der Nacht erreichten sie eine Stadt. Dort wurden sie ausgeladen.
Holt wurde am Morgen geröntgt. "Schreiben Sie: Röntgenaufnahme linkes Schultergelenk. Das Acromion zeigt eine Infraktionslinie ohne irgendeine Dislokation..." Und weiter: "Röntgenbefund Thorax. Zwerchfelle glatt konturiert, Herz normal konfiguriert, Fraktur dritte, vierte und fünfte Rippe im Bereich der hinteren Axillarlinie ohne nennenswerte Dislokation... " Er wurde hinausgefahren und fand sich in einem Bett wieder, in einem richtigen, weißbezogenen Bett. Das Zimmer war klein. Eins der drei Betten war leer, in dem anderen lag ein hohlwangiger, älterer Mann. Man sah durch das geöffnete Fenster in den Garten.
"Das ist hier schon Protektorat, Kumpel", sagte der Mann, "hier kannst du ganz ruhig schlafen!" Holt war stark benommen. Am Abend stand eine junge Schwester in heller Tracht an seinem Bett und fragte: "Wie alt sind Sie?" - "Bald achtzehn." - "Also siebzehn!" rief sie teilnahmsvoll. "Haben Sie Schmerzen?" Er drehte den Kopf zur Seite und sah hinaus in den dunklen Abendhimmel.
Später kam sie abermals und gab ihm eine Injektion in den Unterarm. "Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus - "Wie heißen Sie?" flüsterte Holt. - "Schwester Regine. Aber jetzt wird geschlafen!"
Am anderen Morgen, nach der flüchtigen Arztvisite, humpelte Wolzow durch die Tür, guter Laune wie lange nicht mehr. Er hatte die Hose über das Nachthemd gezogen, das linke Hosenbein war abgeschnitten. "Wie geht´s, alter Krieger?" Er setzte sich zu Holt aufs Bett. "Bei mir ist alles wie geölt durch die Glieder gerutscht, saubere Fleischwunden, der Himmel verlässt die alten Krieger nicht! Der Chefarzt wollte mich gar nicht hierbehalten, ich sollte ins Garnisonsrevier, da hab ich eben ein bisschen simulieren müssen!"
"Simulieren?" rief der Mann in der Ecke und richtete sich auf. Er war schrecklich abgemagert. "Und er hat´s nicht gemerkt? Ich denke, die Ärzte merken es immer, wenn einer simuliert?"
"Ach wo", sagte Wolzow. "Ich weiß Bescheid, die Frage ist ausführlich untersucht worden, schon im Weltkrieg und noch früher, steht alles in Peltzers 'Kriegslazarett-Studien', glaub ich, oder in Frölichs 'Militärmedizin', ist ja egal. Ich hab gesagt, ich könnte mich nicht erinnern, wie das alles passiert wär, ich hätte plötzlich dagelegen und immerfort gebrochen, auch auf der Fahrt hätt ich noch alles vollgekotzt, und so benommen wär mir, und dann hätt ich fürchterliche Kopfschmerzen, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll: ein bisschen hätten sie schon nachgelassen, die Kopfschmerzen! Da hat er natürlich die Diagnose auf schwere Gehirnerschütterung stellen müssen, mindestens einundzwanzig Tage Bettruhe, was blieb ihm denn anderes übrig?"
Holt musste lachen, aber das Lachen schmerzte in der Brust. "Wenn er dich hier erwischt!" Wolzow schüttelte den Kopf. "Sind ja bloß zwei Ärzte hier, die operieren jetzt. Der Chef operiert für sein Leben gern; wenn es was zu operieren gibt, dann nimmt er jeden auf! Das ist doch kein Lazarett hier, das ist ein ganz gemütliches Kreisspital."
Schwester Regine trat ins Zimmer. "Wolzow", schalt sie. "Durch das Haus laufen, das gibt es nicht! Sofort ins Bett!" - "Schwester", sagte Wolzow, "wir sind ganz alte Schulfreunde, ich kriech dort in das freie Bett!" Sie zögerte einen Augenblick, dann lächelte sie. "Schön. Da machen wir eben eine Kinderstation auf." Wolzow empörte sich: "Kinderstation! Von wegen... Sie befahl: "Sofort hinlegen!" Sie gab Holt eine Tablette. "Gegen die Schmerzen."
"Wie hab ich das gemacht?" fragte Wolzow. Der Hohlwangige in der Ecke aber sagte aufgeregt: "Hör mal, Kumpel, also weißte denn noch mehr solche Sachen, die was die Ärzte nicht rauskriegen?" Wolzow war zurückhaltend. "Da müsste ich erst mal wissen, wie alt du bist und bei was für einem Haufen." - "Landsturm", sagte der Mann, "bis dreiundvierzig war ich g. v. H., dann haben sie mich bedingt k. v. geschrieben. Ich war in Prag bei der Korpskommandantur, da sollte ich auf einem Gut in der Slowakei ein Schwein abholen, ein gemästetes, für den Korpsintendanten, die Sau, die hab ich mit´m Opel-Blitz geholt, da haben sie mich zusammengeschossen, auf der Straße, grad als das dort losging. Das Schwein war auch hin. Hier ist es wie im Himmel, Kumpel! Es war ein glatter Lungenschuss, aber in drei Tagen werd ich entlassen, das ist furchtbar, denn der Korpsintendant soll so getobt haben, weil das Schwein hin gewesen ist, dass er mich wird an die Front schicken lassen. Ich heiße August Meier, bin dreiundfünfzig Jahre alt, evangelisch, verheiratet und hab vier Kinder. In der Partei bin ich aber nicht, weil ich früher Sozi war."
"August Meier!" sagte Wolzow und lachte laut. "Ausgerechnet August Meier, da ist deinen Eltern wohl nichts Gescheiteres eingefallen, was? Also, alter Sozi oder was du da warst, Stahlheim, Volkspartei, war ja alles dasselbe, wenn du vierzig wärst, dann wüsste ich ja nichts, da würde ich dich an die Front jagen, aber mit dreiundfünfzig und vier Kindern, da will ich mal nicht so sein, da werd ich dir eine Blinddarmentzündung verpassen! Den Blinddarm hast du doch noch? Gut. Du musst nach der Operation die Sache schön in die Länge ziehn, da kann man die Wunde eitern lassen und so, ich erklär dir das alles. Du hebst dir sofort alle Butter auf, du brauchst mindestens ein Viertelpfund..." - "Hab ich", sagte Meier, "sogar mehr, ich schick sie immer nach Hause." - "Da kannst du ja schon heute nacht operiert werden! Pass auf! Du bekommst plötzlich Leibschmerzen, aber grässliche! Du stöhnst und verziehst das Gesicht, so sehr du kannst, du hast ganz furchtbare Bauchschmerzen, und sie haben wie der Blitz aus heitrem Himmel angefangen..."
"Aber wenn das so sehr weh tut", sagte Meier mit verzerrtem Gesicht, "dann ist es vielleicht nicht das richtige..." - "Du bist dämlich!" rief Wolzow, "Mensch, es tut ja gar nicht weh, du tust doch bloß so, als ob es weh tut!" - "Ja, richtig!" sagte Meier. Wolzow fuhr fort: "Grad wolltest du sehn, wie spät es ist, ob es schon Zeit zum Schlafen ist, da war es dreiviertel neun oder so, das wirkt immer sehr überzeugend, wenn man die Uhrzeit noch weiß. Und der ganze Bauch tut dir weh, nicht bloß rechts, vor allein in der Mitte, so unterm Nabel..."
Holt lag unbeweglich. Die Erinnerung kehrte zurück. Die letzte Wache im Dorf. Der Kampf um die Schule. Die Slowakin. Das RAD-Lager. Gundel. Die Feuernacht in Wattenscheid. Er schloss die Augen.
"Ja, weiter!" sagte Meier.
"Du legst dich nie auf die linke Seite, merk dir das, weil es da noch schlimmer weh tut! Du ziehst das rechte Bein an, weil das den Schmerz erleichtert, und wenn sie dir´s gewaltsam ausstrecken, dann stöhnst du und ziehst es gleich wieder an. Verstehst du?"
Ich hab es gesucht, das... Abenteuer, dachte Holt. Nun darf ich nicht jammern und klagen, auch wenn ich darin umkomm. Aber ich hab es mir anders gedacht: reinigend, befreiend, und heroisch... nicht so sinnlos. Langemarck, wie es in den Lesebüchern stand, war immer das Ideal, singend für Deutschland in den Tod zu stürmen... Alle die Bücher fielen ihm ein, er sah eine Seite mit gotischen Lettern aufgeschlagen vor sich: "...halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem Jauchzen in das Maschinengewehrnest schleudernd... im Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit dem letzten Gedanken:... Deutschland... Nahm den bitteren Kelch mit stolzem Heldenlachen..."
Lüge! Die Bücher haben alle gelogen.
"Links tut´s nicht weh, beim Drücken, aber rechts... Dann drückt er dir den Bauch ganz langsam tief rein, auch auf der rechten Seite, und lässt plötzlich los... da schreist du Au! Und wenn er wieder reindrückt, da merkst du nichts, aber wenn er wieder loslässt, dann stöhnst du, was du kannst..."
Die Erinnerung an die Kindheit war heute klarer als sonst. Da bin ich noch nicht zehn gewesen, da haben wir Krieg gespielt. Ich hab gesagt: Wenn ich groß bin, dann will ich auch in den Krieg! Nun hab ich, was ich mir wünschte.
"...damit das Blutbild stimmt, musst du zwanzig Minuten vor der Blutentnahme die ganze Butter auffressen, so schnell du kannst. Schaffst du das?" - "Ich denke doch", sagte Meier. "Mal so richtig Butter essen, warum nicht?"
Aber die Erwachsenen haben es zugelassen! Die haben mich hineingetrieben. Sieh dir den Werner an, der wird bestimmt einmal ein tapferer Soldat! Ich bin nicht schuld, ich wusste es nicht besser. Die Erwachsenen hätten es besser wissen müssen. Sie haben mich mit schönen Sprüchen auf den Weg geschickt, auf diesen Weg.
"Und wenn du alles richtig machst, dann müssen sie dich operieren, und kein Mensch kann dir was beweisen!"
Holt drehte das Gesicht zum Fenster. Das Laub in den Baumwipfeln färbte sich braun. Wolzows Geschwätz drang immer wieder in sein Bewusstsein. Am Morgen, als er erwacht war, hatte er geglaubt, ihm sei die Flucht geglückt. Aber das Leben folgte ihm nach. Es folgte ihm in Wolzows Gestalt, das Leben, der Krieg. Wenn ich nicht wieder aufgewacht wär, dachte er, dann wär jetzt alles vorbei. Es war gar nicht schlimm. Es war schön. Nur die Angst ist schlimm, vorher, aber das Sterben ist sanft.
Wolzow wiederholte seine Anweisungen und paukte sie Meier ein. "Am besten, wir machen´s gleich heute abend", sagte Meier, "weil du mir da noch helfen kannst!"
Holt hörte nicht hin. Er hatte keine Schmerzen mehr. Die Benommenheit war gewichen. Ein Gefühl der Gelöstheit und der Ruhe überkam ihn. Die Ereignisse des letzten Jahres zogen wie Bilder an ihm vorbei, Ereignisse, die jedes für sich nicht viel mehr als einen Schock, vielleicht sogar nur ein Erschrecken bedeutet hatten, doch nun, da er sie überschaute, waren sie ineinandergeschmiedet wie die Glieder einer Kette, und diese Kette band ihn an das Leben und gab ihn nicht frei.
Es begann mit der Marie Krüger, dachte er. Bis dahin war alles leicht und klar. Als sie mir das von Meißner gesagt hat, da fing es an. Dann, in den Bergen, hat einer erzählt, wie man in der Ukraine Vieh requiriert und einen Bauern samt Familie erschossen hat. Dann Uta: Es ist ja doch alles umsonst! Dann Frau Ziesche und die unbeschreiblich dreckige Arbeit ihres Mannes. Dann Vater:... tötet die SS in den polnischen Konzentrationslagern Hunderttausende... Dann die Russengeschichte in der Batterie. Dann die Nacht in Kutscheras Baracke. Dann Gundels Schicksal. Dann die Slowakin. Dann die Sägemühle.
Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Partisanen zu Tode gefoltert. Ich weiß es. Ich hab versucht, das alles zu vergessen. Immer wenn ich es vergessen hatte, ist etwas Neues geschehen. Es läuft mir nach, es drängt sich mir auf, ich bin mittendrin, ich komm nicht mehr frei. Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muss durch die sieben Höllen. Eher ist nicht Schluss, eher gibt es keine Ruhe, kein Vergessen.
Ich weiß es nicht nur, dachte er, sondern: Etwas davon ist auch in mir. Etwas? Ich mach alles mit. Wenn Böhm befohlen hätte: Erschieß sie!, ich hätte sie erschossen. Wenn der gleiche Befehl morgen wieder kommt... ich würde sie erschießen.
Oh mein Gott!
Aber der sie erschossen hätte, grübelte Holt, der wär nicht ich gewesen. Ich hatte ja Lessers Befehl, in der Nacht, ich hab ihn nicht ausgeführt, ich hab sie laufen lassen, ich hab auch die Russen in Schutz genommen, damals. Der da im Geist schon visiert hat: zwischen den Schultern, etwas links, der bin nicht ich gewesen. Doch wir beide, er und ich, wir werden weitermachen, wie das Gesetz es befiehlt. Geradeaus schauen, irgendwohin, und vorwärts, marsch!
Vielleicht muss das so sein... damit wir endlich wir selbst werden. Vielleicht muss es so sein, dass alles dies erst über uns selbst kommt: Elend, Zerstörung, Qual und Tod, in den Bombennächten, und nun wohl bald überall, im ganzen deutschen Land. Er lag im Dämmerschlaf.
"Wo ist Sepp?" fragte Holt. Wo ist Christian? Was war überhaupt los? Gilbert, wo hast du den Bajonettstich her?"
Wolzow kaute, er sagte mit vollem Munde: "Sepp ist auch hier. Christian? Der wird halt irgendwo rumkrebsen, froh und munter, der überlebt uns alle, den hat der Schmiedling unsterblich gemacht, von wegen 'Leiche'. Ich war mit ihm bis zuletzt zusammen. Ich hätt ihm nie zugetraut, dass der mal so ein eiskalter Hund wird." - "Wie sind wir in den Lastwagen gekommen?" - "Das war so: Die Doppelposten fielen ohne einen Schuss. Schon waren sie im Dorf. Als die Knallerei losging, war ich beim dritten Zug. Wir sind gerannt, was wir konnten. Als wir am Bach waren, da hatten sie im Dorf schon alles überwältigt, nur aus einem Gehöft hat es noch ein bisschen geschossen. Sie haben uns nicht über den Bach gelassen. Wir haben es zweimal versucht, aber sie haben uns zusammengeschossen. Auf der Brücke hab ich auch mein Ding verpasst bekommen, durch den Stiefel. Sind wir also in die Sägemühle, noch einundzwanzig Mann." - "Und der erste Zug?" - "Der hat draußen auf der Wiese gelegen und hat zugeschaut. Wir haben die Mühle verteidigt. Ich hab einen Melder losgeschickt, zum ersten Zug, über die Wiesen, später noch einen, aber keiner ist durchgekommen. Wir haben die ganze Nacht gekämpft. Zweimal waren sie bis im Hof und einmal schon im Korridor, da mussten wir sie mit dem Seitengewehr zurückwerfen, Vetter ganz vorneweg, wie ein Wilder. Wir haben uns geschlagen wie die Berserker, für keinen Kampfauftrag, für keinen Zweck, nur, damit sie uns nicht dort schnappen, wo unten noch die ganze Sauerei herumlag. Das hab ich den Leuten vorher gezeigt. Hier, hab ich gesagt, jetzt wisst ihr, dass ihr bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen müsst! Haben sie auch getan. Aus Angst! Als es hell wurde, haben wir zwar besser gesehen, aber da haben sie uns an den Fenstern abgeschossen, dass man hätte seine helle Freude dran haben können, so gute Schützen waren dort dabei. Bei uns wurde die Munition knapp. Zuletzt waren noch neun Mann kampffähig. Ich hab nur immer überlegt, was ich mach, dass sie mich nicht in der Mühle erwischen. Schließlich kam eine Lastwagenkolonne von Osten den Talweg entlang, da fuhren als Bedeckung drei Schützenpanzer mit, Panzergrenadiere drauf, MGs und eine Zweizentimeter, die haben sämtliche Gehöfte in Klump geschossen und uns aus der Mühle rausgeholt, sozusagen in letzter Minute. Der erste Zug hat unterdessen in den Löchern gelegen und hat es knallen lassen, weil sie keinen Befehl hatten, stell dir so was vor! Als es hell wurde, wollten sie ins Dorf, aber auf dem offnen Gelände ist der Angriff natürlich liegengeblieben. Als die Panzergrenadiere kamen, sind die Partisanen in die Wälder. Es waren höchstens dreißig Mann, aber alles Scharfschützen. Nun hör dir an, was dem Sepp passiert ist. Er ist mit einem Schuss im Arm in das ausgebrannte Gehöft gekrochen und hat sich im Keller versteckt. Uber ihm in der Ruine haben die Partisanen ein MG aufgebaut und zu uns in die Mühle gefunkt. Und die ganze Nacht hindurch haben sie die Hingerichteten, die beim Wirtshaus lagen, in den Keller getragen. Sepp hat sich hinter Gerümpel verkrochen, er ist fast gestorben vor Angst. Dich haben wir am Talweg aufgelesen. Ein Wagen hat die Verwundeten weggebracht, vier sind unterwegs gestorben. Den Rest der Abteilung haben die Panzergrenadiere auf ihren Wagen mitgenommen." Er verschränkte die Hände unter dem Kopf.
Holt lag wieder mit geschlossenen Augen. Sepp bat es also auch überstanden. Ich hab es überstanden. Wozu eigentlich?
Am frühen Abend begann Meier tatsächlich zu simulieren. Wolzow leitete ihn an. Schwester Regine versah den Dienst, wer weiß, wann sie einmal frei hatte. Sie stand an Meiers Bett. "Aber nun strecken Sie doch mal das Bein aus!" - "Nein!" stöhnte Meier. "Da soll es ja noch mehr weh tun!" - "Soso", sagte sie, "da will ich mal den Arzt holen!"
"War´s gut?" fragte Meier. Wolzow rief: "Himmelhohes Rindvieh, du darfst doch nicht sagen, es soll weh tun, du musst sagen, es tut weh! Und wenn er dich abfühlt, dann musst du Au brüllen!"
Der Assistenzarzt, ein noch recht junger Mann mit starken Gläsern in der dunklen Hornbrille, beugte sich über Meiers Bett, wobei er Wolzow den Rücken zuwandte. Er schlug die Decke zurück. Schwester Regine stand neben ihm. "Tut das weh?" - "Überall!" ächzte Meier. Er drehte das Gesicht zu Wolzow hin. Wolzow kniete im Bett und gab Meier Zeichen. Meier verstand nicht. Er hatte offenbar so große Angst, als Simulant entlarvt zu werden, dass er ganz leidend aussah. - "Tut es hier weh?" - "Stöhnen!!" rief Wolzow ungeduldig. Meier stöhnte. Der Arzt drehte sich herum. "Was ist denn mit Ihnen los?" - "...tut der Kerl", sagte Wolzow rasch, "stöhnen tut der, dass einem ganz bange wird!" Der Arzt sagte unwillig: "Sie haben wohl schwache Nerven!" Dann untersuchte er weiter. "Tut das weh?" - "Nein... Au!!" schrie Meier. - "Drehn Sie sich zur Wand!" Meier wälzte sich auf die linke Seite und stöhnte. - "Was ist denn?" - "Es tut... weil es immer mehr, auf dieser Seite", stammelte Meier. - "Einwandfrei", sagte der Arzt zu Schwester Regine, "alles hübsch beisammen, komischerweise keine Abwehrspannung, die fehlt aber öfter mal. Rektal sparen wir uns, es ist einwandfrei." "Und brechen!" sagte Meier zaghaft. "Vorhin, da war mir so übel, und der ganze Bauch tut weh, nicht bloß rechts!"
"Geben Sie ausnahmsweise Dilaudid", sagte der Arzt. "Und früh gleich fertigmachen und in den Opeh, der Chef operiert grundsätzlich nicht im lntermediärstadium, ich seh ihn heut noch und sage Bescheid. Aber vorher brauch ich den Leukozytenwert, lässt sich das machen?"
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, rief Wolzow: "Die Butter! Rasch, friss die Butter auf!" Meier holte mit zitternder Hand eine gelbe Bakelitdose aus dem Nachttisch, fuhr mit zwei Fingern hinein und strich sich die gelbe Butter in den Mund, wieder und wieder. Dann warf er die Dose ins Schubfach und schluckte. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er schluckte, er würgte. "Nicht brechen!" rief Wolzow. "Zwing´s runter!" Meier presste die Hand vor den Mund. Er würgte immer qualvoller. Schwester Regine trat ins Zimmer und machte sofort kehrt, aber als sie mit einer Brechschale zurückkam, da hatte Meier es geschafft und lag schweißnass und erschöpft in seinem Bett. "Geht es jetzt besser?" fragte sie mitleidig. "Warten Sie, ich mach Ihnen erst die Spritze zurecht!"
"Siehst du!" sagte Wolzow triumphierend. "Der August Meier wird operiert! Und dann schön die Wunde eitern lassen, du musst dir den Dreck von deinem Furunkel reinschmieren, das haut hin! Aber jetzt müssen wir unbedingt erst noch zwanzig Minuten vergehen lassen, am besten, ich bring dich solange aufs Klo. Los, Tempo!" Er sprang aus dem Bett. "Kumpel", sagte Meier, "das vergess ich dir nie! Wenn der Krieg aus ist, musst du mich besuchen, du auch, Holt, ich hab ein Stück Acker, da schlacht ich die beste Gans! Es ist zwischen Erfurt und Weimar..." Sie verschwanden durch die Tür, beide im Nachthemd.
Schwester Regine sah erstaunt auf die leeren Betten: "Nanu?" Sie legte die Spritze auf den kleinen Instrumententisch am Fenster, dann stellte sie sich zu Holt ans Fußende des Bettes. Es dunkelte. "Und wie geht´s uns?" fragte sie. - "Danke. Ich hab bis jetzt keine Schmerzen gehabt. Die Tablette war so schön beruhigend." - "Sooo?" sagte sie gedehnt. "Aber das will ich nicht gehört haben, von wegen schön beruhigend, sonst gibt´s nichts mehr, das war Eukodal !" Wie sie an seinem Bett stand, im letzten Tageslicht, erschien sie ihm ganz traumhaft und unirdisch, in der hellen Tracht, mit dem Häubchen auf dem blonden Haar. Er schaute sie an, schweigend, er dachte: Wenn es Gerechtigkeit gibt auf der Welt, dann wird auch hinter ihrem Rücken einmal einer stehen und wird visieren: zwischen den Schultern, etwas links.
"Schwester Regine..." sagte er, "Sie sind doch ein... guter Mensch, bestimmt..." Sie lächelte. "Was soll das?" Er sagte: "Aber es wird über uns alle kommen, auch über Sie." Sie neigte den Kopf, dann setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. "Was reden Sie!"
Er sah an ihr vorbei. Vor seinem Blick verschwammen die Konturen des Fensters in der Dämmerung. "Ein Mädchen... wie Sie", sagte er, "genauso jung, eine Slowakin, auch blond... in der Notwehr hat sie einen von uns totgeschlagen… er wollte sie vergewaltigen. Dafür sollte sie erschossen werden. Wenn ich den Befehl bekommen hätte… dann hätte ich es getan."
"Aber... Sie haben es doch nicht getan", sagte sie leise. "Da können Sie doch ruhig schlafen."
"Ich hab sie sogar laufen lassen", sagte Holt kaum hörbar. "Aber das zählt nicht. Denn ich hab gewusst, dass es nicht rauskommt, sonst hätte ich nicht den Mut gehabt... Was ist das?"
Sie saß lange stumm. Dann sagte sie: "Versuchen Sie doch... zu beten!"
Er antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf. Schicksal, Vorsehung, Gott... Es regte sich in ihm wie Auflehnung: Ich will keinen Gott! Die Menschen müssen daran schuld sein, vielleicht weil sie unvollkommen sind oder wer weiß warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär´s zum Verzweifeln!
Sie stand in einem plötzlichen Entschluss auf und holte die Spritze, nahm seinen Arm und stieß ihm die Nadel unter die Haut.
Er wurde rasch müde. "Ich hab eine Bitte, Schwester Regine. Kann morgen nicht Sepp Gomulka in Meiers Bett?" - "Der Oberarrndurchschuss?" Sie nickte. "Aber nun müssen Sie schlafen." Sie redete beruhigend auf ihn ein. "Es soll ein Lazarettzug durchkommen. Er geht bis ins Reich. Ich will versuchen, dass Sie mitgeschickt werden." Er lag mit geschlossenen Augen. Sie strich ihm mit der Hand über die Stirn. Er hörte im Einschlafen noch die rauhe Stimme Wolzows, der Meier wieder ins Bett steckte.
Am anderen Morgen lag Gomulka tatsächlich am Fenster, das Gesicht mit Pflastern beklebt, den Arm verbunden. Auf Holts Fragen gab er einsilbig Antwort. Wolzow, der hier seit dem Urlaub das erstemal wieder etwas wie gute Laune zeigte, sagte: "Meier ist operiert! Der Chef hat sich das nicht entgehen lassen." Holt döste vor sich hin. Erst am Abend, als die Dämmerung ins Zimmer kroch, erwachte er aus seiner Lethargie. Schwester Regine trat ihren Dienst an und fragte: "Wie steht´s auf der Kinderstation?" Sie kümmerte sich nicht um Wolzows Protest, sie lachte und lehnte sich mit dem Rücken gegen das offene Fenster. Holt fragte: "Was Sie gestern gesagt haben, von einem Lazarettzug, ist es wirklich wahr?" - "Wir erwarten ihn schon morgen", sagte sie. "Sie dürfen mit. Ich hab schon die Unterschrift." - "Aber wenn Sepp und Gilbert... "Ich hab mir´s gedacht. Bei Ihnen, Wolzow, hat der Doktor ein bisschen die Stirn in Falten gezogen, dann hat er aber doch unterschrieben. Ich soll Sie alle in eine Kinderklinik überweisen." Sie lachte abermals. Wolzow knurrte: "Die paar Jahre, die Sie älter sind als wir!"
Gomulka sagte auf einmal von seinem Bett her: "Dass wir hier wegkommen, dass es uns überhaupt wieder so gut geht, das haben wir gar nicht verdient!" - "Verdient?" Wolzow lachte. "Du hast wohl Fieber! Seit wann geht denn so was nach Verdienst? Beziehung braucht man! Diesmal hat der Werner die Beziehungen. Wenn es um Weiber geht..." - "Gilbert !" rief Holt böse. Wolzow fuhr ungerührt fort: "Sieht doch ein Blinder, Schwester, wie der Holt Sie mit Schmus eingewickelt hat!" Sie stützte sich mit beiden Händen rücklings auf das Fensterbrett und lachte, dass ihre Zähne blitzten. "Passt es Ihnen nicht, wenn ich Holt ein bisschen vorzieh? Ich zieh immer einen vor. Er brüllt ja auch nicht so rum wie Sie und ist nett, nicht so ein Landsknecht wie Sie!"
"Mit richtigen Schlafwagen reist ihr", sagte sie am anderen Tag und packte die Sachen zusammen. "Ich wünschte, ich könnte mitkommen, aber ich darf noch nicht weg, erst, wenn meine Zeit herum ist, dann such ich mir daheim in Schwerin was." Als die Krankenträger erschienen, hatte Schwester Regine das Zimmer verlassen. Holt dachte, da er die Treppe hinuntergetragen wurde: Ich hätte ihr gern auf Wiedersehen gesagt...
Er bezog mit Gomulka ein zweibettiges Abteil. Wolzow lag nebenan. Holt hörte ihn durch die dünne Abteilwand schimpfen: "Nimm doch deine Knochen zur Seite, Döskopp!" Das Pflegepersonal war unfreundlich und mürrisch.
Am anderen Morgen erreichten sie Prag. Holt hatte nicht geschlafen, die Schienenstöße bereiteten ihm Schmerzen. Auch Gomulka fühlte sich elend. Zwischen Prag und Dresden hielt der Zug oft und lange auf freier Strecke. Sie brauchten vierundzwanzig Stunden bis Schandau, dort standen die Wagen einen Tag lang auf einem Abstellgleis. Am anderen Morgen erreichte der Zug endlich Dresden. Sanitätskraftwagen brachten sie in ein großes Reservelazarett. Holt, Wolzow und Gomulka lagen wieder Bett an Bett.
Man sah von den Fenstern hinab zur Elbe. Der Lazarettbetrieb erinnerte eher an eine Kaserne als an ein Krankenhaus, Nach wenigen Tagen sagte Wolzow: "Ich hab das satt. Ich meld mich gesund!" Am Nachmittag erhielt er einen Brief von Vetter. Der Rest der Abteilung sei wieder in einem Lager, erzählte er. "Vetter schreibt, er wird voraussichtlich Mitte Oktober entlassen."
Tags darauf stand Wolzow marschfertig an Holts Bett. Es war das erste mal, dass sie sich trennten.
Gomulka sprach kaum noch ein Wort. Er lag in seinem Bett und sah vor sich hin. Dann und wann besuchte ihn sein Onkel, der hier in Dresden als Zahnarzt praktizierte. Holt las in den Hölderlin-Gedichten.
Er gewöhnte sich schwer an das antike Versmaß. Nur wenige der Gedichte erschlossen sich seinem Verständnis. Meist war es nur eine Stimmung, die er nachempfand, eine tiefe Melancholie. Doch Glanz und Wohllaut der Sprache berührten ihn auch dort, wo er die Worte nicht verstand. Es gab Verse, die sich ihm für immer einprägten, die zürnenden Worte des "Jünglings an die klugen Ratgeber" und stärker noch die Elegie "An die Natur". Er las, bis er die Strophen auswendig wusste. Dass der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt: Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden fortgerissen wie ein Vorhang, hinter dem sich das Leben verbirgt. Was bleibt zurück? Das einsame, frierende Ich, dem es gegeben ist‚ auf keiner Stätte zu ruhen.
"Und Siegesboten kommen herab:", las er, "Die Schlacht ist unser!" Das erschütterte ihn. "Lebe droben, o Vaterland, und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen..." Könnte man doch so sprechen! dachte er. Könnte an den Krieg erleben als furchtbare, doch reine und heilige Aufgabe, wie man sich´s einmal erträumte... Wüsste man doch: Es ist gerecht und darum sinnvoll und gut! Denn nicht der Kampf ist unerträglich und furchtbar, nur die Sinnlosigkeit, das Umsonst der Entschlüsse, das Unrecht der Taten... Wolzows Kampf in der Mühle, dies erkannte er nun, war ein Symbol. Sich schlagen ohne Auftrag und Zweck, nur um eine grauenvolle Bluttat zu verbergen. Wer ist schuld, dass wir unsere Kraft, unser Leben, alles, was wir besitzen, hinopfern müssen ohne Sinn, dass wir umsonst und vergeblich kämpfen, nur, um die Nacht über tausend Sägemühlen festzuhalten?
So grübelte er, tagelang.
Er ließ sich in der Lazarettbibliothek Bücher geben und las, was ihm in die Hände geriet, Bücher, die hier herumstanden und nie gelesen wurden: Griechische Kosmogonie von Hesiod zur Orphik, eine Abhandlung über Kants Antinomien der reinen Vernunft, Goethes "Faust" und viele Romane, Bände, die wer weiß wie ins Lazarett gelangt waren.
Als er aufstehen durfte und auch Gomulka das Bett verließ, kamen sie wieder miteinander ins Gespräch. An manchem tönen Oktobertag wanderten sie durch die Anlagen des Krankenhausgartens. Die Sonne wärmte nicht mehr. "Ich überleg mir, wie´s nun weitergeht", sagte Holt. Gomulka hob die Schultern. "Woher soll ich das wissen?"
Rechtsanwalt Gomulka besuchte seinen Sohn. Er übergab Holt einen Brief von Gundel. Dabei sagte er, in einem Ton, als gratuliere er einem Mandanten zum Freispruch: "Was das junge Mädchen betrifft, mein lieber Werner Holt, so sendet sie Ihnen... Eigentlich", unterbrach er sich, "müsste ich es sagen, aber man darf hier wohl das Genus naturalis dem grammatischen Geschlecht vorziehen... sendet sie Ihnen also dies hier mit den allerbesten Wünschen für baldige Genesung. Meine Frau hat recht viel Freude an Gundels gelegentlichen Besuchen." Als er wieder abreiste und sich verabschiedete, beugte er sich zu Holts Bett herab. "Übrigens... Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben. Es ist alles bedacht, in casum casus. Was eventuell den Vormund erwartet, wird keinesfalls das Mündel treffen, dessen versichere ich Sie!"
Holt las Gundels Brief, dankbar, aber auch beschämt. Die Gedanken an Gundel hatten etwas Bedrückendes. Werde ich ihr jemals wieder unter die Augen treten können? Ich darf ihr niemals eingestehen, dass ich geschossen hätte, damals, auf dem Schulhof... Der Gedanke war wie eine Wunde, die nicht heilen will. Und wenn nun so ein Befehl tatsächlich.., und wenn ich ihn ausführe... Dann... Es sprach in ihm: Wie willst du weiterleben, das Kainsmal an der Stirn?
Die Gedanken quälten ihn. Er sagte im Garten zu Gomulka: "Ich muss dich was fragen. Als du auf dem Schulhof hinter dem Hausmeister standst... wenn Böhm dir da befohlen hätte..." Gomulka bewegte ablehnend die Hand. Holt verstummte.
"Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, darüber nachzugrübeln", sagte Gomulka schließlich. "Drück dich nicht!" sagte Holt. "Hättest du ihn erschossen? Ja oder nein!"
"Damals: ja."
"Und heute?"
"Heute...?" Gomulka atmete rasch. "Ich würde auf Böhm schießen! Ich würde um mich schießen! Ich wär ja sowieso hin, wenn ich den Befehl verweiger. Dann soll aber noch jemand mitgehn von dem Gesindel, das uns so etwas befiehlt."
Holt hörte die Stimme der Slowakin im Keller: Schlagt eure Anführer tot! Er fragte atemlos: Würdest du das wirklich tun, Sepp?"
Gomulka schwieg. "Ich möchte", sagte er dann. "Aber... ob ich den Mut habe... Ich weiß nicht..."
"Ob es welche gibt, die so einen Befehl verweigern?" "Ich glaub schon."
Holt rief: "Aber wir müssen doch jeden Befehl ausführen! Das ist doch das oberste Gesetz des Soldaten! Wo käm denn die Wehrmacht hin, wenn wir Befehle verweigern! Befehl ist Befehl!"
Gomulka lächelte. "Wo die Wehrmacht hinkäm? Wo kommt sie denn so hin, Werner! Und was du 'oberstes Gesetz' nennst... Da haben längst alle Gesetze ihre Gültigkeit verloren, nur dieses eine nicht!" Er holte aus der Brusttasche sein kleines Notizbuch und blätterte darin. "Es ist in keinem Kriegsgesetz vorgesehen" las er, " 'dass ein Soldat bei einem schimpflichen Verbrechen dadurch straffrei wird, dass er sich auf seinen Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen Anordnungen in eklatantem Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder internationalen Übung der Kriegsführung stehen.' Wie findest du das?"
"Das?" sagte Holt verwirrt. "Das ist... die Genfer Konvention, nicht?"
Da lachte Gomulka, bitter, verzweifelt. Er rief: "Denk an die Sägemühle! Das hier... das hat Goebbels zu Pfingsten im 'Völkischen Beobachter' geschrieben! Gemeint sind die ameri-kanischen Flieger, die unsere Städte bombardieren."
"Aber.. das ist doch richtig!"
"Und wer bestimmt, was ein 'schimpfliches Verbrechen' ist? Und was ist 'menschliche Moral'? Überhaupt... " höhnte Gomulka, "menschliche Moral, das hätte uns der Ziesche um die Ohren gehauen, Herrenmoral des nordischen Menschen gibt es, sonst nichts!"
Heilloser Wirrwarr! Es fehlt irgendwas, dachte Holt, es fehlt ein Maßstab...! "Ein Maßstab fehlt, Sepp", sagte er, "an dem sich messen lässt, was gerecht und ungerecht ist!"
"Jeder behauptet, recht zu haben", antwortete Gomulk;i "Es kommt auf die Maßstäbe an. Es gibt einen sehr einfachen Maßstab, Ziesches Maßstab: wir Deutsche haben recht, immer, auch in der Mühle, wir dürfen alles."
"Aber so... kann es nicht sein."
"Wenn du auf das hörst, was die... die bei uns sagen", fuhr Gomulka fort, "dann wirst du immer verwirrter, dann weißt du gar nichts mehr. Die drehn alles so, als ob sie recht hätten."
"Der Archimedische Punkt fehlt", sagte Holt.
"Ja... Hast recht. Es muss etwas geben, wo keiner lügen kann. Wo die Tatsachen sprechen. Wo man sagen kann: Sei ruhig, hier ist der Beweis, du hast unrecht, du hast schuld. Der erste Schuss ist es nicht, solche... äußerlichen Tatsachen kann man organisieren, frisieren, verschleiern. Es muss etwas Innewohnendes geben, etwas im Wesen der Welt."
"Nicht vielleicht außer ihr?" fragte Holt.
"Du meinst Gott? So sagen viele. Dauernd wird von Gott geredet, von Vorsehung, Schicksal. Mir passt das nicht. Die Alten, Werner, wo sie etwas nicht wissen, da muss es auf einmal Gott sein."
"Früher war jedes Gewitter Gott", erwiderte Holt, "und die Cholera auch. Mein Vater hat gesagt, da war ich noch ganz klein: Gott ist ein Virus... Das Unerkannte ist Gott, Sepp, solange es unbekannt ist. Die Wissenschaft hat Gott schon den Mantel ausgezogen und wird ihm auch noch das Hemd ausziehen."
"Aber am Krieg soll er schuld sein!" sagte Gomulka. "Nein, das ist ja genauso primitiv wie der 'Weltjude', da kann sich auch jeder darunter vorstellen, was er will." Er versank wieder in Nachdenken. "Bis man´s weiß, muss man sich an das Wenige halten, was eindeutig ist."
"An die Mühle?" sagte Holt leise.
"Ja. Das genügt ja auch." Gomulka hockte trübselig neben Holt auf einer Gartenbank. "Mein Vater", sagte er noch, "derr gibt sich alle Mühe. Aber ich komm so schwer darüber hinweg, dass die Alten uns das alles eingebrockt haben, und wir dürfen es auslöffeln!"
"Und dürfen dran krepieren!" sagte Holt.
Holt erhielt einen Brief von Wolzow. Wolzow saß, vom Arbeitsdienst entlassen, in der öden Villa und spielte mit Vetter Offiziersskat. Seine Mutter, schrieb er, sei nun endgültig in einer Irrenanstalt untergebracht, nachdem sie noch "für eine Offiziersfrau schandbare Dinge" getrieben habe... Der Rest der Klasse sei in die Winde verstreut. Für den 20. Oktober habe er nun die Einberufung zur Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26 erhalten, Vetter desgleichen. Auf dem Wehrbezirkskommando habe er erfahren, dass der gleiche Truppenteil auch auf Holt und Gomulka warte.
Holt erkundigte sich bei der Lazarettverwaltung. Dort lagen schon für ihn und Gomulka die Gestellungsbefehle. In der letzten Oktoberwoche wurden sie entlassen. Die Abteilung hatte ihnen die alten Luftwaffenhelfer-Monturen nachgeschickt. Sie waren laut Entlassungsbefund "k. v. Ersatzreserve 1" geblieben. Genesungsurlaub, wie sie erhofft hatten, gab es nicht. Mit einem Personenzug fuhren sie von Dresden ostwärts.
Ein riesiges Kasernengelände nahm sie auf. Sie fragten sich durch ein halbes Dutzend Schreibstuben zur Stabskompanie durch. "Jetzt ist Mittag. Melden Sie sich nach zwei bei Leutnant Wehnert. Raus!" Auf einem Korridor kam ihnen Wolzow entgegen, groß, finster, im Drillich, ein gefülltes Kochgeschirr in der Hand.
Er freute sich. "Ich hab bestens vorgesorgt. Dem Revetcki hab ich gesagt, wenn er die beste Korporalschaft haben will, dann muss er unbedingt für euch Platz halten. Hat er gemacht. Revetcki ist unser Unteroffizier. Ein Urvieh, halb Wildschwein halb Kasperle. Der Peter Wiese ist auch hier, den haben sie k. v. geschrieben! Er hängt an allen Ecken und ist für die Ausbilder der Fußabstreicher. Vetter ist natürlich auch dabei. Sind die alten Krieger wieder schön beisammen!"
Draußen heulte es: "Woooolzow!" - "Das ist er! Mal sehn, was er will. Bin wieder so eine Art Adjutant. Unser Zugführer heißt Wehnert, Leutnant, ganz junger Kerl, von der Napola, leidenschaftlicher Soldat. Mal sehn, was Revetdci will."
Holt sah sich in der Stube um und belegte eins der beiden leeren Betten. Von dem darunterliegenden Strohsack erhob sich ein baumlanger Mensch. "Stabsgefreiter Kindchen", sagte er. "Könnt 'du' zu mir sagen. Bloß wenn ich mal dienstlich werden muss, dann lieber 'Sie'. Bin hier Stubenältester. Außerdem Schießunteroffizier." Er gab ihnen die Hand. "Ich hab ausgesorgt", erzählte er in leicht sächsischer Mundart, "wunderbar steifes Knie, hält ewig, g. v. H. bis ans Ende dieser Welt! Bin seit achtunddreißig Soldat." Er setzte sich wieder auf sein Bett, dabei musste er den Rücken krumm machen, so groß war er. "Bin Fabrikbesitzer, ich mach feine Andenken, herrliche Sachen, kleine Schweine mit 'viel Glück' und Steirerbuam mit 'Gruß von der Bastei', auch Gartenzwerge. Unser Kommandeur, Major Reichert, diese Sau, der ist Vertreter! Passt mal auf! Nach dem Krieg wird´s bei mir klingeln. Ich sitz grad beim Frühstück. Wird meine Frau sagen: 'Fritzel, da ist ein Herr Reichert!' Nehm ich die Tasse. Trink. Gähn. 'Soll warten!' sag ich dann. Das wird herrlich!"
Holt warf den Rucksack aufs Bett. Es geht weiter, dachte er.
Holt war Rekrut. Er nannte sich Panzerschütze "Panzerschütze Holt!" Er sang, ein MG über der Schulter, mit rasselnden Stimmbändern: "Fern-bei-Se-dang! Auf-den-Höööö-hen! Stand-ein-Pan-zer-schüüüü-tze-auf-der-Wacht!" Alles Bisherige war Spiel gewesen, Vorspiel, bloßer Auftakt der militärischen Ausbildung. Nur selten noch dachte er nach. Die Ausbildung war anstrengend, das Leben unmenschlich hart. Aber der Panzerschütze Holt wünschte sich nicht mehr fort aus dieser riesigen Kaserne, obwohl er sie wie ein Zuchthaus verfluchte, aus der Nähe der Vorgesetzten, obwohl er sie verabscheute. Er schickte sich in alles, in Drill und Dienst und Schikane. Denn er hatte gelernt: Es wird immer noch schlimmer, als es war. Diesmal stand die Front bevor, das Inferno der Durchbruchsschlachten im Osten. Die 11. Panzerdivision, für die man hier Ersatz ausbildete, gehörte zum Ostheer. Und im Osten erbebte in diesen Wochen das Reich. Also: wünsch dir nicht, dass es ans Rucksackpacken gehe!
Holt wurde als Panzerfunker ausgebildet. Sie durchjagten ein umfassendes Ausbildungsprogramm Funkgeräte, Ultrakurzwellen- und Mitteiwellensender, -empfänger. Funktion, Bedienung des Gerätes, Abstimmen, Frequenzwechsel, Sprech- und Tastfunk, Pflege und Wartung, Störungen. Täglich zwei Stunden Morsen. Man zog des Nachmittags mit einem zweirädrigen Karren los, worauf die Funkgeräte montiert waren, zog auf die umliegenden Dörfer und suchte sich dort einen windgeschützten Fleck, hinter einer Feldscheune oder auf dem Hof eines Bauern. Dann ging es los. Funksprechverkehr. Kaum hatte man ein warmes Plätzchen gefunden, schon trieb der Befehl die Bedienung des Karrens wieder hinaus, die Chaussee entlang, über die der Novembersturm pfiff.
An den Abenden paukte man Q-Gruppen, wie einst in der Schule Vokabeln. QZL hieß "Spruch hat keinen Sinn", Merkhilfe: "Quatsch zum Lachen". Man sagte nicht mehr: "Wie spät?" Man fragte: "QTR", "erbitte Uhrzeit!" Man lernte den Gebrauch der Funk- und Schlüsseltafel und des Rasterschlüssels.
Ausbildung am Panzer, an veralteten, nicht mehr einsatzfähigen Wagen, die aus Benzinmangel nie die Fahrzeughalle verließen, an dem dreiundzwanzig Tonnen schweren Panzer III. Aus- und Einsteigen, Ausbooten nach Treffern, Ein- und Ausbau der Funkgeräte, Funker-MG und Turmwaffen, Richt- und Ladeübungen an der Kanone. Einen fahrenden Panzer, von den klapprigen, turmlosen Gestellen der Fahrschule abgesehen, auf denen hinten klobige Holzgasgeneratoren montiert waren, sah Holt in all den Wochen nur ein einziges Mal. Das war, als sie "Panzerüberrollen" übten, in einem kleinen Erdloch, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Karabiner zwischen den Knien. Die breite Kette des Panzers rollte über das Loch, deckte es zu, drückte Sand und Erde hinein, gab es wieder frei. Holt tauchte aus dem Erdreich, Sand in den Augen, und er musste nun nach Befehl hinten auf den abfahrenden Panzer springen... Dann Waffendienst. Karabiner, Gewehrgranatgerät, die Maschinengewehre 34 und 42, die Pistolen 08 und 38, Maschinenpistole, Sturmgewehr 44, Stiel- und Eierhandgranate, geballte und gestreckte Ladungen, Kriegsmittel zur Panzerbekämpfung, Nebelkerze, Tellermine, Hafthohlladung, Panzerschreck und Panzerfaust. Am strapaziösesten war die Infanterieausbildung. Nachtorientierungsmärsche, tagelange Quälereien im Zielgarten, gefechtsmäßiges Scharfschießen, Dreieckszielen, Panzernahbekämpfung, Kriegsspiel Gruppe gegen Gruppe, wobei man die Platzpatronenvorräte des Stabsgefreiten Kindchen verknallen durfte, auf freiem Feld oder zu nachtschlafener Zeit in der Stadt, wo die Einwohner ängstlich durch die verdunkelten Fenster lugten. Nahkampfausbildung, Bajonettfechten, Infanteriespaten als Waffe, Haltung des Gewehrkolbens beim Schlag, die Handgranate als Schlagwaffe, MG-Schießen aus dem Lauf, die eine Hand am Zweibein, die andere am Abzug. Man schrie dabei aus Leibeskräften "Hurra!". Gasausbildung, Gasplane, Entgiften, Filterwechsel, Erste Hilfe. Und außerdem Unterricht über zwei Dutzend Themen, Spionageabwehr, Geschlechtskrankheiten, Panzererkennungsdienst, Taktik des Panzerkampfes am Sandkasten.
Vierzehn Stunden täglichen Dienstes! Eins, in diesem Winter des Jahres 1944, gab es nicht mehr: Exerzieren, Kasernenhofdrill. Die Ausbildungszeiten waren immer wieder verkürzt worden, und der Drill war in potenzierter Form in der Infanterieausbildung enthalten. Zwei Stunden im Zielgarten waren sechs Stunden Ordnungsdienst auf dem Kasernenhof wert. Aber es gab keine Gewehrgriffe mehr, keine Ordnungsübungen, nur ein paar Wendungen, ein wenig Marschieren und Grüßen.
Sobald das Kasernengebäude verlassen wurde, war "kriegsmäßiges Verhalten" vorgeschrieben. Der riesige, mehrere Hektar große Kasernenhof war gesprengt und in ein künstliches Trichterfeld verwandelt worden, in dessen Mitte wie ein drohendes Gespenst ein hundertmal ausgebrannter T 34 stand, ein grauenvolles Wrack, an dem man mit Nebelkerzen und Übungspanzerfäusten ausgebildet wurde. Wer aufrecht aus der Kasernentür trat, verfiel der Rache der Unteroffiziere. Selbst beim Essenholen setzte man mit dem leeren oder gefüllten Kochgeschirr gebückt und sprungweise durch die Trichter.
Die Ausbilder brauchten kein Exerzieren, um die Rekruten "sauer zu machen", wie der Fachausdruck hieß; man konnte ihnen beim Infanteriedienst "zeigen, was Preußengeist ist", "die Gedärme rausleiern", "das Gehirn ausschaben", "die Seele verdorren". Der UvD sorgte dafür, dass es in den Stuben nicht zu gemütlich zuging und warf das Bettzeug nicht nur in der Stube umher, sondern auch aus dem Fenster, zwei Stockwerke tief hinab. Er kippte mit Vorliebe Spinde nach vorn ins Zimmer. Man erlebte nachts den "Maskenball", es gab das Scheuern des Korridors mit Hand- oder Zahnbürsten, schamlose Inspektionen bestimmter Körperteile, und es gab Gewehrappelle, die Samstag am Abend begannen und Sonntag am Abend endeten.
Holt ertrug es stumm, auch Gomulka schwieg zu allem. Vetter stumpfte immer mehr ab. Wolzow nahm das alles als "Training für die Front", wo es "weit ungemütlicher" zugehe. Der kleine, schwächliche Peter Wiese aber verfiel körperlich und zerbrach. Wolzow sagte ungerührt zu Holt: "Er geht drauf, so oder so. Nur die Starken bestehen die Probe."
Holt sah oft auf den schmächtigen Jungen. Er dachte: Drei Monate Ausbildung, noch acht Wochen, noch vier Wochen... Also hat er noch zwei Monate, noch einen Monat zu leben. Wiese träumte vom Konservatorium. "Ich bin nun doch fest entschlossen, Pianist zu werden! Vor allem Chopin und Rubinstein möchte ich spielen... Ja, Rubinstein hab ich erst im letzten Jahr entdeckt. Ich weiß nicht, was mir an ihm so gefällt. Vielleicht, weil er in seinen Jugendwerken so ein… Temperament hat, das mir selbst fehlt... Oder der Bal costume, das müsste ich dir vorspielen, es ist unbeschreiblich! Du hast recht, eigentlich liegt mir Schumann viel mehr, ich hab ihn leidenschaftlich gern gespielt, aber er liegt mir eben zu sehr, bei ihm verlier ich mich."
"Da komm ich später in deine Konzerte", sagte Holt. Wiese sah auf die Uhr. "Ich muss Revetcki und Boek die Schuhe putzen."
Die beiden Gruppenführer des Ausbildungszuges waren der Schrecken der Rekruten. Unteroffizier Revetcki nannte sich einen "preußischen Korporal". Wolzows Formel: "Urvieh, halb Wildschwein, halb Kasperle", war zu einfach. Revetcki war unberechenbar, herzlos, gemein, manchmal affektiert und albern, dann wieder roh und stumpf, gleichzeitig brutal und triefend von Sentimentalität, heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders. Er war wortgewandt und flüsterte in wohlgesetzter Rede, dann wieder brüllte er, wüst und in schamlosen Ausdrücken. Er war von Beruf Schauspieler. Er spielte immer Theater, und wie er wirklich war, wusste keiner. Peter Wiese zitterte vor ihm, Holt nannte ihn einen Wahnsinnigen, Gomulka sagte: "Er ist pervers!"
Er war Ende der Dreißig, klein, nur etwa einen Meter und sechzig groß, von zierlichem Wuchs. Er pflegte sorgfältig seine schlanken Hände und parfümierte sich. Sein Gesicht war zerknittert, verfältelt; in der Mitte, über einem hölzernen, roten Mund, hing eine gurkenförmige Nase herab. Er konnte dieses Gesicht zusammenfalten wie eine auf Leinwand aufgezogene Landkarte, er konnte es strahlend ausbreiten wie ein frischgewaschenes Laken. Aber sein Blick blieb kalt und böse. Das Register seiner mimischen Verwandlungsmöglichkeiten war endlos. Er sprach abwechselnd in Jamben, gereimt und im übelsten Kasernenhofton. Sein Haarschnitt, eine lange, dauergewellte Mähne, widersprach allen militärischen Sitten, und auf diesem Bubikopf thronte das Schiffchen unter der Feldmütze quoll die Lockenpracht rings hervor. Es blieb ein Rätsel, wie er diese Haartracht zu bewahren verstand. Vieles war rätselhaft an ihm.
Holt hatte ihn am ersten Tage kennengelernt. Er war noch keine halbe Stunde da und räumte seinen Spind ein, als sich die Tür öffnete und ein Männchen in die Stube trat, das Holt am liebsten für ein altes Weib gehalten hätte. Aber die Schulterklappen eines Unteroffiziers ließen ihn Haltung annehmen und brüllen: "Panzerschütze Holt meldet sich zum Dienst!" Der Unteroffizier hielt ein dünnes Rohrstöckchen in den gepflegten Händen. "Unteroffizier Revetcki", sagte er und lächelte honigsüß. "Angenehm. Für mich! Ich bin Ihr Korporal." Er deutete ringsum. "Beim Eintritt hier lasst alle Hoffnung fahren!" Er drehte das Stöckchen in den Händen. "Dies ist mein Korporalstock, bei mir wird noch geprügelt." Dann nickte er wohlgefällig mit dem Kopf. Er ging zweimal im Kreis um Holt herum und klopfte dabei mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Knobelbecher. "Ein schmucker Rekrut", sagte er sanft, "ein hübscher Rekrut, ei, welche Augenweide!" Dann stand er wieder vor Holt, seine zerknitterten Gesichtszüge ordneten sich, er flüsterte mit einem drohenden Unterton: "Jetzt halten Sie mich doch nicht etwa für einen Urning?" Er schüttelte sich vor Ekel. "Für homosexuell?" - "Nein, Herr Unteroffizier!" brüllte Holt. Revetcki nickte. "Oh welches Glück, dass mich ein Menschenherz begreift!" deklamierte er mit hochgezogenen Brauen. Sein Gesicht war wieder Wüst zerknittert. Mit dem Stöckchen deutete er auf Wolzow. "Der Wolzow weiß, dass ich heterosexuell bin. Er kennt meine Alte, diese Toppsau, die mir das Mark aussaugt!" Sein Gesicht verklärte sich.
Holt glaubte zu träumen. Revetcki hüstelte. "Weitermachen!" Dann ging er zur Tür. "Wenn Sie mit Ihren Mistsachen die Stube verdrecken!" schrie er plötzlich, und flötete: "Darin bin ich komisch!", und schrie: "Wenn ich nachher die Stube inspiziere und finde Staub, dann sehen Sie keine Betten mehr, dann sehen Sie keine Spinde mehr, dann sehen Sie keine Tische mehr, dann sehen Sie keine Stühle mehr, dann sehen Sie nur noch herumwirbelnde Hölzer!"
Das war Revetcki. Er war nicht immer so harmlos. Er war tückisch: "Gomulka, Sie hinterlistiges Dreckstück, Ihre Gedanken möcht ich lesen, Ihre Maske möcht ich herunterreißen, das müsste mir Wollust sein, Sie zu entlarven, Sie verkappter Meuterer! Aber warten Sie, ich schreib Ihnen eine Beurteilung, dass Sie in der Strafkompanie enden!" Er war gemein: "Wiese, Muttersöhnchen, lasches Knäblein, puh, wann schreiben Sie an Ihre Mammi... aber ehrlich! So, heute Abend? Das werd ich Ihnen vermanschen!" Und am Abend nach Dienstsch1uss: "Wiese, den Brief an Ihr Mütterlein bekommen Sie nie fertig! Los, mein Drillich waschen!" Und, so unglaublich das war, er prügelte! Jemand gab beim Unterricht eine falsche Antwort, Revetcki tobte, plötzlich wurde er sanft. "Heute abend, mein Guter, da hol ich Sie zu einem kleinen Privatschliff, der Himmel erbarme sich Ihrer! Und wenn Ihnen das Bauchfell platzt!" Er stellte sich vor das eingeschüchterte Opfer und flötete: "Früher... lang ist´s her, in längst verschollnen Zeiten... da war es einfacher, da wurde körperlich gezüchtigt! Mir ist das verboten, da werde ich eingesperrt. Es sei denn, Sie bitten mich, dass ich Sie aus Barmherzigkeit und Spaß verdresche!" Meist hieß es sogleich: "Ich bitte darum, Herr Unteroffizier!" Revetcki schrie: "Sie haben es alle gehört! Er wünscht es, und es ist Spaß!" Dann hieb er mit der Gerte los, auf die Hände, ein böses Funkeln in den Augen, und sagte mit verzerrtem Mund "Du willst es? Gut, dann hau dich dich mit meinem Stecken fürchterlich!"
"Das glaubt uns später kein Mensch!" sagte Holt zu Gomulka. Gomulka nahm Holt beiseite. "Revetcki war erst Hilfsausbilder bei der Genesenenkompanie. Du weißt ja, die Leute aus den Lazaretten werden ganz schön geschliffen. Dort hat er einen alten Fronthasen zu Tode gehetzt. Der wollte sich krank melden, weil er vor Leibschmerzen kaum noch geradestehen konnte. Revetcki hat ihn deshalb durch den Zielgarten gejagt, bis er zusammenbrach. Aber da war die akute Blinddarmentzündung schon in die Bauchhöhle durchgebrochen, und die Operation kam bei diesen Ärzten hier viel zu spät. In der Genesenenkompanie hagelte es Beschwerden. Revetcki wurde zwangsversetzt. Nicht an die Front, nein, zu uns." - "Woher weißt du so was" fragte Holt. Gomulka wich aus. "Erkundige dich. Ich sage dir, er ist pervers, er ist ein Sadist. So was brau-chen die hier."
Neben Revetckj sank das Zerrbild des Unterfeldmeisters Böhm samt allen Geschreis in der Erinnerung zu völliger Bedeutungslosigkeit herab. Neben Revetcki konnte sich Unteroffizier Boek, der zweite Gruppenführer, ein Theologiestudent, nur gelegentlich seiner schrecklichen Jähzornausbrüche rühmen, annähernd so gehasst und gefürchtet zu sein. Zwei Gefreite, die als Hilfsausbilder tätig waren, gaben nur die Kulisse für die Auftritte Revetckis ab. Revetcki war zudem der Scharfrichter des Zugführers. Der geschniegelte Leutnant war kein Rekrutenschleifer. Er sagte, wenn er auch vor Wut kochte, leise und beherrscht: "Ich mach mir doch an euch nicht die Finger schmutzig! Revetcki, nehmen Sie diese fünf Mann! Machen Sie die Leute fertig! Bis zum Zusammenbrechen!" Revetcki führte die Delinquenten in ein schweres Gelände beim Zielgarten, wo es Gräben, Hecken, Hohlwege und Hügel gab, oder auf das Trichterfeld des Kasernenhofes, spitzte.die Lippen und flötete: "Dies sind die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, Prediger zwölf, Vers eins." Dann wanderte er langsam über den Acker, die Hände mit dem Stöckchen auf dem Rücken, und ließ seine Opfer im Laufschritt um sich herumlaufen und ließ sie unter der Gasmaske brüllen: "Zicke-zacke-zicke-zacke-hei-hei-hei!", bis ihnen der Atem verging. Revetcki hatte es dabei nicht eilig, er wusste, dass unter der Maske bei genügender Bewegung jedem die Luft knapp wurde. Es gab körperliche Zusammenbrüche. Holt sagte nach einer solchen "Sonderbehandlung": "Es ist das gemeinste, das es gibt!" Der Leutnant aber pflegte zu sagen: "Den Kerlen zittern ja bloß ein bisschen die Knie! Revetcki, machen Sie die Brüder doch gleich noch mal fertig, sonst denken die, hier ist ein Sanatorium!"
Das ärgste an Revetcki war, dass er die Rekruten zu erniedrigenden Schaustellungen missbrauchte. Das bekam Holt zu spüren. Ein zeitiger Winter mit viel Schnee und harten Frösten brach herein. In der Schneewüste des Zielgartens, draußen, zwischen den Hügeln, wurden die fünf Stunden Infanterie-dienst zu einer Strapaze. Eines Tages zogen sie wieder zu dem berüchtigten Übungsgelände hinaus. Holt marschierte an der Spitze des Zuges, ein MG über der Schulter, Vetter war Schütze 2 und schleppte ein paar mit Platzpatronen gefüllte Munitionskästen Dann lagen sie hinter dem MG im Schnee. Holt sah in der Nähe die bullige Gestalt des Oberfeldwebels Burgkert, in einem verdreckten Fahrermantel; er trieb sich mal hier, mal da herum, man sah ihn gelegentlich mit einem Waffenrock voller Orden, man wusste nichts von ihm, als dass er der Liebling des Abteilungskommandeurs sei und etwas wie Narrenfreiheit genieße. Er sah verkommen aus und bewegte sich stets in einer Wolke von Schnapsdunst. Jetzt stand er bewegungslos auf der Anhöhe, wo sie am zugigsten war, und schneite ein; schon reichte ihm die Schneewehe bis an die Knie. Holt blickte auf ihn. Er überhörte einen Befehl Revetckis. Revetcki sprang zu ihm hin. "Laufwechsel!" Er stoppte die Zeit. "Fünf Sekunden!" Holts Hände waren klamm vor Kälte. "Zehn Sekunden... Fünfzehn..." - "Fertig!" rief Holt. "Schlecht, sauschlecht, hundsmiserabel!" schrie Revetcki. "Unfähig, faul, träge, minderwertig! Schwein, Dreckschwein, Wildschwein, es hat eine Sekunde zu lange gedauert!" Holt rührte sich nicht. "Jetzt schleif ich dich zum Krüppel! Los, aufstehen!" Holt erhob sich. Revetcki umkreiste Holt zweimal. Dabei schlug er mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Stiefel. "Ich weiß was Besseres! Sie werden den Himmel darum bitten, dass mir im Kriege kein Leides geschehe! Sie werden täglich für mich beten! Sie melden sich mit Vetter heute abend bei mir."
Boek feixte.
"Und Vetter, Sie beten anschließend mohammedanisch", befahl Revetcki, "falls Allah größer als Jehova ist!"
Holt besann sich nicht länger und sagte, was ihm gerade in den Sinn kam: "Ich bin klein, mein Herz ist rein…"
Revetcki schrie schon los: "Wahnsinniger! Irrsinniger! Schwachsinniger! Nennt Er das ein Nachtgebet für einen preußischen Korporal?" Er äffte nach: "Ich bin klein... Will Er seinen Korporal wegen seines geringen Wuchses verhöhnen?"
"Nein, Herr Unteroffizier!"
"Ab!" schrie Revetdci. "In einer halben Stunde wieder hier! Mit einem ordentlichen Gebet! Es muss zwei Teile haben! Der erste Teil muss traurig sein, dass ich an meine vielliebe Mutter denken und weinen kann! Der zweite Teil muss kernig sein, wie dies für einen Soldaten sich geziemt! Los, ab!"
Holt sagte draußen zu Vetter: "Er ist geisteskrank! Er ist ein geisteskranker Narr!" - "Ach wo", sagte Vetter, "der hat bloß seinen Jux mit uns, weil wir doch alles tun müssen!"
In der Stube berieten sie. Die Anteilnahme war groß, denn schon morgen konnte es jeden anderen treffen. Das Problem wurde mit Kindchens Hilfe gelöst. "Drei Zigaretten, und ich mach´s! Ich kann dichten, ich hab schon als Junge Festzeitungen geliefert, Hochzeitsgedichte und so!" Er nahm Papier und Bleistift. "Zwei Teile? Erst ernst, dann kernig?" Er schrieb. Er fragte: "Was reimt sich denn gleich auf Furz?" - "Sturz!" rief Wolzow. "Kurz!" schrie es aus einer Ecke. Kindchen war rasch fertig, las vor und erntete Beifall. Holt prägte sich die zusammengereimten Zeilen ein. Kindchen witterte ein Geschäft. "Wenn er jeden Abend so ein Gedicht haben will, und ihr bestellt sie bei mir wochenweise, dann geb ich bei sieben Stück dreißig Prozent Rabatt, sagen wir: fünfzehn Zigaretten die Woche."
Holt und Vetter meldeten sich wieder bei Revetcki. "Der Abend sinkt", begann Holt, "die Sterne scheinen, der Mond am Himmel leuchtet mild." Revetckjs Gesicht verklärte sich. Holt fuhr fort: "Die Mütter in der Heimat weinen an ihrer, Söhne trautem Bild." - "Schön!" flüsterte Revetcki. "Oh so schön!" Holt überlegte verzweifelt, wie es weitergehe. "Fern tönt des Glöckchens süß Gebimmel. Der Herr verhüte deinen Sturz." Revetckis Augenbrauen zuckten. Holt vollendete: "Ruh sanft. Es schenke dir der Himmel gesunden Schlaf und guten Furz!"
Unteroffizier Boek schlug ein brüllendes Gelächter an. Revetcki schrie: "Vetter! Auf die Knie! Das Gesicht gen Mekka! Los, heulen Sie wie ein Derwisch: Allah il Allah!" Vetter zeterte mit erhobenen Armen: "Aaalah il Aaalah!"
Holt sah abwechselnd auf Revetckj, dessen Gesicht eine unbekannte Begeisterung ausstrahlte, auf Vetter, der einen kläglichen Anblick bot, und auf Boek, der vor Lachen zu bersten drohte, beide Hände zwischen die Schenkel presste und schrie: "Hilfe, ich... schiff mir.., in die Hose!"
Holt sagte nachher zu Wolzow: "Ich soll jeden Abend kommen. Muss ich das?" - "Musst du nicht", sagte Wolzow. "Beschwer dich, du wirst todsicher recht bekommen. Aber überleg dir das hundertmal. Die Ausbilder sehen dann einen Spielverderber in dir." Holt beschwerte sich nicht, obwohl er sich deshalb verachtete. Revetcki führte diese abendlichen Szenen dem Unteroffizierkorps der Stabskompanie vor. Kindchen lieferte Gebete, die am Anfang immer mehr von Sentimentalität trieften und deren Pointen immer lasziver wurden. Dann hatte Revetcki die Sache satt und erklärte, weiter ein "gottlos lüderliches Leben" führen zu wollen.
Der Stabsgefreite Kindchen sagte: "Du hast doch Abitur, Holt. Da musst du nach dem Krieg Kritiker werden! Da gehst du in die Stadt, wo der Revetcki am Theater ist, und schreibst in der Zeitung: 'Der Statist Alois Revetcki, dieser mittelmäßige Komparse, verfügt nicht annähernd über die notwendigen Gestaltungsmittel, eine Rolle mit Leben zu erfüllen.' Dann gibst du ihm den Rest: 'Revetcki erwies sich wieder einmal als äußerst zweifelhafte Errungenschaft, auf die der Herr Intendant hätte verzichten müssen!' Sieh mal, ich hab eine kleine Fabrik, und unser Alter, der Reichert, also der hat mich mal ganz hundsgemein schleifen lassen. Von Beruf ist er Vertreter. Und nach dem Krieg..." Und wieder einmal erzählte er, wie er sich nach dem Krieg am Kommandeur rächen wolle.
Der Führer des Ausbildungszuges, Leutnant Wehnert, war einundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, blond und blauäugig. Seine schwarze Uniform mit den silbernen Totenköpfen auf den Spiegeln war immer peinlich sauber und gebügelt. Wehnert sprach oft über sich selbst,: "Ich bin Soldat durch und durch!" Oder: "Ich bin ein politischer Soldat... Wir glühenden Nationalsozialisten", sagte er, "kennen nur ein Gesetz: die Treue zum Führer!" Er sprach gern und oft. "Das deutsche Volk hat den wertvollsten Zug seines Wesens, die nordische Treue, für das Linsengericht des welschen Humanismus hingegeben. Der Führer macht diesen verderblichen Tausch rückgängig. Es muss wieder gelten: Unsere Ehre heißt Treue! Das nenne ich deutsche Wiedergeburt." Er sprach nicht nur gern, er sprach auch fließend. Er zitierte oft "Mein Kampf" und noch öfter Rosenbergs "Mythos". Er war NSF-Offizier. Mit Leidenschaft hielt er "wehrpolitischen Führungsunterricht". Wehnert, fand Holt, ließ sich mit Ziesche vergleichen. "Vergesst nie die strahlende Mission, die wir Deutschen erfüllen!" sagte er. "Seit zwei Jahrtausenden sehnt sich die Menschheit nach Erlösung. Die Welt wartet auf den Heiland. Wir, Volk der Deutschen, sind der Heiland. Aber wir lassen uns nicht, wie jener falsche Erlöser, ans Kreuz schlagen. Wir schlagen die anderen ans Kreuz. Unser Evangelium heißt Macht."
Zu den Rekruten pflegte er zu sagen: "Panzerschütze Reimann! Sie sind nur ein Stück Dreck! Sie werden die Gnade nie begreifen, in dieser Zeit leben zu dürfen. Niemals wird die Erleuchtung über Sie kommen, welche Ehre es ist, für Adolf Hitler zu sterben. Sie leben stur dahin, fressen, saufen. Sie sind Dünger für den Acker, den wir Nationalsozialisten mit dem Schwert pflügen, damit das Reich wachse und gedeihe."
Er hatte zwei Steckenpferde: Vorträge über Themen wie" Der Held und die Geschichte", "Das Deutschtum und der heldische Gedanke" und Kriegsspiele am Sandkasten. Er führte eine Reihe von Liedern ein, die von der SS gesungen wurden: "Kamerad, wo bist du", lautete das eine, es kam etwas von einer "kleinen Freundin" darin vor. Peter Wiese sagte zu Holt: "Die Sentimentalität dieser Lieder ist verlogen!" Holt war das gleichgültig. Er schrie, was die Lungen hergaben, denn wenn der Gesang klappte, ließ man sie in Ruhe marschieren. Das war das wichtigste.
An der Front war Leutnant Wehnert nur kurze Zeit gewesen, ein paar Wochen in Frankreich. Wolzow sagte: "Reden kann er sehr schön. Mal sehn, was an der Front aus seinem 'heldischen Gedanken' wird. Was er sagt, unterschreib ich. Er könnte mein Ideal sein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, er trägt eine Maske, und in Wirklichkeit... Also abwarten!" Einmal gerieten sie aneinander. Wolzow prahlte mit seinen militärischen Kenntnissen. Wehnert rief: "Sie sind ein Angeber, Wolzow! Ich habe schon manchen großmäuligen Feigling gekannt."
Wolzow sagte am Abend: "Großmäuliger Feigling... Das lass ich mir nicht bieten!" Wenige Tage später war im Zielgarten das erste Werfen mit scharfen Handgranaten. In der Deckung eines Gebüsches händigte Revetcki Holt eine Stiel- und eine Eierhandgranate aus. Holt musste sie schärfen, dann steckte er die Stielhandgranate durchs Koppel und kroch über das Feld zu dem Schützenloch hin, wo Leutnant Wehnert wartete.
Der Leutnant, in dem engen Loch dicht an Holts Seite, erklärte noch einmal: "Es wird nicht gezählt! Es wird abgerissen und geworfen." Etwa zwanzig Meter vor dem Loch war ein Pfahl als Ziel in die Erde gerammt. "Los!" Holt schraubte den Stiel auf, die Schnur mit dem Porzellanknopf fiel in seine Hand. Er riss ab und warf. Leutnant und Rekrut duckten sich tief ins Loch, die Druckwelle der Detonation fegte über sie hin. Holt warf auch die Eierhandgranate.
Wolzow saß inmitten der Gruppe im Gebüsch und wartete. Er schwang wie üblich große Reden. "Die Wirkung einer Handgranate ist gering", sagte er. "Es handelt sich vor allem um eine moralische Wirkung." - "Sie sollen heute noch verspüren", deklamierte Revetcki, "wie tief moralisch mein Privatschliff wirkt!" Wolzow schwieg. Los, ab!" befahl Revetcki.
Wolzow kroch ins Loch, wo Wehnert wieder seinen Spruch aufsagte: "Es wird nicht gezählt, es wird abgerissen und geworfen." - "Jawohl", sagte Wolzow. Dann warf er die Stielhandgranate. Als er sich die Eierhandgranate zurechtmachte, fragte er: "Ich bin doch recht unterrichtet: der Zünder brennt fünf Sekunden?" - "Quatschen Sie nicht. Werfen Sie!"
Wolzow schob umständlich den Ärmel des Mantels und der Feldbluse hoch, legte das Zifferblatt seiner Armbanduhr frei, sah den Leutnant an und riss den Zünder ab. Dann hielt er die Eierhandgranate in der Faust und blickte auf die Uhr. "Noch vier Sekunden... " - "Wolzow!" schrie der Leutnant in Todesangst. - "Noch zwei Sekunden... noch eine..." Der Leutnant sank zusammen, grau im Gesicht. "Weg!" schrie Wolzow und schleuderte die Eierhandgranate von sich, sie detonierte in der Luft, Sand peitschte ins Loch.
Wehnert zitterte. Auch Wolzow zitterte nun. "Herr Leutnant, eh Sie mich das nächste Mal 'großmäuligen Feigling' schimpfen, da sehn Sie sich meine Ahnentafel an."
Nur Holt und Gomulka erfuhren von dieser Begebenheit. Wolzow sagte: "Nun muss ich abwarten, ob er Tatbericht einreicht." - "Warum forderst du ihn so heraus?" fragte Holt. - "Das verstehst du nicht. Von Wehnerts Beurteilung hängt meine Offizierslaufbahn ab. Ich muss schnell Unteroffizier werden. Entweder er macht mich jetzt fertig, oder... Ich glaub, ich hab ihm imponiert." Er nahm Holt beiseite: "Wie ihm in dem Loch das Zittern gekommen ist... Jetzt bin ich sicher. Alles Fassade! Der macht sich was vor, der redet sich was ein, weil er Angst hat! Der Wehnert fällt um!"
Holt antwortete nicht. Er sprach mit Wolzow eigentlich nur noch über den Dienst. Wolzow wurde immer härter, rücksichtsloser, von vielem, was Holt bewegte, durfte er nichts wissen. Holt hatte sich nie mit ihm über die Erlebnisse in den Karpaten ausgesprochen. Er ließ sich von Wolzow mitschleppen, aber die Entfremdung wuchs.
Leutnant Wehnert reichte keinen Tatbericht ein, sondern zog Wolzow mehr und mehr vor. Wolzow wurde sein Lieblingsrekrut. Die Spiele am Sandkasten taten ein übriges. Die Ausbildung sah dann und wann Unterricht über "Taktik des Panzerkampfes" vor; das Thema beschränkte sich auf Formationsfahren, Marsch- und Gefechtsformation, Geländekunde. Wolzow aber schlug mit Wehnert im Sandkasten wahre Mammutschlachten, Schachkämpfe der Strategie, wobei er den Leutnant mittels klangvoller Phrasen einkesselte und vernichtete. Er lieferte ein klassisches Cannae nach dem andern, vereinigte seine getrennten Truppen mehr als einmal mustergültig auf dem Schlachtfeld - "Das höchste, was ein Feldherr zu leisten vermag!" - und meldete dann, mit schräggelegtem Kopf: "Herr Leutnant, ich muss Schachmatt sagen! Ihre beiden Kampfgruppen dort, die dürften inzwischen längst verschossen haben!"
Holt ließ sich gern als Helfer heranziehen, er hörte geduldig Wolzows ausgefallene historische Parallelen an. Der Sandkasten war zehn mal fünf Meter groß, ringsum führten ein paar Holz-stufen empor. Wenn ein solches Spiel bevorstand, befahl Wehnert Holt und Vetter zu sich und ließ sie eine vielgestaltige Landschaft aufbauen, mit Flüssen, Bergen, Wäldern und Städten. Am Nachmittag wies er dann Revetcki für die vorgeschriebenen Formationsübungen eine schäbige Ecke an und rief Wolzow zu sich. "Ich hab uns da ein schönes Problem aufgebaut. Sie haben Rot. Ich hab Blau und greife an."
Er verteilte die Figuren, kleine Panzer, Schützenpanzer, Kanonen aus Kunststoff, Symbole für größere Einheiten. Holt stand mit einem zwei Meter langen Zeigestab dabei, um die Figuren zurechtzurücken. Wehnert hockte geschniegelt auf der obersten Treppenstufe. "Ich bin mit starken Panzerkräften überraschend durch Ihre Linien gebrochen, mit zwei Panzerkorps, Infanterie, Artillerie und so weiter. Meine Reserven sind Ihnen unbekannt. Sie haben keine bedeutenden Reserven." Wolzow maulte: "Immer muss ich mit unterlegenen Kräften operieren, und dann kritisieren Sie, dass ich Ermattungsstrategie treibe! Wie sieht es denn in der Luft aus? Darf ich rauchen?" Wehnert nickte. "In der Luft reichen die Kräfte gerade aus, jeweils die eigenen Erdtruppen zuverlässig abzuschirmen, das vereinfacht das. Problem etwas." - "Hier, die Stadt, soll das meine Hauptstadt sein?" - "Ja. Legen Sie los." - "Nein", sagte Wolzow unlustig. "Ich muss doch erst mal sehn, wohin der Stoß zielt!" Leutnant Wehnert zog die Spitze eines Panzerkeils näher an die Stadt heran. "So. Abend des vierten Angriffstages." Wolzow überlegte lange, ging um den Sandkasten herum und rauchte. "Ich beginne meinen Aufmarsch. Ich brauch acht Tage. Rücken Sie inzwischen weiter vor... Nein, Herr Leutnant, nicht gar so schnell, ich hab dort immerhin ein paar feste Orte und Artilleriekräfte, mit denen müssen Sie erst mal fertigwerden. Bis an den Fluss, weiterkommen Sie in den acht Tagen nicht." Wolzow stellte seine Figuren auf und erklärte: "Ihr Angriff zielt auf meine Hauptstadt, die Situation ähnelt der Lage in Frankreich Juni 1940." Wehnert sah mit wachsendem Erstaunen zu. "Was ist denn los! Das ist doch Unsinn! Wollen Sie Ihre Kräfte nicht zur Verteidigung der Hauptstadt ansetzen?" - "Wo steht denn geschrieben, dass ich meine Hauptstadt unbedingt decken muss, Herr Leutnant? Da werden Sie aber auch nicht eine Literaturstelle finden. Das kann ich doch machen, wie ich will! Ich hab eine starke Garnison dort, die wird natürlich alarmiert." - "Und wollen Sie mir nicht den Flussübergang verwehren? Das ist doch die letzte Barriere vor Ihrer Hauptstadt!" - "Ich werd doch nicht wegen so einem bissel Flusssand meine besten Divisionen opfern!" sagte Wolzow. "Hier, hinter meiner Hauptstadt, stell ich ein schwaches Korps auf, das kann jederzeit zur Verstärkung der Besatzung eingesetzt werden. Ich erklär meine Metropole zur Festung, die müssen Sie belagern, Herr Leutnant!" Wehnert zog seine Panzerspitzen bis an den Fluss. "Ich kämpfe mir den Flussübergang frei und setze über." - "Bitte!"" sagte Wolzow. "Ziehen Sie gegen die Hauptstadt, das kann mich gar nicht irre machen. Ich marschier in Ihrer Nordflanke auf, mit der Hauptmacht meiner Panzer- und Infanteriedivisionen, da wolln wir doch mal sehn, ob Sie wagen, weiter vorzugehn!"
Nun überlegte der Leutnant, verblüfft über die Wendung, die das Spiel nahm. Wolzow fuhr fort: "Wenn ich Ihnen meine Panzerdivisionen überstürzt in den Weg werfe, werde ich geschlagen und bin erledigt. So haben Sie sich das nämlich gedacht."
Der Leutnant schwieg noch immer betroffen. "Aber dass Sie mir einfach den Weg freigeben, ist das nicht gegen alle Regeln?" - "Regeln, was man darf und was man nicht darf", erklärte Wolzow großsprecherisch, "gibt es in der Strategie überhaupt nicht. Grundprinzipien, ja, aber sonst gilt nur eins: das jeweils bestmögliche zu tun. Moltke hat die Strategie ein System von Aushilfen genannt. Bis Moltke hat es geheißen: Ein Feldherr muss als wichtigstes seine Basis sichern, muss Flanken und Rücken decken, muss seine Kräfte zusammenhalten, soll vor der Schlacht Masse bilden, soll vordringlich auf die feindliche Hauptarmee marschieren... Ein Feldherr soll und ein Feldherr muss und so weiter, das waren im neunzehnten Jahrhundert unumstößliche Gesetze. Moltke hat gegen alle diese Gesetze verstoßen und hat trotz dieser Riesenfehler gesiegt. Da hat schon Schlieffen die Frage gestellt: War das bloß Glück? Es war mehr. Es war eben Moltkes System von Aushilfen."
"Gut, gut", sagte Wehnert. "Jetzt muss ich also eine Aushilfe finden. Sie sollen sich verrechnet haben, dass ich Sie dort in Ihrer Bombenstellung angreife. Ich lasse Ihren Aufmarsch in meiner Flanke stehen, natürlich drehe ich Teilkräfte nach Norden ein, im übrigen stoße ich weiter auf Ihre Hauptstadt und beginne sofort mit der Belagerung. Holt, rücken Sie mal die ersten acht Abteilungen heran!" Wolzow überlegte. Dann zog er seine Panzer im Bogen nach Osten. Wehnert sagte: "Ja. aber..." - "Ging heut schnell, was? Sehn Sie, was jetzt passiert?" Wehnert starrte auf den Sandkasten. Sein Gesicht rötete sich. "Ich bin aber doch stark genug, um einen Stoß in den Rücken aufzufangen! ich beziehe hier in der Hügelgegend mit starken Teilkräften eine feste Rückenstellung."
Wolzow grinste ungeniert. "Überall starke Teilkräfte! Teilkräfte drehen nach Norden ein, Teilkräfte beziehen eine Hügelstellung, Teilkräfte belagern meine Hauptstadt; und mein Panzerkorps, Herr Leutnant, das schick ich jetzt auf Urlaub, für Ihre Teilkräfte reicht meine Garnison! So will Moltke ja nun auch nicht verstanden sein! Ihre Teilkräfte überrenn ich, wo ich will!" Wehnert sah verblüfft auf Wolzow, der nun fragte: "Darf ich was Grundsätzliches sagen? Ihnen schwebte so etwas wie Cäsar bei Alesia vor. Die Deckung einer Belagerung gegen Entsatzheere ist eine der schwersten Aufgaben für den Feldherrn, dabei ist schon vielen großen Männern eine Pleite passiert, und gelungen ist es nur wenigen." Er zog sein Taschenbuch. "Erstmalig wurde das Problem von Caesar gelöst. Als die Gallier mit Übermacht den Vercingetorix entsetzen wollten, gab er die Belagerung Alesias nicht auf, sondern schloss sein Belagerungsheer selbst mit Wall und Graben ein. Moltke hätte das eine geniale Aushilfe genannt. Ob so was heute überhaupt noch möglich ist, das ist sehr fraglich. Immerhin ist es den Russen bei Stalingrad gelungen, Mansteins Entsatzversuch abzuweisen, ohne die Belagerung aufzugeben. Aber der Wunsch, bereits errungene Vorteile nicht preiszugeben, hat zum Beispiel 1683 dem Kara Mustapha den greifbaren Sieg gekostet! Er konnte sich nicht entschließen, seine Janitscharen gegen Karl von Lothringens Entsatzheer zu werfen, aus war´s! Ähnlich ging´s dem preußischen Friedrich, als er mit Teilkräften nach Kolin zog. Richtig hat es Napoleon gemacht. Er hat 1797 die Belagerung von Mantua aufgegeben und bei Rivoli, Corona und La Favorita die Osterreicher vernichtet, woraufhin ihm Mantua von selbst zufiel. Ich habe hier den Fehler vermieden, den Napoleon 1813 gemacht hat. Napoleon", sagte er mit unüberbietbarem Selbstbewusstsein, "hätte wie ich sein Heer seitlich von Paris aufstellen müssen, da hätten es die Preußen nie gewagt, ein Korps auf Paris gehen zu lassen! Sie haben es gewagt. Wären Sie gegen meinen Aufmarsch nach Norden eingedreht, da hätte ich es sehr schwer gehabt."
"Sie haben ein phänomenales Gedächtnis, Wolzow", sagte Wehnert, "das hilft natürlich viel, wenn man solche Präzedenzfälle im Gedächtnis hat. Ich mach Sie zum Unteroffizier, ich schick Sie auf Offizierslehrgang. Erst müssen Sie natürlich durch den Schmelztiegel der Front. Denn Sie dürfen nicht denken", meinte er, während er das helle Koppel zurechtrückte, "dass militärisches Wissen allein die Führernatur ausmacht, dazu gehört selbstverständlich mehr, und nicht jeder wird Leutnant!" Er nickte. "Sehen Sie mich an. Härte bis zur Grausamkeit, unerschütterlicher Glaube an die großdeutsche Sendung, und vor allem bedingungslose Treue zum Führer über den Tod hinaus... Das sind die wichtigsten Eigenschaften eines nationalsozialistischen Offiziers." Er deutete auf den Sandkasten. "Morgen sind Sie vom Infanteriedienst befreit, da spielen wir noch einmal durch, wie es gekommen wär, wenn ich Ihre Hauptmacht angegriffen hätte." Wolzow schrie: "Jawohl, Herr Leutnant!"
Leutnant Wehnert hielt Unterricht. Thema: "Ist Rasse Schicksal?" Holt saß im Unterrichtsraum stets weit hinten, neben Peter Wiese. In seinem Rücken lümmelten sich Wolzow und Vetter auf den harten Schemeln. Wehnert trat hochaufgerichtet vor die Rekruten hin, in seinem Rücken thronte Revetcki auf dem Katheder, ein Auge halb geschlossen, das andere weit aufgerissen und den Blick starr in den Raum gerichtet. Wehnert trug das runde Parteiabzeichen an der Panzeruniform. Der Blick seiner kalten Augen ging über die Rekruten hinweg. Er hielt die Hände auf dem Rücken.
Jetzt konzentriert er sich, dachte Holt. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte, aber Revetcki zog drohend eine Augenbraue hoch.
"Ist Rasse Schicksal?" fragte Wehnert mit klingender Stimme. Holt dachte gespannt: Ob er jetzt endlich mal erklärt, was er unter Schicksal eigentlich versteht? Immerfort Schicksal, Herrgott, Vorsehung...
"Das Schicksal einer Rasse bedeutet Selbstbestimmung", begann der Leutnant. "Denn das nordische Blut..." Holt war unaufmerksam. "...jeder einzelne daran Anteil hat...", hörte er "... die Möglichkeit, von sich aus zur Wiedervernordung unserer Nation beizutragen... nordische Rasse und..."
Nordische Rasse, dachte Holt, noch keiner hat jemals erklärt, was das eigentlich ist, die "nordische Rasse", weder Kutschera noch Ziesche, noch Lesser. Er erinnerte sich an seinen Vater. Es lag weit zurück. Holt hatte gehört, wie sein Vater mit irgendwem über die Rassentheorie gesprochen hatte. Menschenblut in vier Gruppen, A, B, AB und 0, dachte er jetzt, noch etliche Untergruppen. Aber Eskimoblut, Japanerblut, Schwedenblut, Indianerblut, da ist kein Unterschied, nur diese Gruppen. Was meinen die also mit nordischem Blut, was soll man sich darunter vorstellen?
"Soll das deutsche Volk sich seiner rassischen Aufgabe klar bewusst werden, muss ihm eine auserwählte Führerschicht, ein neuer Adel des nordisch reinen Bluts vorangehen, sagt einer unserer Rasseforscher."
Holt dachte: Vater hat gesagt, das ist alles Religion, Aberglaube, Spuk, fauler Zauber. Aber er hat es nicht zu mir gesagt! Zu mir, dachte er bitter, hat er gar nichts gesagt, mich hat er laufen lassen, ins Elend, ins Unglück!... Die ständige Wiederkehr des "nordischen Blutes" in Wehnerts Rede reizte ihn. Alles Quatsch, dachte er. Aber warum? Wozu dieser ganze Rassen-, Blut- und Nordmenschzauber? Das müsste man wissen!
"...dass die Rasse letzten Endes ein Mysterium ist", sagte Leutnant Wehnert. Holt nickte unwillkürlich. "Man kann sie nicht erkennen, nur fühlen. Der Verstand fasst sie nicht, nur das Gefühl... durch die Rasse kann die heutige Welt den heldischen Gedanken zurückgewinnen." Wieder überkam den Leutnant jene eifernde Beredtsamkeit. Holt beobachtete den Offizier mit Skepsis und Misstrauen. Wozu das?
"...und zwar nur im nordischen Blut: die Germanen oder die Nacht, das ist heute wie einst die Losung."
Die Rekruten dösten. Nur wenige hörten zu. Der Leutnant sagte: "Das Leben des Helden ist das Leben, das wir uns erstreben, das Leben der nach Beute und Sieg lüstern schweifenden blonden Bestie. Wir können nur dadurch Helden sein, dass wir unser Jahrhundert zum Beginn einer, neuen Welt gestalten. Denn der Held steht immer in den Anfängen der Welt. Sein Gegenbild ist der Nachfahr. Darum hassen alle Späten das Heldische."
Es ist klar, dass es keinen interessiert, dachte Holt. Wenn er sagen würde, wie der Krieg weitergeht, dann würden alle zuhören. Außerdem hat er das Wesen des Helden schon ein paarmal erklärt.
"In der Kindheit ist der Held faul und lebt für sich. Es gibt eine heldische Faulheit."
Wolzow stieß Holt in den Rücken und flüsterte: "Ich! Ich! Aber genau!"
"Heldische Faulheit ist Ruhen in sich selbst: gutmütig, wortfaul, gleichgiltig..." Er sagte gleichgi1tig. "...bis dann der Berserkergang kommt, dieser urmenschliche Ausbruch von Kraft und Kampflust..."
"Jawohl", flüsterte Wolzow in Holts Rücken. "Vier Wochen faul wie die Pest, aber dann mal richtig dreschen!"
"...erlebt der Held als Jüngling seine Einsamkeit, bis ihm als Mann die Einsamkeit des Helden Stolz und Kraft..."
Vetter nickte ein, aber Wolzow stieß ihn in die Seite.
"Darum liebt der Held das Meer und die Fahrt im Wikingsdrachen, darum steigt er hinauf ins Gebirg. Droben fühlt er sich ewig, den Aaren des Anfangs gefreundet, und spürt, was einzig ihn ausfüllt: zeitlose Macht! Held und All, das ist der tiefste Blick in den Tag des Geschehens."
Den Aaren des Anfangs gefreundet? Jetzt ist er ganz groß in Fahrt! Komisch, ich hör ihm zu und hör jedes Wort und hab doch keine Ahnung, was er eigentlich redet!
"Der Held hat´s gewagt, ein Schicksal zu leben, den Tod nicht zu fürchten und vielen verhasst zu sein. Er kennt seinen Reichtum, er reckt seine Arme und schreitet hinein. Dass noch alles zu tun ist, dass rings ein Anfang und überall Bestätigung glänzt, das ist die heldische Zuversicht, die nur der Reine kennt, der Edelgeborene."
Und vielen verhasst zu sein! Holts Gedanken irrten ab. Das soll also etwas Großes, Heldisches sein, wenn man sich vielen verhasst macht...? "Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden... Revetcki!" rief Wehnert plötzlich, und ein Ruck ging durch die Zuhörer. Das Gesicht des Leutnants war zornrot. "Menke, Hintz, Otzdorf und Pleß! Dass Sie mir nachher die Schweine fertigmachen, Revetcki, bis sie röcheln! Im Unterricht schlafen! Ihr undeutsches Gesindel, ich treib euch den inneren Schweinehund aus!"
Jetzt hat er todsicher den Faden verloren, dachte Holt, während er dem Leutnant aufmerksam ins Gesicht sah, aber er kann fortfahren, wo er will, es passt immer alles überall.
"Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden" ‚wiederholte der Leutnant. "Begreifen wir ihn und seine Schicksalsschau, so begreifen wir ihn und seine ganze Welt."
Schicksal, immer wieder Schicksal, dachte Holt: Was ist Schicksal?
"Der heldische Hass, oh dieser Griff Thors um seinen Hammer, dass die Knöchel der Hand weiß werden, diese Herrlichkeit heldischen Hassens, prasselnd in die Welt, dass den Starken, in ihren Wäldern der Atem stockt! Erst seit der Hass, der heldische Hass wieder gelehrt werden darf, ist ein Anfang über Deutschland."
Nach dem heldischen Hass kommt immer die heldische Sittlichkeit, dachte Holt.
"Aus der edlen Entfesselung der Sinne, die eine alte Zeit gekannt hat, sind die vielerlei Unzuchtsverfahren des Genießers geworden. Die Unzucht früherer Zeit..." - die Aufmerksamkeit hob sich - "...war ein Erlebnis, hatte ihren eigenen Spaß, ihr schenkelklatschendes Pathos und ihre bunten Galgenvögel, die etwas opfern konnten, damit es herrlich am Morgen in einer Gosse endete..."
Vetter räusperte sich laut.
"So mag sein wildes Blut den Helden in den Urstreit schleudern des Geschlechtlichen und mag ihn ringen lassen um den Sinn von Mann und Weib, der zu erleben ist, nie zu erklügeln! Und fessellos ausbrechen will das Geschlechtliche, darin liegt die Fragwürdigkeit der Ehe für manche Männer heldischen Blutes..."
Jetzt hörten die Rekruten tatsächlich zu. Man schaute gespannt auf den Leutnant. Aber Wehnert kehrte zur heldischen Rasse zurück, und das Interesse erlosch. Auch Holts Aufmerksamkeit ließ nach. "Die heldische Rasse... Blutserfahrung eines jeden einzelnen sollte sie sein... Spricht der Führer: Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt... Alle Werte der Welt geschaffen von nordischen Menschen... Das klassische Griechenland eine Großtat nordischer Rasse, das Römerreich eine Rassentat nordischer Größe... Die italienischen Künstler sind nordischen Blutes... Nordischen Blutes waren Voltaire und..."
Jetzt kommt die heldische Schönheit, dann ist er fertig, dachte Holt.
"...nicht nur der begabteste, auch der schönste Mensch ist der Mensch nordischer Rasse. Da steht die schlanke Gestalt des Mannes aufgerichtet zu siegreichem Ausdruck des Knochen-und Muskelbaus... da blüht der Wuchs des Weibes auf mit schmalen gerundeten Schultern und breiter geschwungener Hüfte... So sind die nordischen Menschen als der Schmuck der Erde erschienen, als die strahlenden Kömmlinge aus der Freude der Schöpfung."
"Amen", sagte jemand ganz leise. Das war Gomulka.
"Uns aber", rief der Leutnant, "denen das Ahnen erschlossen ist um Würde und Wunder der Rasse, uns bleibt eine elementare Pflicht zu erfüllen. Wer aus tiefster Seele an die Sendung des nordischen Helden glaubt, der kann nie wanken und nie weich werden, wenn der Befehl auch dem Verstand unfassbar ist, dem Verstand, der nur die Äußerlichkeit begreift, während der Glaube allein das Wesen erschließt."
Wie war das? Wenn der Befehl auch dem Verstande unfassbar erscheint... ja, jetzt begreif ich!
"Das Schicksal des Helden ist seine Rasse, der Mythos vom Reich sucht gläubige Herzen. Es ist nicht die Kraft des Verstandes, die das Reich erbauen wird, sondern die heldische Zuversicht, die Selbstbeherrschung, auch wenn der klügelnde Verstand sich meldet. Der Führer schrieb: Wenn unserer Jugend etwas weniger Wissen eingetrichtert worden wäre, so hätte sich das für Deutschland vielfach gelohnt. Der Weg zum Endsieg heißt nicht Denken - Wissen - Kritik, sondern Schicksal - Mythos - Glaube! Die heldische Größe zeigt sich im Gehorchen und im Handeln. Des Führers Partei schuf die Grundlage, die Partei, von der der Dichter singt: ‚Aus dem Sumpf und seinen Niederungen stieg die Partei mit ihren Gliederungen..."
Holt hörte nicht mehr hin. Jetzt begreif ich, wozu das erfunden worden ist, dachte er, und der Gedanke nahm ihm den Atem: Rasse, nordisches Blut, Arier, Übermensch, heldische Zuversicht... damit ich die Slowakin erschossen hätte, ohne mit der Wimper zu zucken!
"Im Kampf um das Reich gilt keine Moral! Unser Dichter Hanns Johst spricht: 'Es lässt sich aus einer Moral aber kein Glauben gewinnen, nur aus dem Glauben eine Moral'. Aus dem Glauben an die Urkraft der Rasse wuchs unsere Moral. Wo Glaube ist, so spricht Hanns Johst, dort ‚ist Allmacht! Und wo Allmacht ist... ist das Reich und die Herrlichkeit!" - " ... in Ewigkeit, amen...", flüsterte Gomulka.
"Achtung!" brüllte Revetcki. Die Rekruten sprangen auf. Leutnant Wehnert verließ kerzengerade den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
"So!" sagte Revetcki. "Dienstschluss? Nein, Essig! Ich habe gesehen, dass ihr allesamt gepennt habt." Er lief vor den Tischen auf und ab und klopfte mit dem Stöckchen an seine Stiefel. "Warum spiegeln eure Visagen keine heilige Ergriffenheit? Warum glotzt ihr mich an wie tote Karpfen?" Er brüllte: "Jetzt werdet ihr einen Berserkergang erleben, ihr dreckigen Kömmlinge, bis ihr bei lebendigem Leibe verwest! Jetzt treib ich euch die heldische Faulheit aus, ich werd euch fessellos schleifen, bis es herrlich am grauen Morgen in einer Gosse endet! Ihr sollt den tiefsten Blick in den Tag des Geschehens tun! Los, in drei Minuten feldmarschmäßig und... Gaaaas !"
Sie rissen die Masken heraus, Revetcki führte sie auf das Trichterfeld des Kasernenhofes. ‚Jetzt treibe ich WF-Unterricht", sagte er, "dass die Knöchel weiß werden!" Boek grinste begeistert. "Karabiner im Vorhalt! Hüpft heldisch Häschen-hüpf, Hunde, hübsch durch die Trichter! Reckt die Arme und schreitet hinein!"
Er ließ sie erst nach einer Stunde auf die Stuben.
Die trübe, gedrückte Stimmung der Rekruten besserte sich überraschend, als am 19. Dezember die Nachricht von der Ardennenoffensive eintraf. Wehnert und Wolzow standen bis tief in die Nacht am Sandkasten, wo sie die Landschaft zwischen Schneifel und Hohem Venn aufgebaut hatten. Holt musste seinen Schlaf opfern und mit dem Zeigestock die kleinen Panzer zurechtsetzen. Wehnert wusste mehr Einzelheiten, als der Wehrmachtbericht meldete. Wolzow studierte die Karte, stocherte mit dem Finger im Sandkasten herum und sagte: "Die Offensive ist nach allen Regeln der Kriegskunst angelegt!" Einen Tag vor Heiligabend standen sie das letztemal am Sandkasten. Bis zum Jahresende klangen die Berichte vom Fortgang der Offensive optimistisch. Dann brachen jegliche Illusionen zusammen.
Wenige Tage vor Weihnachten wurden sie vereidigt. Es war eine flüchtige Zeremonie, die an den Rekruten ohne Eindruck vorüberging. Nur Wolzow nahm sie ernst. "Jetzt sind wir vereidigt", sagte er, "jetzt haben wir bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, was auch kommen mag!"
Revetcki kündigte die Abteilungs - Weihnachtsfeier an: "Ich habe euch ab sofort seelisch zu läutern, damit ihr in der hohen Nacht der klaren Sterne mit schuldlosem Antlitz vor das heilige Jesulein tretet!"
"Seelisch läutern?" sagte Holt. "Schleifen meint das scheinheilige Aas!"
Revetcki trat in die Stube. "Wiese! Öffnen Sie sofort Ihre Halsbinde!" Wiese gehorchte. Revetcki besichtigte einen Spind. Dann fuhr er Wiese an: "Das ist unmöööglich! Der Kerl läuft mit offener Halsbinde herum! Dafür werden Sie sechs Stunden sonderbehandelt! Machen Sie sich fertig, ehe ich Sie fertigmache, schreiben Sie noch ein paar Zeilen an Ihre Hinterbliebenen!"
Peter Wiese wurde bleich.
Revetcki sagte: "Oder wollen Sie ein Ablassbriefchen kaufen? Was machen Sie in der stillen, heiligen Nacht mit Ihren Schnapsmarken?"
"Herr Unteroffizier", stammelte Wiese, Tränen der Erleichterung in den Augen, "die geb ich Ihnen!" - "Welch liebliches Geschenk!" rief Revetcki, und sein Gesicht warf abenteuerliche Falten. "Die geöffnete Halsbinde ist großzügig verziehen!"
Dann war Heiligabend. Wolzow, Holt, Vetter, Gomulka und noch ein paar andere waren zu Unteroffiziers-Ordonanzen befohlen und holten sich in der Kammer neue, schneeweiße Drillichjacken. Die größte der Fahrzeughallen war ausgeräumt und mit Tischen und Bänken vollgestellt worden. An der Wand zog sich eine Theke entlang. Vorn war ein Podium aufgebaut. Dort sang am Abend ein Soldatenchor: "O du fröhliche..." Zwei große Weihnachtsbäume warfen schwaches Kerzenlicht in die Halle. Major Reichert, der Abteilungskommandeur, hielt eine Ansprache. Holt, in der weißen Drillichjacke, stand an der Theke und hielt ein Tablett bereit.
Es war öde und leer in ihm. Weihnachten, dachte er... Niemand hatte ihm geschrieben, auch Gundel nicht. Wortfetzen aus der Rede des Kommandeurs drangen an sein Ohr: "Sechste Kriegsweihnacht... Führer unerschütterlich... Unerschütterliches Vertrauen... Fest der Hoffnung, Fest der Zuversicht... Endsieg." Der Chor setzte wieder ein, dann sangen in der Halle mehr als tausend kratzige, rauhe Stimmen: "Stille Nacht, heilige Nacht.. " Holt lehnte an der Theke. Gomulka, neben ihm, verzog keine Miene. Wolzow trat an Holts Seite und stieß ihn in die Rippen: "Alter Krieger, trink einen Schnaps!" Es war ein Bierglas, halb voll Korn, Holt rang sekundenlang nach Atem, dann wischte er sich über die Stirn. Ein dünner, durchsichtiger Schleier zog sich über seine Sinne: die Kerzen an den Bäumen strahlten heller, das einsetzende Summen der tausend Stimmen rauschte fern wie Meeresbrandung. Das war das letztemal, dass ich weich geworden bin! dachte er. Schlägt´s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht´s ans Sterben, in bin dabei... "Noch leben wir", sagte er, und Wolzow knuffte ihn wieder in die Seite und meinte: "Und ob! Zwei alte Krieger wie wir!"
Der Abend entartete rasch zu einem Saufgelage. Holt trug Tabletts mit Schnaps- und Biergläsern von der Theke zu den Unteroffizieren, wischte Bierpfützen auf, sammelte Schnapsmarken ein und trug sie zur Theke. Anfangs wurden die Marken nachgezählt, bald musste Holt sie ungezählt in einen Kasten werfen, wobei er fleißig betrog. Mit der Zeit ging die Kontrolle verloren.
Die Unteroffiziere betranken sich rasch. Revetcki rollte mit den Augen trank und rief: "Keinen Tropfen trinkt das Huhn, ohne einen Blick zum Himmel aufzutun!" In einer Ecke, umringt von Unteroffizieren und Feldwebeln, stand die Tochter des Kantinenwirtes, ein übles Frauenzimmer von dreißig Jahren mit weißgebleichtem Haar, leicht verwachsen, heute noch greller als sonst geschminkt. Sie hatte anfangs bei den Offizieren serviert, aber nun ließen sie die Unteroffiziere nicht mehr an die Arbeit. Am Offizierstisch standen Batterien von Wein- und Kognakflaschen auf der weißgedeckten Tafel, Konfektschalen und geöffnete Zigarrenkisten. Holt sah den Abteilungskommandeur, Major Reichert, zum erstenmal. Zu seiner Rechten saß der sagenhafte Hauptmann Weber, Chef der IV. Kompanie, sagenhaft ob seiner lückenlosen Sammlung von Kriegsauszeichungen, mehrfach im Wehrmachtbericht genannt und nun seit einem halben Jahr endgültig beim Ersatzheer gelandet: einarmig, den linken Ärmel der zweireihigen schwarzen Uniformjacke in die Achsel eingeschlagen, einäugig, das rechte Auge von einer schwarzen Binde bedeckt, das Gesicht von Narben zerhackt, so saß er kerzengerade neben dem Major und hob mit einer eckigen Bewegung das Weinglas zum Mund. Er trug heute an der Jacke keinen Orden, keine Medaille, nur um den Hals das Ritterkreuz.
"Sieh ihn dir an!" sagte Wolzow zu Holt. "Der Mann hat den Dnepr-Ãœbergang bei Rogatschow mitgemacht, dann war er bei Mogilew eingekesselt und hat sich mit seinen Henschel - Tigern nach Westen durchgeschlagen, da ist die ganze Kompanie draufgegangen, einzig er ist mit dem Umsteigewagen durchgekommen!"
"Ordonnanz!" krakeelte Revetcki am Unteroffizierstisch. Er hatte trübe Augen. "Holt! Uns ist so kannibalisch wohl... Ganymed, du findiger Engel... !" Der Schluckauf plagte ihn. "Hier fehlt nur eins: Schnaps und... Holt! Wo ist die Topp-sau hin, die Bucklige? Das Aas verlangt zehn Mark!" Er schrie: "Anstatt froh zu sein, wenn sie ein preußischer Korporal..." Der Schluckauf zerrüttete ihn. "Da sagte ich: Nein danke! Dafür kann ich ja zweimal in den Puff gehn!" Unteroffizier Boek brüllte: "Du wirst den Spund doch nicht etwa bitten! Seit wann werden die Dreckspunde denn gebeten! Gib dem Spund doch einen Befehl! Sag dem Spund doch, er wird morgen den ganzen Feiertag geschliffen, ge.schliiii-fen, bis ihm das Hirn verdampft!" - "Los, schaff uns Schnaps", schrie Revetcki, "aber schnell, sonst schleif ich dich zum Eunuchen!"
Wolzow zog Holt zur Seite: "Wir müssen Revetckci und Boek jetzt derartig besoffen machen, dass sie morgen nicht schnaufen können!" - "Also los", sagte Holt. An der Theke füllte der Kantinenwirt Schnapsgläser.
Jemand fasste Holt von hinten am Arm und drehte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt herum. Das war Oberfeldwebel Burgkert. "Junge", sagte er, "Ordonnanz, wie heißt du?" "Panzerschütze Holt, vom Ausbildungszug der Stabskompanie." Jeder kannte den Oberfeldwebel. Er ließ sich von niemandem etwas sagen, grüßte die Offiziere lasch, herablassend und erwiderte den Gruß Untergebener mit einem Kopfnicken. Heute hatte er sämtliche Orden angelegt. Er war so groß wie Wolzow, aber viel breiter, bulliger. Holts Blick glitt über die schwarze Uniformjacke. EK 1 und EK II, zählte er, goldenes Verwundetenabzeichen, silberne Nahkampfspange, Deutsches Kreuz in Gold, am Ärmel sieben Panzervernichtungsabzeichen... - "Schau dir den Ramsch ruhig an, mein Junge!" sagte der Oberfeldwebel mit heiserem Bass, und er hielt Holt noch immer am Arm fest. "Wenn du genug geglotzt hast, dann holst du für mich zwei Flaschen Kognak, aber nicht solchen Fuseldreck, sondern den gleichen, den die Offiziere bekommen! Zwei Flaschen, zwei Gläser, es müssen Schwenkschalen sein! Das bringst du mir in die Ecke!" Er deutete in das trüb erleuchtete Ende der Fahrzeughalle. "Los!"
Holt lief zur Theke. "Zwei Flaschen für den Kommandeur! Kognak! Und zwei Schwenkschalen!" Die Schwenkschalen tilgten das Misstrauen. Der Oberfeldwebel saß auf einem leeren Bierfass, er nahm Holt die Flaschen aus der Hand und studierte die Etiketten. "Gut!" Er stellte eine Flasche auf den Boden und füllte die beiden Schwenkschalen. "Trink, Rekrut!" Der Lärm in der Halle ebbte ab. Irgendwo grölte ein Dutzend betrunkener Stimmen: "Wie einst, Lilli-Marleeeeen!" Dann verstummte auch das. Bei der improvisierten Bühne war der Major, offensichtlich stark betrunken, auf die Offizierstafel geklettert, hielt ein gefülltes Sektglas in der Hand und brüllte: "Hoch... Panzer... elf!... Es lebe.., die ruhmreiche... ungeschlagene... 11. Panzerdivision!!" - "Ungeschlagen!" sagte der Oberfeldwebel. Seine Stimme hatte alles Kratzige verloren, und der Bass rollte grabestief. "Ungeschlagen! Tula, November einundvierzig... Smolensk, September dreiundvierzig... Mogilew, März vierundvierzig... Minsk, Juli vierundvierzig... ungeschlagen, aber vernichtet! Es gibt keine 11. Panzerdivision mehr! Es gibt noch fünfhundert Gewehre und ein Dutzend Tiger, aber die sind schrottreif!" - "Es lebe..." schrie der Major, "unser großer General... und unser Führer Adolf Hitler..." Die Halle zitterte im Gebrüll der tausend Soldaten. "Junge, trink!" sagte der Oberfeldwebel. "Nicht auf den General. Auf niemand. Auf den größten Beschiss der Welt!" Holt trank gehorsam. "Abteilungsbefehl!" hörte er den Major brüllen. "... Anbetracht der Lage... noch vorhandenen Alkoholvorräte... rücksichtslos zu versaufen!" - "Wir sind ja so beschissen worden", sagte der Oberfeldwebel. "Junge du hast keine Ahnung!" Er goss sich wieder das Glas voll. "Sauf, Rekrut! Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiss." Holt starrte gebannt auf den riesigen Mann, der sich einschenkte, trank, wieder einschenkte und trank. Er hörte ihn zwischen zwei Schlucken sagen: "Sauf, Junge! Willst du nicht?" Er nahm schon die zweite Flasche zur Hand. "Junge, wie man uns beschissen hat!" Holt lief davon.
Beim Tisch der Unteroffiziere ging das Gelage seinem Ende zu. Revetcki trank aus der Flasche. Boek lag mit dem Oberkörper über dem Tisch. Der Stabsgefreite Kindchen torkelte zwischen den Tischen entlang, in jedem Arm eine Flasche, und sang: "Ein Pro-oo-sit der Ge-müüt-lich-keit!" Die Offiziere waren verschwunden. Unteroffizier Winkler, der auf Revetckis Stube lag, wankte dem Ausgang zu, stolperte und schlug hin. Revetcki beugte sich über ihn, richtete sich auf und sagte grinsend: "Weitermachen!" Holt eilte zu Winkler. Dort stand Burgkert und sagte: "Bring ihn weg, Rekrut! Er wird noch gebraucht. Wir werden alle noch gebraucht!"
Holt und Gomulka hoben Winkler auf. An der Hallentür stand ein Gefreiter, klein von Statur, vielleicht dreißig Jahre alt. Er rauchte und blickte ungerührt in das Chaos, mit einem aufmerksamen und wachen Blick. Er öffnete die Tür für Holt und Gomulka, die Winkler aus der Halle trugen, während Boek an ihnen vorbei ins Freie torkelte.
"Eure Ausbilder?" fragte er.
Gomulka sagte: "Es ist widerlich."
Der Gefreite lächelte. Er sagte, indem er mit einer Handbewegung in die Halle hineindeutete: "Warte nur, bis diese Fehlcharge abgestochen wird! Fliegt auf den Schrotthaufen, das dauert kein Jahr mehr!"
Holt und Gomulka schleppten Winkler über den zerklüfteten Kasernenhof in sein Bett. Gomulka lief zurück zur Halle, wo der Gefreite noch immer an der Tür stand.
Holt ging in die Stube. Die trübe Lampe erhellte den großen Raum nur schwach. In einer Ecke saß Peter Wiese. Er schrieb einen Brief.
Holt lehnte sich an einen Spind. Wiese lächelte. Der Lärm drang über den weiten Kasernenhof bis in die Stube. "Tja, Peter...", sagte Holt hilflos. Er warf sich auf sein Bett. Weihnachten! dachte er...
Am ersten Feiertag, als die Kaserne endlich aus der Betäubung erwachte, brachte Kindchen Post. Holt erhielt ein Päckchen von Gundel. "Ich durfte bei Frau Gomulka für dich backen", schrieb sie. "Es ist das erste mal, dass ich gebacken habe. Darum ist es noch nicht restlos gelungen. Frau Gomulka meint aber, ich soll es trotzdem schicken. Die getrockneten Aprikosen hat sie mir für Dich geschenkt. Das Bild habe ich beim Photographen machen lassen, aber ich finde, so sehe ich gar nicht aus."
Er faltete das Papier auseinander. Obenan lag ein einfacher Tannenzweig. Er sah lange auf die Photographie. Gundel... Sie lächelte nicht, sie war ganz ernst. Wie kann man so große Äugen haben, dachte er.
Seinen Geburtstag verbrachte Holt im Gelände beim Übungsschießen mit der Panzerfaust. Auf dem Rückmarsch schob Revetcki eine "Sonderbehandlung" ein, und erschöpft fiel Holt auf sein Bett. Vetter sagte: "Jetzt bist du achtzehn! Jetzt darfst du auch als Zivilist in alle Filme!"
Eine Woche später traf die Nachricht in der Kaserne ein: "Die Russen sind an der Weichsel durchgebrochen!" Wolzow breitete die Karte aus: "Hier! Aus dem Brückenkopf Sandomierz! Der Stoß zielt wahrscheinlich südwestlich nach Krakau oder westlich nach Kielce... Hier! Aus dem Brückenkopf Pulawy, auf Litzmannstadt angesetzt..." Neue Nachrichten langten an: "Sie sind auch in Ostpreußen durchgebrochen!" In der Kaserne verbreiteten sich ununterbrochen Gerüchte. "Die zweite Kompanie geht an die Front, noch diese Nacht!" Vetter schrie: "Wir solln weiter ausgebildet werden! Und eh´s rausgeht, solln wir alle in einen Puff!" Noch eine Woche verstrich.
Der Ausbildungszug fuhr mit einem Lastwagen zum gefechtsmäßigen Nachtscharfschießen auf den benachbarten Truppenübungsplatz. Die Rekruten auf dem LKW sangen. Dann standen sie lange in der Nacht und warteten. Wenig entfernt krachte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, Leuchtkugeln erhellten immer wieder die Dunkelheit. Holt stand mit gespreizten Beinen über seinem MG. Vetter hatte sich ein paar Gurte um den Hals gehängt und schleppte Munitionskästen, den Karabiner auf, dem Rücken. Sie nahmen die Helme ab und rauchten eine Zigarette. Wolzow gab die letzten Direktiven: "Leute, wenn ihr vorgeht, lauft den MGs nicht ins Schussfeld! Werner, wir geben uns gegenseitig Feuerschutz beim Stellungswechsel." Er sog an der Zigarette. "Bin gespannt, ob sie uns für frontreif erklären."
"Abwarten", sagte Holt.
Gomulka fragte: "Ob wir bald eingesetzt werden?" - "Der kann´s gar nicht mehr erwarten!" spottete jemand. Holt dachte: Ängstlich hat Sepps Frage wirklich nicht geklungen, eher erwartungsvoll! "Hast recht, Sepp. Das Warten, diese Ungewissheit, das ist vielleicht das übelste." - "Vielleicht", sagte Gomulka. Revetcki rief: "Fertigmachen!" Sie traten die Zigaretten aus und setzten die Helme auf. "Antreten!" Revetcki gab sich freundlich und sagte zu den Rekruten "Musketiere" oder "Füsiliere". Er verkündete: "Ruhig Blut! Euer Korporal steht euch bei in der Stunde der Not!" Dann befahl er: "Gewehre Laden und sichern!" Holt nahm das MG auf. "Schützenreihe", rief Revetcki, "mitkommen!" Sie marschierten in Richtung der fingierten Hauptkampflinie. "Schützenkette links! Im Laufschritt... marsch, marsch!" Die Gruppe schwärmte aus. "Vorwärts, Arkebusiere!" rief Revetcki. Holt lief am rechten Flügel durch den tiefen Schnee. "Stellung!" Vetter warf sich neben Holt zu Boden. Schloss zurück, Deckel hoch, Gurt einlegen, Deckel schließen, entsichern, Kolben fest in die Schulter einsetzen... - "Visier vierhundert! Feuer frei!" Eine Leuchtkugel stieg hoch, blendend weißes Licht lag über dein beschneiten Acker. Wolzows MG am linken Flügel schoss schon. Holt sah vor sich die Mannscheiben durchs Gelände ziehn und schoss in kurzen Feuerstößen. Vielleicht übe ich es zum letztenmal, dachte er.
Revetcki war zufrieden. Die Kritik des Leutnants fiel dürftig aus. Dann brachte sie der Lastwagen zurück in die Kaserne. Sie sangen während der Fahrt: "Schlägt uns die Todesstunde, ruft uns das Schicksal ab, dann wird uns der Panzer zum ehernen Grab..."
Nach zwei Uhr langten sie auf den Stuben an. Wolzow brachte aus dem Waschraum Neuigkeiten: "Auf dem Boden haben sie ein Mittelwellengerät aufgestellt, mit einem Achtzig-Watt-Sender, damit haben sie Verbindung zu den Kampftruppen, die schreien draußen um Hilfe! Die Russen sind über Krakau und Litzmannstadt hinausgestoßen. Bei der vierten Kompanie machen sie die Jagdpanther einsatzbereit, die noch in der Halle stehn, die gehn heut nacht ab, die Funker haben sie aus unserer Kompanie abgestellt..." Revetcki riss die Tür auf: "Wolzow zum Leutnant!" - "Der will doch nicht etwa noch am Sandkasten spielen!" Wolzow zog die Jacke über und ging. Schon nach zehn Minuten riss er die Tür auf und ließ Leutnant Wehnert eintreten. Revetcki folgte. Wer schon in den Betten lag, richtete sich auf.
Holt sah auf Wolzows Gesicht und wusste alles.
Der Himmel steh mir bei!
Der Leutnant sah sich in der Stube um. Dann begann er: "Deutschland, heldischer Gedanke, nationalsozialistische Idee, hab ich euch das alles umsonst erzählt?" Er ging in der Stube auf und ab. "In den Wind geredet? Nein! Das darf nicht sein!" Nun sehr schnell: "Der Russe hat die Grenzen Schlesiens überschritten, jenes Landes, das unsere Vorväter mit heldischem Schwert ans Reich brachten. Er stößt ins Industriegebiet, er stößt gegen Breslau. Gefahr! Die schwerste Stunde bricht an! Die letzte Etappe des Krieges hat begonnen: der Nervenkrieg! Die besseren Nerven werden siegen. Wir werden die besseren Nerven haben."
Er soll endlich sagen, was er von uns will!
"Der Führer hat in dieser Stunde die Aufstellung einer Panzerjagddivision befohlen. Aus Freiwilligen."
Aus Freiwilligen? Gott sei Dank!
Gomulka sprang von seinem Bett und fuhr in die Hose.
"Es liegt an euch, dass diese Division eine Elitetruppe wird, an der sich das letzte Aufgebot des Bolschewismus die morschen Zähne ausbeißt. Unser Kamerad Wolzow hat sich als erster gemeldet, wie ich das von ihm nicht anders erwartet habe. Wer folgt ihm nach?"
"Herr Leutnant", rief Gomulka, "ich melde mich freiwillig zur Panzerjagddivision."
Sepp! schrie es in Holt. Sepp!
"Wer noch?" fragte der Leutnant.
Panzerjagd im Osten! Und der Sepp meldet sich!
Vetter beugte sich aus seinem Bett und kratzte sich hörbar unter dem Hemd auf der linken Brust.
"Der Führer hat befohlen: wer sechs Panzer mit Nahbekämpfungsmitteln vernichtet, erhält das Ritterkreuz."
"Waaas?" rief Vetter. "Sechs Panzer... Ritterkreuz? Aber dann, Herr Leutnant, also ich mach mit, und überhaupt!"
Gilbert, Sepp, Christian... und ich?
Wolzow blickte zu Holts Bett hoch und sagte: "Werner! Mensch!"
"Herr Leutnant", sagte Holt, mit einer fremden Stimme, "ich auch."
Aber nun blieb alles still. Der Leutnant sagte: "Ihr vier... Ich hab´s mir gedacht, Kameraden, ich danke euch. Ihr schlaft morgen aus, solange ihr wollt. Zwölf Uhr Schreibstube, Laufzettel holen. Gute Nacht."
Holt sprang aus dem Bett. Revetcki stand in der Stube und schrie: "Und die anderen? Die anderen!? Kerls, wollt ihr denn ewig leben?" Holt suchte Briefpapier im Spind. Revetcki schrie: "ihr sollt es be-reu-en! Die Panzerjagd ist kurz, aber eure Reu ist lang! Ab morgen gewöhne ich euch den Selbsterhaltungstrieb ab, ihr Schweine, ihr trichinösen!" Er warf krachend die Tür zu.
Holt schrieb. Jemand rief: "Licht aus, wir müssen in drei Stunden raus!" Wolzow, der eine Liste für die Kleiderkammer entwarf, sagte: "Knäblein, halt deine Schnauze!" - "Jawohl!" sagte der Stabsgefreite Kindchen befriedigt. Er rief, von seinem Bett her: "Gib´s ihnen feste! Wenn ich nicht leider ein steifes Knie hätte, also wie ich hier lieg, so käm ich sofort mit!"
Holt schrieb: "Liebe Gundel! Ich geh morgen an die Ostfront zur Panzerjagd. Ich hab mich freiwillig gemeldet. Ich weiß nicht warum."
Er überlegte. Ich tu´s für Dich, wollte er schreiben.
Für Gundel?
Er hörte seine eigene Stimme sprechen, und dann die Stimme des Rechtsanwalts Gomulka. Warten, worauf?... Dass der Märchenprinz unser verwunschenes Kind bald befreie...
Er starrte auf das weiße Papier. Alles falsch, dachte er. Alles falsch.
Der Laufzettel schrieb vor: Abteilungsrevier, Kleiderkammer, Waffenkammer, Schießunteroffizier, Fourier, Hauptfeldwebel und so weiter. Der Stabsarzt im Revier untersuchte sie flüchtig. "Kerngesund", sagte er. "Panzerjagd ist das beste Mittel gegen Alterskrebs." Die Kleiderkammer war das Klatschzentrum der Abteilung. Ein paar Kommandos seien schon in der Nacht abgegangen, das erfuhren sie hier. Der Kammerunteroffizier brachte, was Wolzow haben wollte. "Der behandelt uns nachsichtig wie Todkranke", sagte Holt, während er warme Wäsche auf die Arme lud, Pullover, Feldgrau mit kurzen, zweireihigen Blusen aus Wolltuch, Schnürschuhe, Gamaschen, Fäustlinge. Wolzows Liste war lang, Kopfschützer, wattierte Überkleidung, Schneehemden mit Kapuzen. Endlich protestierte der Kammerchef gegen weitere Wünsche, das sei alles gegen die Vorschrift. Wolzow sagte: "Vorschrift? Die Russenpanzer halten sich auch nicht an Vorschriften!"
Der Waffenmeister berief sich auf Anweisungen. "Jeder eine Maschinenpistole!" Wolzow wies das neue Sturmgewehr zurück, er nannte den Unteroffizier "Mann". "An der Front gibt´s nirgendwo die dreiviertellange Karabinermunition, Mann! Geben Sie uns die zweiundvierzig!" Vetter bettelte um eine Parabellum. Wolzow packte die Leuchtpistole ein und ging zur Tür, aber der Waffenmeister brüllte: "Wollen die Herren nicht vielleicht das MG mitnehmen? Darf ich den Herren das MG auf die Stube tragen lassen?" - "Und ich kann´s schleppen", maulte Holt.
Kindchen, in seinem Munitionskeiler, rief: "Kraftfutter! Schönes Kraftfutter!", und baute einen Stapel Munitionsschachteln vor ihnen auf. "Zwanzig Gurte, beste Ware, meine Herren, jede dritte Patrone Leuchtspur!" - "Beste Ware, so was!" rief Vetter. Kindchen errötete bis in die großen Ohren. "Wer soll denn das schleppen!" sagte Holt. "Und für die MP noch sechs Magazine! Und Handgranaten!" rief Kindchen. Er brüllte hinter ihnen her: "Und Panzerfäuste! Für jeden eine Kiste! Die lade ich gleich aufs Auto, Dienst am Kunden, ganz groß!"
Beim Fourier führte Vetter das große Wort. "Rücken Sie mal die guten Sachen raus, Herr Feldwebel, Schoka-Kola, und solche Päckchen 'Für Panzerkämpfer im Großeinsatz!' - "Für meine Freiwilligen ist das beste gut genug", log Wolzow, "das hat der Major gesagt!" Der Feldwebel stieg schimpfend in den Keller.
In der Stube wühlte Vetter in Schokoladen- und Zigarettenpäckchen. "Leute, genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar sein!" Wolzow schärfte Handgranaten. Holt saß dabei und las in der Zeitung, in der ein Butterklumpen eingewickelt gewesen war. "Völkischer Beobachter". "Vom Einsatz unserer Ostkämpfer" las er. In seiner heimlichen, nagenden Angst versuchte er zu glauben, was da stand. Es sind also ganz minderwertige Kämpfer, die Russen! Ich bin gut ausgebildet, bin jung und kräftig. Wer soll es schaffen, wenn nicht wir jungen Kerle?
Ein Fußtritt warf die angelehnte Stubentür auf. Zwischen den Spinden stand Oberfeldwebel Burgkert, die schwarze Uniform voll Orden. Er sah grau aus, verfallen, auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen. Er sagte mit kratziger Stimme: "Ihr geht mit mir raus?" Dann setzte er sich an den Tisch und spielte mit Wolzows Pistole. Er bekam einen Schweißausbruch, seine Hände zitterten. "Ich war auf´m Dach bei den Funkern", sagte er heiser. "Die haben die ganze Nacht Hilferufe aufgefangen. Keine Front mehr. Alles eingekesselt. Unsere 11. P. D. steckt beim Korps Nehring, das ist bei Kalisch eingeschlossen." - "Ich weiß", sagte Wolzow gleichgültig. "Sie haben einen Spruch aufgefangen, von irgendeiner Kampfgruppe. 'Gott sei unserer Seele gnädig!' Die haben alle die Nerven verloren!"
Ein Gefreiter trat ein, ein kleiner, untersetzter Mann, der von einem zum anderen blickte. "Gefreiter Horbeck." Er setzte sich. Holt erkannte ihn wieder. Der Gefreite hatte nach der Weihnachtsfeier am Tor der großen Fahrzeughalle gestanden, der einzig Nüchterne im Chaos der Betrunkenen. Holt sah, wie er Gomulka überrascht zunickte und dann Wolzow und Vetter musterte, er glaubte dabei in dem Blick der grauen Augen einen Ausdruck verborgener Wachsamkeit zu beobachten, der unversehens in Gleichgültigkeit hinüberwechselte. "Ich bin der Fahrer." Der Gefreite fragte, nun mit allen Zeichen prächtiger Laune: "Na, ist die Charge reif?"
"Was?" fragte Vetter.
"Ich meine: seid ihr fertig?" Wolzow zog sich ein neues, leuchtendes Ordensband durchs Knopfloch. Holt und Vetter hatten die Flakschießabzeichen angesteckt. "Meins ist weg", sagte gleichmütig Gomulka, der blass und stumm dabeisaß. "Ihr bekommt eigene Marschpapiere!" sagte Burgkcrt. Sie gingen zur Schreibstube.
Leutnant Wehnert redete von Taten. Seine Augen waren blauer denn je. "Taten werden gebraucht!" Er endete: "Mit Gott, Kameraden!"
Auf dem Hof wartete das Auto, ein offenes, achtsitziges Fahrzeug mit leichtem Verdeck, wie es die Polizei für Einsatzkommandos benutzte. Kindchen lud die Panzerfäuste auf. Der Gefreite Horbeck stand dabei, rauchte und machte keine Anstalten zu helfen. Er trug keine Tarnbekleidung und war nur mit einem Karabiner bewaffnet. Aber er schleppte einen prall gefüllten Rucksack, mehrere Decken, Zeltbahnen, Zeltstäbe und einen großen Kochkessel mit.
"Was willst du mit dem ganzen Mist?" fragte Wolzow.
Der Gefreite wandte bei dieser Frage flüchtig den Kopf. Ein Zug von Misstrauen stand in seinem Gesicht, aber das mochte Täuschung sein, denn nun schlug er Wolzow auf die Schulter und rief: "Wirst schon sehen."
Holt beobachtete es. Er dachte: Was ist das für einer?
Es dunkelte. Niemand kümmerte sich um sie. Der Ausbildungszug war zum Infanteriedienst ausgerückt. Burgkert setzte sich ganz hinten zu Wolzow. Sein Bass dröhnte. Wenn er aus der Feldflasche trank, verbreitete sich Schnapsgeruch. Gomulka hatte vorn neben dem Gefreiten Platz genommen, hinter ihnen saß Holt. Am Kasernentor prüfte der Posten umständlich die Papiere. Der Fahrer schaltete. Holts Blick streifte einen Wegweiser: "Görlitz 58 km".
Fahrt durch die Nacht. Holt zog die Decke über die Knie. Die Winterkälte pfiff eisig durch das dünne Verdeck. Schnee fiel. Es stürmte. Als Holt sich umwandte, sah er Burgkert zur Seite gegen Wolzow gesunken. Beide schliefen. Der Kopf des Gefreiten stand als schwarze Silhouette vor der Windschutzscheibe, durch die der Schnee leuchtete. Der Gefreite sprach mit Gomulka, und nun hob er den rechten Arm vom Lenkrad und verstellte den Spiegel über der Windschutzscheibe, als wünsche er, das Innere des Wagens zu überschauen. Manchmal, wenn draußen der heulende Schneesturm abflaute, fing Holt Gesprächsfetzen auf, die das gleichmäßige Summen des Motors immer wieder übertönte.
Gomulkas Gesicht war nach links gewendet. Er sagte, und das musste die Antwort auf irgendeine Frage sein- "... den müssen Sie ja besser kennen als wir." Eine Bö warf Schnee über den Wagen. "...Wolzow hört manchmal ein bisschen auf Holt, sonst auf keinen", sagte Gomulka.
Worüber reden die? fragte Holt sich schläfrig. Das Auto bockte durch ein Schlagloch, er fiel zur Seite. Er hörte, als er sich zurechtsetzte, den Gefreiten fragen: "Und der Blonde?" - "Gehorcht Wolzow wie ein Hund", antwortete Gomulka, "aber wenn er allein ist..." Das Brummen des Motors verschluckte die Worte. Dann hörte Holt, wie Gomulka sagte: "...nein, eigentlich mein Vater...", und er beugte sich vor, um besser zu verstehen.
"Hab Ihnen ja damals erzählt, wie das gekommen ist", sagte Gomulka. "Leicht war es nicht für mich. Es mag ja Leute geben, die von Anfang an wussten, was gespielt wird. Der Holt hat im Urlaub ein Mädchen kennengelernt, deren Vater ist in einem Lager umgekommen, und die Mutter wurde hingerichtet. Solche..." Wieder übertönte das Motorengeräusch die Worte.
Holt dachte verwundert: Sepp erzählt von Gundel? Der Gefreite hob wieder die Hand zum Spiegel, verstellte ihn ein wenig und warf einen Blick nach hinten, wo Burgkert und Wolzow im Schlaf zusammengesunken waren. "... und ob du alles verstehst, das ist die Frage", sagte er, "ganz abgesehen davon, dass man heutzutage über so was am besten den Mund hält." - "Man wüsste halt manchmal ganz gern etwas genauer, mit wem man´s zu tun hat", erwiderte Gomulka. Der Gefreite wandte ihm das Gesicht zu. "Genau das ist es", sagte er betont. Dann schwieg er, und der Wagen raste mit verdunkelten Scheinwerfern durch die Schneewehen.
Sie hielten in Görlitz lange an einer Kreuzung. Burgkert erwachte und stieg aus. "Seht euch das an!" Holt stand frierend neben dem Wagen. Ein lautloser, spukhafter Zug wälzte sich langsam vorbei, Fußgänger, Handwagen, Schlitten, Pferdefuhrwerke, mit Koffern, Bettenbündeln, Hausrat bepackt, endlos, lautlos, nur das Wimmern von Kindern drang durch die Dunkelheit, das Kratzen einer Schlittenkufe am Bordstein.
Burgkert trank aus der Feldflasche. Hupend schob sich dann der Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern zwischen die Menschen. Auf der Chaussee nach Lauban zog ihnen der gleiche endlose Flüchtlingsstrom entgegen. An allen Kreuzungen gab es Aufenthalt. Kontrollposten, SS, Gendarmerie. "Papiere vorzeigen!" Morgens gegen sechs erreichten sie Breslau. "Frontleitstelle, oder wie nennt sich das?" Niemand wusste Bescheid.
Endlich ließ Burgkert halten, ungeduldig und nervös. Vor einem Gebäude patrouillierte ein Doppelposten. Burgkert kam zurück. "Ich muss mich hier erst mal umsehen. Wolzow, kümmern Sie sich, wo wir hin sollen. Bin in einer halben Stunde wieder hier, wenn ich nicht komm, dann ziehn Sie allein los." Er verschwand in der Dunkelheit. Wolzow sah ihm verblüfft nach. "Weißt du, was der sucht? Schnaps! Der ist ja schon ganz konfus, weil er nichts mehr zu saufen hat!"
Überall herrschte das Chaos. "Hier, Einsatzstab... Halt mal!" Ein Feldwebel brüllte Wolzow an: "Panzerjagddivision? Quatschen Sie nicht! Papierdreck!" Schließlich hieß es: "Versuchen Sie, nach Klein Nieritz durchzukommen, dort liegt der Stab der 17. P. D."
Sie warteten lange vergebens auf Burgkert. Der Gefreite sagte: "Wir fahren. Wer weiß, wann der wiederkommt!" Wolzow überlegte. Auch Gomulka drängte: "Jawohl, wir brauchen den nicht! Wir haben eigene Papiere!" Wolzow zögerte, aber der Gefreite rief: "Los! Fort! Wozu warten?"
"Die Panzerjagddivision gibt´s offenbar gar nicht", sagte Wolzow endlich. "Das ist aber ein böses Zeichen! Also los! Dies ist die Stunde der Einzelkämpfer." Holt zog Gomulka zur Seite. "Der Gefreite... was ist das für einer?" - "Ein Stahlwerker aus Wuppertal", antwortete Gomulka. "Er war bis vor kurzem als Ofenmeister u. k. gestellt." - "Wieso kennst du ihn?" - "Ich hab ihn nach Weihnachten dann und wann in der Kantine getroffen."
Sie stiegen ein. Der Gefreite gab Gas. Klein Nieritz war ein winziges Dorf. "17. Panzerdivision?" Kopfschütteln. Ein undefinierbarer Stab einer undefinierbaren Einheit, bestehend aus drei Feldwebeln, ein paar Kraftfahrern und einem Dutzend konfuser Offiziere, befand sich in Auflösung. Vor dem Haus standen Lastwagen mit laufenden Motoren. Wolzow fragte. Einer schob sie zum anderen ab. Schließlich schickte man sie in ein Zimmer zu einem Major.
Der Major telefonierte, mit hochrotem Gesicht. "Aber ich sage Ihnen doch, zwischen hier und dem Russen ist nichts! Nein! Kein Panzerkorps, nur Volkssturm! Nein! Wer das sagt, ist ein Narr! Nein! Keine Nachrichten! Die letzten Nachrichten sind überholt! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Korps Nehring kämpft sich von Kalisch auf die Oder zurück! Nein! Die Russen sind mitten dazwischen! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Saucken steht noch weiter östlich als Nehring! Nein! Sie sind auf Breslau angesetzt. Nein! Wenn sie die Oder überhaupt erreichen, dann viel weiter nördlich! Nein! Von hier bis Oppeln ist ein Loch! Nein, Oppeln kann jede Stunde fallen! Nein! An der Oder soll die neue Linie aufgebaut werden, Ohlau - Brieg - Oppeln... Nein! Ich muss hier weg, sofort!"
Er horchte Lind musterte Holt und Wolzow. Dann rief er ins Mikrophon: "Was? Nein? Gut! Nein! Schluss!" Er warf den Hörer auf den Tisch und schrie: "Was wolln Sie!" - "Wir suchen die Panzerjagddivision, Herr Major", sagte Wolzow. Der Major brüllte unbeherrscht: "Aber doch weiß Gott nicht hier! Suchen Sie, wo Sie wollen, aber doch nicht hier!" Handbewegung im Kreis. "Hier gibt es Wald, Eis, Schnee, Sumpf und Russen! Gleich gibt es so viel Russen, wie Sie wollen!" Er brüllte immer lauter: "Ja, bin ich denn unter Narren gefallen? Ich hab keine Zeit! Raus! Es gibt überhaupt keine Panzerjagddivision, das ist Narretei!"
Wolzow grinste, und das Grinsen schien den Major merkwürdigerweise zu beruhigen. Er fragte leiser, in zitternder Nervosität: "Was wollen Sie? Ich hab keine Zeit." - "Panzerjagdkommando, motorisiert", sagte Wolzow, "gut bewaffnet, Herr Major, wir brauchen einen Kampfauftrag, Karten und etwas Benzin. Wenigstens einen Tipp, wo wir hinsolln."
"Sie sind ein Narr!" schrie der Major wieder. "Karten?" Er sah sich um. "Hier, Karten, da haben Sie Haun Sie ab mit Ihren Karten!" Er schmiss Wolzow einen dicken Packen vor die Füße. "Benzin? Auf dem Hof ist Benzin! Das Benzin tanken morgen die Russen!" - "Und wo sollen wir hin?"
"Ins Narrenhaus!" schrie der Major und tastete mit fliegenden Händen über sich hin, vom Hals zum Koppel, vom Koppel zum Kragen. Dann legte er beide Hände an, die Schläfen. "Fahrn Sie nach Ohlau, oder nach Brieg, oder nach Oppeln, melden Sie sich bei Major Lindner! Raus!"
Draußen sagte Wolzow kopfschüttelnd: "Als Stabsoffizier müsste er sich etwas mehr in der Gewalt haben!" - "Das kann heiter werden", sagte Holt. Der Gefreite holte Benzinkanister vom Hof. "Zurück nach Breslau, ob wir den Burgkert wiederfinden!" befahl Wolzow und studierte die Karte.
In Breslau gab es eine "Auffangstelle", dort hieß es: "Sie kommen in eine Alarmkompanie!" Wolzow protestierte so lange, bis sie vor einen Oberstleutnant gerieten. "In Klein Nieritz liegt ein Divisionsstab, die 17. P. D. Zeigen Sie erst mal Ihre Papiere!" - "In Klein Nieritz gibt es keine 17. P. D! Ein Major hat uns zu einem Major Lindner geschickt!" - Major Lindner? Der ist doch in Klein Nieritz!" So ging es weiter. Ein Hauptmann mit dem Gesicht eines Gallenleidenden, trüben Augen, gelber Gesichtsfarbe sprach in gequältem Ton: "Keine Ahnung, Major Lindner liegt mit seinem Stab in Oels, falls da nicht schon der Russe ist! Zur Kampfgruppe Buchert müssen Sie! Zeigen Sie mal die Papiere!" Sie sind alle verrückt geworden, dachte Holt. "Von der Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26? Da gehören Sie doch zur 11. P. D.! Die liegt auch hier irgendwo!" - "Nein, Herr Hauptmann." - "Keine Ahnung", schrie der Hauptmann. "Funker? Panzerfunker? Hier wird eine Kampfgruppe aufgestellt. Sie bleiben hier. Die Panzer sind noch nicht da!" Aber im nächsten Zimmer drückte ein Offizier mit müder Bewegung die nötigen Stempel auf die Papiere, ohne viel zu fragen. Sie erhielten freie Fahrt Richtung Oberschlesien. "Beeilen Sie sich! Überall werden die Brücken gesprengt!"
Der Gefreite schlug frierend die Arme um den Körper. Es schneite und stürmte. Gomulka unterhielt sich mit ein paar alten Soldaten. Dann fuhren sie los, am westlichen Ufer strom-aufwärts. Bald erreichten sie eine kleine Stadt. Sie hielten bei dem großen Kasernenkomplex. Dort zerrte man ein paar 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze aus den Hallen. Der Kasernenhof war mit alten Männern vollgestopft, die hier eingekleidet, bewaffnet und zu Volkssturmeinheiten zusammengestellt wurden.
Wolzow fragte sich zum Hauptkommandanten durch. Holt stand an der Straße und sah den Strom der Flüchtlinge vorbeiziehen, Frauen, vom Schneesturm weiß überstiebt, in Decken gewickelte Kinder, Schlitten und Handwagen, Bettzeug, Hausrat, armselige Habe, Greise an Stöcken wankend, zerlumpt, alte Frauen in Umschlagtüchern, ein furchtbarer Zug des Elends, der Verzweiflung. Holt dachte an die verhungernden Gestalten der Gefangenen in der Batterie. Nun ist es über uns gekommen. Schnee fiel, immer mehr, und deckte alles zu.
Wolzow kam zurück. "Ich hab einen Kampfauftrag! Los, ab!" Auf der Fahrt erzählte er. Am östlichen Oderufer stand ein Verband Volkssturm. Ob es kampffähige Truppenreste der zerschlagenen Front gab, wusste auch hier niemand. "Wir verstärken die Besatzung einer Panzersperre. Kampfauftrag: Panzer aufhalten, solange´s geht, bis hier eine Linie aufgebaut worden ist. Truppen sind im Anmarsch."
Die Straße führte zur Brücke. Das Ufer fiel steil zum Wasser ab. Soldaten würgten hinter dem Damm die 15-ZentimeterLangrohrgeschütze in Stellung. "Von der Artillerieabteilung 64, die hier in Garnison liegt", erzählte Wolzow, "ist kaum noch was da. Der Kommandeur, ein steinalter Major, ist Kampfkommandant... Blödsinn, hier Langrohrgeschütze aufzustellen!" schimpfte er. "Die gehören fünf Kilometer hinter die Front!" Der Wagen rollte langsam über die Brücke. "Der Kommandant hat hier Rekruten ausgebildet. Seit Verdun, sagt er ganz hilflos zu mir, hat er keine Front mehr gesehen. Ein letzter Rest vom Ersatzhaufen, ein paar Alarmkompanien aus Klein Oels, ein Haufen Volkssturm, das ist seine Truppe."
Die Oder, dieser mächtige Strom, war an beiden Ufern vereist. in der Mitte trieb die Strömung Schollen mit sich, presste sie an den Buhnenköpfen zu Packeis auf, das sich über die glatte beschneite Eisfläche bis zu den Ufern hinschob. Zwischen den treibenden Schollen glänzte das Wasser grauschwarz und ölig. Auf der Brücke begegneten ihnen Flüchtlingstrupps, auch auf der Chaussee. Wolzow ließ immer wieder halten. "Wo ist der Russe?" Man deutete nach Osten: "Sie sollen schon in Namslau sein!" - "Ist dort Militär?" - "Nur Volkssturm." - "Weiter, Horbeck"
Leer und einsam lag die Chaussee vor ihnen. Der Sturm wehte den Schnee zu weißen Dünen auf. Langsam kämpfte sich der Wagen voran. Ein Dorf, menschenleer, verlassen. In den Ställen brüllte Vieh. Vetter rief "Also, hier könnte man eine Sau rausholen!" Wolzow studierte die Karte. "Die Panzer werden unbedingt auf diese Brücke stoßen!" Er sprach, als spiele er mit Leutnant Wehnert am Sandkasten. "Von Kreuzburg her über Namslau... Es gibt keine Nachrichten, keine Luftaufklärung, nichts! Bei Oppeln sollen sie angeblich schon über die Oder sein. Ich hab jedenfalls keine Lust, unter irgendein Volkssturmkommando gestellt zu werden." - "Das ist richtig!" rief der Gefreite. "Wir bleiben am besten allein!" - "Mein ich auch", sagte Gomulka. Holt fragte: "Wie kommen wir über die Oder zurück, wenn sie die Brücken sprengen?"
"Das soll uns jetzt aber verflucht egal sein!" sagte Wolzow ungehalten. "Fahr los, Horbeck! Fahr vorsichtig!" Er sah zum Himmel. "Es schneit nicht mehr. Da stinkt´s nach Tieffliegern." - "Ich denk, die haben keine Luftwaffe?" fragte Vetter. "Was haben die nicht?" rief der Gefreite und wendete den Kopf. "Mann, die haben Schlachtflieger, dass dir noch Hören und Sehen vergehen wird!"
Die Chaussee führte durch einen Laubmischwald. Geäst und Holz waren von funkelnden Schneekristallen überzogen. Dann und wann leuchteten weiße Eisflächen zugefrorener Sümpfe durch die mächtigen Stämme. Fern dröhnte der Donner einer schweren Kanonade. Horbeck stoppte. Wolzow horchte. "Das ist weit weg! Fünfzig Kilometer vielleicht. Geht uns nichts an! Weiter!" Der Wald wich zu beiden Seiten der Straße zurück. Verschneite, sumpfige Wiesen, am Horizont der dunkle Waldstreifen, der bald wieder nahe heranrückte. Dann stieß die Straße in tiefen Wald und bog scharf nach rechts. Etwa sechzig Meter vor der Biegung lag die Panzersperre. Sie stiegen aus.
"Das ist gut gemacht", sagte Wolzow. "Der Panzer kommt aus dem Wald und sieht die Sperre erst, wenn er unmittelbar davor ist." Zwischen Sperre und Wald blieb beiderseits der Straße ein schmaler Streifen Wiese, links sumpfig, von Eis bedeckt. Ein paar Volkssturmmänner standen unbeweglich auf der Fahrbahn.
Der Gefreite lenkte den Wagen nach rechts auf die Wiese hinab, fuhr um die Sperre herum und am Waldrand ins Unterholz. Holt, die Maschinenpistole um den Hals, folgte Wolzow. "Wer kommandiert hier?" Am Waldrand sah Holt einen Schuppen, wie ihn Waldarbeiter zu benutzen pflegen. Aus der Tür trat eine Gestalt, bei deren Anblick Wolzow zu grinsen begann. Vetter brach in Gelächter aus.
Es war ein kleiner und dicker Mann von fünfzig Jahren, der da herankam. Er trug eine quittegelbe Uniform mit der Hakenkreuzbinde, bunte Norwegerhandschuhe und eine Schirmmütze. Da er ohne Mantel war, fror er. Seine Ohren standen ein wenig ab und sahen weiß aus. Sein Gesicht war rot und blau gefroren. Aus den Augen liefen Frosttränen. Am Arm baumelte ein Stahlhelm.
"Na, Sie?" sagte Wolzow.
Der Mann wusste nicht, was er von Wolzow halten sollte. Auf den weißen Tarnmänteln waren keine Rangabzeichen zu sehen. Er entschloss sich zu grüßen. "Heil Hitler! Melde Blockwart Kühl mit zwölf Mann Volkssturm auf Feldwache!"
Vetter meckerte los. "Kühl!" rief er. "Mensch, Blockwart Kalt müssten Sie heißen, Eiskalt!" Wolzow schüttelte den Kopf. "Was wollen Sie hier? Sind Sie etwa der 'Verband' Volkssturm?"
Der Blockwart sah von einem zum anderen, empört über Vetters Spott, und doch hilflos. "Wir sind die Nachhut einer Volkssturmeinheit, die heute morgen abgezogen ist. Wir haben Befehl, hier die Panzer aufzuhalten." Wolzow musterte den Blockwart, von den Füßen bis zum Kopf, dann flog sein Blick über die Volkssturmmänner, Gestalten in blaugrauen Mänteln, mit dem langen Gewehr 98 und Panzerfäusten bewaffnet. Er schüttelte den Kopf. "Mensch, Kühl! Sie werden hier zermanscht!" Der Blockwart sagte frierend: "In dieser entscheidenden Stunde gibt es keine Rücksicht auf den einzelnen! Deshalb werden wir..." - "Abhauen", sagte Wolzow. "Schnell abhauen werden Sie! Lassen Sie sich in die Oderlinie stecken, dort macht´s die Masse. Hier kommt es auf den einzelnen an! Los, ich gebe Ihnen den Befehl, Sie ziehn sich auf die Oderlinie zurück."
"Befehl?" Der Blockwart, das erkannte Holt, schwankte zwischen Misstrauen und Hoffnung. "Wer sind Sie denn?" - "Leutnant Wolzow", sagte Wolzow, ohne mit der Wimper zu zucken, "von der Panzerjagd-Divi..." Er schwieg mitten im Wort, hob das Gesicht und fuhr mit der Hand unter den Kopfschützer, um besser hören zu können. "Weg!" schrie er und sprang mit Riesensätzen zum Wald. Holt warf sich neben Vetter ins Unterholz, aber die zwölf Volkssturmmänner und der Blockwart standen noch erschrocken auf der Chaussee, als schon eine Maschine über die Wipfel raste, hochzog, wendete und steil auf die Straße hinabstieß, aus allen Rohren feuernd. Eine zweite Maschine fegte die Straße entlang, Panzersperre und Volkssturmmänner verschwanden in Rauch und Feuer, Geschosse klatschten in den Asphalt. Die beiden Schlachtflieger rasten in Richtung Oder davon.
Holt lief zur Straße. Die Volkssturmmänner standen verstört um einen Gefallenen. Der Blockwart war schweißnass und zitterte. In der Ferne dröhnte Artilleriefeuer. Wolzow fuhr den Blockwart an. "Vielleicht glaubst du mir jetzt! Haut ab!" Und als der Blockwart noch immer ratlos von einem zum anderen sah, schob sich der Gefreite in den Vordergrund. "Willst du sie wirklich wegschicken?" "Hast du was dagegen?" - "Ich? Dagegen? Bewahre!" Er zwinkerte. "Bloß, weil es heißt, du möchtest hier gewaltig kämpfen..." - "Deswegen will ich das Kroppzeug doch los sein! Das vermanscht mir doch bloß die Disposition!"
"In Ordnung!" Der Gefreite steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. Dann brüllte er: "Achtung! Lassen Sie antreten, Mann!" - "Kann er prima", sagte Vetter. Der Blockwart ließ antreten. "Die Panzerfäuste bleiben hier!" rief Wolzow. "Melde mich ab", sagte der Blockwart stramm, und seine Glieder bebten. "Heil Hitler! Rechts um... Marsch!" Sie sahen den Gestalten nach, die mit gesenkten Köpfen durch den Dunst zogen.
Wolzow untersuchte die Panzersperre. "Hat das Ding überhaupt einen Sinn?" fragte Holt zweifelnd. Der Asphalt war aufgerissen. In den Unterbau der Straße hatte man zwei Reihen starker Baumstämme gerammt. Der Zwischenraum war mit Steinen und Erde ausgefüllt. Die Erde stammte aus einer kleinen Feldstellung, die am Waldrand ausgehoben worden war, aus Löchern und Gräben.
"Jedenfalls müssen die Panzer stoppen", erklärte Wolzow nachdenklich. "Der T 34/85 fährt auf der Chaussee fünfzig Kilometer pro Stunde, in diesem Tempo triffst du ins Blaue. Vor der Sperre müssen sie die Straße verlassen und nach links auf die Wiese. Rechts geht es nicht, da ist Sumpf."
"Das Ding taugt nicht viel", meinte Holt, "die Bombe hat die Stämme ganz schön schiefgedrückt!"
"Ich hab eine Idee!" Wolzow schritt die Strecke zwischen Sperre und Waldrand ab. "Fünfzig, sechzig Meter, gut! Sie werden einen Marschabstand von fünfzig Metern halten. Nehmen wir an, der erste Wagen rollt vor die Sperre und hält. Den schießen wir ab. Jetzt kommt der zweite aus dem Wald. Den schießen wir auch ab. Jetzt hat höchstens noch ein dritter Platz, merkst du was? Die stecken im Wald, durchfahren können sie ihn nicht, da sind die Stämme viel zu dick. Wir schießen also die ersten drei ab, dann ist die Ausfahrt aus dem Wald verstopft, und wir können sie nachher aus dem Unterholz der Reihe nach abknallen. Lass ruhig eine ganze Kompanie kommen; mit denen wird ein Taktiker wie ich fertig!"
"Hm", machte Holt. Die Rechnung ging gar zu glatt auf. "Der erste Panzer ist am schwersten abzuschießen", erklärte Wolzow weiter, "aus moralischen Gründen! Vor dem ersten hat man Angst, wenn es gekracht hat und einer hochgegangen ist, dann sieht es schon besser aus. Ich brauch also was Idiotensicheres, damit der erste erledigt wird. Wir werden ihn verlocken, einfach über die Sperre wegzufahren, und ich leg mich dahinter und spreng Sperre samt Panzer in die Luft..." Er untersuchte noch einmal die Baumstämme. "Los! Von jeder Seite eine Panzerfaust dagegen, dass die Erde runtersackt..." Er kniete schon mit einer Panzerfaust im Straßengraben; die anderen verkrochen sich im Unterholz. Mund auf! Es krachte gewaltig, Holzstämme und Erdreich wirbelten durch die Luft. Der Rauch verzog sich. Durch eine breite Lücke rutschte das Erdreich auf die Straße. "Noch eine von der anderen Seite!" befahl Wolzow. Holt schoss, probeweise aus der verschneiten Feldstellung am Waldrand. Wolzow besah sich zufrieden die Verwüstung. "Jetzt rollt der erste Panzer kurz entschlossen über den Haufen weg!"
Holt fuhr zusammen. Eine ferne, mächtige Detonation erschütterte die Luft, dröhnte sekundenlang und grollte noch lange nach. Wolzow fluchte. "Jetzt haben´s die Idioten krachen gehört und haben die Brücke gesprengt!" Holt schrie: "Und wie kommen wir zurück?" - "Irgendwie", sagte Wolzow. "Das werden wir dann schon sehen."
Sie schraubten die Köpfe der Panzerfäuste ab, die von den Volkssturmmännern zurückgelassen worden waren und häuften sie samt Sprengkapseln auf den Trümmerhaufen der Sperre. "Handgranaten!" befahl Wolzow. Holt lief zum Auto.
Dort stand der Gefreite und rauchte. Vetter schanzte abseits am Waldrand, er verlängerte den Graben bis ins Unterholz. Holt sagte: "Du könntest ihm helfen!" - "Blinder Eifer schadet nur", spottete der Gefreite. Dann wurde er unvermittelt ernst. "Hör mal, Holt. Willst du hier wirklich..." Er machte eine Kopfbewegung zur Panzersperre hin; er zwinkerte..
Holt blickte befremdet auf. "Was soll das..."
Der Gefreite sah ihn merkwürdig an. "Na schön", sagte er... Dann schlug er Holt auf die Schulter. "Nichts für ungut."
Holt trug die Handgranaten zu Wolzow. Er dachte: Was ist mit dem los? Das ist doch... alles Maske! Er erinnerte sich an die Gesprächsfetzen, die er nachts mit angehört hatte und die nun einen Doppelsinn erhielten... Der ist in Wirklichkeit ganz anders!
Wolzow häufte die Handgranaten auf die Panzerfäuste und betrachtete mit schräggelegtem Kopf sein Werk. "Das haut die ganze Sperre kurz und klein! In dem ersten Panzer möcht ich nicht sitzen!" Er sah zum Himmel. "Schneit wieder, das ist die beste Tarnung." Er nahm Holt am Arm. "Den Russen werd ich zeigen, was überlegene Taktik vermag! Ich bring die bessere Stellung ins Spiel! Ich nütze das Überraschungsmoment zu meinen Gunsten aus! So kühn, wie ich geplant habe, halten wir hier eine ganze Kompanie auf! Die Sache mit der Panzersperre hätte Moltke eine geniale Aushilfe genannt!" Holt nahm den Helm ab, zog den Kopfschützer ab und fuhr sich durchs nasse Haar. Aber Wolzows Zuversicht riss ihn doch mit. Er erinnerte sich an das Zeitungsblatt. Die Russen sollen ganz minderwertige Kämpfer sein, dachte er, vor allem die Panzerbesatzungen sollen gar nichts taugen... Er schnallte den Spaten vom Koppel und half Wolzow, ein Schützenloch jenseits der Sperre auszuheben. Der Tag ging zur Neige. "Von hier schieß ich eine Panzerfaust drauf, wenn der erste Panzer mit der Wanne schön über dem Haufen ist!" sagte Wolzow. Es dunkelte. "Vetter! Du gehst mit dem MG drüben am Waldrand in Stellung!" - "Das Auto lassen wir erst mal stehn", sagte der Gefreite. "Das bring ich in der Nachtschicht weg." Vetter blieb als Wache draußen.
In der Hütte spuckte ein kleiner Kanonenofen wohlige Wärme. An den Bretterwänden standen rohe Holzbänke. Durch die Ritzen pfiff der Schneesturm.
Wolzow saß am Ofen. Holt lehnte mit dem Rücken an der Wand und versuchte, im Sitzen zu schlafen. Der Gefreite hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen. Ein Hindenburglicht warf flackernde Schatten durch den Raum. Wolzow schmolz Schneewasser, ließ es kochen und brühte Pfefferminztee. Gomulka sagte: "Wolzow... Jetzt erklär mir noch mal genau, warum du den Volkssturm weggeschickt hast."
"Weil die Leute ohne jede Kampfkraft sind", antwortete Wolzow. "Ich kämpf doch in so einer komplizierten Lage nicht mit Leuten, die eigentlich gar nicht wollen und nur gezwungen mitmachen. Das bringt doch nichts ein, auf solche Leute ist kein Verlass!"
Gomulka stand auf und ging ein paarmal in der kleinen Baracke auf und ab, die Maschinenpistole unter dem Arm. Dann blieb er am Eingang stehen, an den Türpfosten gelehnt. "Du kämpfst nicht mit Leuten... die nur gezwungen mitmachen und.., eigentlich gar nicht wollen", wiederholte er stockend.
Holt blickte auf. Gomulka hatte die Maschinenpistole an der Hüfte angeschlagen, sie war entsichert. Der Finger lag am Abzug. Die Mündung wies auf Wolzow. Gomulkas Gesicht war kreideweiß.
Was ist... was ist los? dachte Holt.
"Gilt das bloß für den Volkssturm", hörte er Gomulka fragen, "oder auch für andere?"
Wolzow hob den Blick, sah lange auf Gomulka und fragte dann: "Versteh ich dich recht, Sepp?"
"Ja", sagte Gomulka. "Ich denke, jetzt hast du mich verstanden... Bleib sitzen, Wolzow!" rief er, als Wolzow sich bewegte, und fügte hinzu: "Ich hab dir was zu sagen!"
Der Gefreite, in seiner Ecke, in die nur blasses Kerzenlicht fiel, beugte sich nach vorn. Er blickte abwechselnd auf Gomulka und auf Wolzow und warf dann einen prüfenden Blick auf Holt. Holt saß unbeweglich auf der hölzernen Bank, fasziniert durch das Schauspiel, das vor seinen Blicken in Szene ging, das er nicht begriff oder nicht begreifen wollte.
"Ich hab mich... aus einem Grund hab ich mich hierher gemeldet", sagte Gomulka, atemlos vor Aufregung. "Ich mach nicht mehr mit. Also, ich geh zu den Russen!"
Es blieb lange still.
Wolzow sagte: "Du hast einen Eid geschworen, Sepp!"
"Ich hab ihn schwören müssen", rief Gomulka, "man hat ihn mir abgepresst!"
"Du bist Kriegsfreiwilliger", sagte Wolzow. "Ein Kriegsfreiwilliger kann nicht sagen, dass ihm der Eid abgepresst worden ist."
Gomulka atmete so erregt, dass sich seine Schultern hoben und senkten. "Egal! Dann werd ich eidbrüchig!"
"Ein Lump, wer seinen Kriegsherrn im Stich lässt!" sagte Wolzow in einem kalten und feindlichen Ton.
Aber da brüllte Gomulka los, und die Narbe schwoll in seinem Gesicht:
"Kriegsherr... Das ist nicht mein Kriegsherr! Das ist nicht mein Krieg! Du nennst den Hitler deinen Kriegsherrn und hältst ihm den Eid... Ich nenn ihn einen Verbrecher... einen wahnsinnigen Mörder! Ich gehorch nicht mehr! Ich... hab gekämpft bei der Flak, ich hab geglaubt, es ist für Deutschland ... Ich hab nicht hören wollen und nicht sehn, wie er alles in den Dreck gezogen hat und Deutschland zur Sau gemacht... und wie wir für ihn zu Verbrechern werden müssen! Aber dann ist mir´s klargeworden! Und jetzt mach ich Schluss!"
In der Stille, die diesen Worten folgte, erhob sich der Gefreite in seiner Ecke, aber niemand achtete darauf.
"Ich hab auf dem Hof gestanden", rief Gomulka leidenschaftlich, "und wenn es der Böhm befohlen hätte, da wär ich zum Mörder geworden an dem Hausmeister, obwohl der recht hatte, als er schoss, denn der Schulze gehörte hin, dieses Untier... Aber ich sollte drüber zum Mörder werden! Ich lass mich nicht zum Mörder machen von dem! Eh so was wiederkommt, geh ich! Jawohl... ich geh!"
Schweigen.
"Und du", fuhr Gomulka ruhiger fort, "du kannst nicht sagen, dass ich was Falsches will, außer dass ich meinen Eid brech! Aber ein Eid, den ich diesem Gesindel geschworen hab, der bindet nicht!" Und nun schrie er seine Anklage Wolzow ins Gesicht. "Du kannst gar nichts dagegen sagen, Wolzow, überhaupt nichts!, denn du weißt alles! Denk an die Sägemühle! Du weißt viel mehr, als du zugibst! Du hast uns nie die Wahrheit gesagt, wenn sie dir nicht in den Kram gepasst hat! Du willst uns zugrunde richten, Wolzow, damit du deine Freude am Kriegsspiel hast! Und dass er für eine Lumperei ist, der ganze Kampf, das weißt du am besten! Du weißt alles! Du kennst den Kommissarbefehl, durch den schon dein Vater zum... zum Verbrecher geworden ist, jawohl, zum Verbrecher! Du kennst den Nacht-und-Nebel-Erlass, du kennst die 'Endlösung der Judenfrage', du weißt. genau, was Auschwitz ist, du hast die Zähneeinschläger bei der Gestapo in Essen selber gesehn! Du weißt überhaupt alles! Denn es steht alles in den Tagebüchern deines Vaters. Deine Mutter hat es daheim vielen Leuten erzählt, und du weißt auch, dass dein Vater seine Offiziersehre tausendfach besudelt und geschändet hat!"
Der Schein des Hindenburglichts flackerte noch trüber über Wolzows Gesicht, das nun weiß wie die gekalkte Barackenwand war. Aber Gomulka schwieg noch immer nicht. Es brach aus ihm hervor und wollte gesagt sein: "So einem Führer bin ich keine Treue schuldig! Ich mach nicht mehr mit! Und jetzt gib mir dein Wort, Wolzow, dass du mich gehn lässt!"
Wolzow stand auf und legte die Rechte auf die Pistolentasche. Er wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung zu Gomulka herum. Die Mündung der Maschinenpistole war auf seine Brust gerichtet. "So nicht", sagte er drohend. Er sah mit einem dunklen Blick auf Gomulka. "Nimm die MP weg! Ich zähl bis drei."
"Und dann? Was ist dann?" schrie Gomulka.
"Dann knall ich dich ab... Eins..."
"Ich schieß!" schrie Gomulka außer sich. "Eh ich einen Schuss auf die Russen abgeb, schieß ich dich zusammen, es ist mein heiliger Ernst! Du weißt, dass ganz Deutschland wie die Sägemühle ist, Wolzow, und du willst weiterkämpfen, damit die Sauerei nicht ans Licht kommt..."
"Zwei..." zählte Wolzow, ging einen Schritt auf Gomulka zu und duckte sich zum Sprung.
"Wolzow!" schrie Gomulka, und die Hand am Abzug krampfte sich schon zusammen. Holt warf sich dazwischen. Er begriff nur eins: Sepp wird schießen! "Wahnsinnig seid ihr! Die Maschinenpistole weg! Gilbert... zurück! Eh ihr aufeinander schießt..." Er wusste nicht, was er tat, er riss eine Handgranate aus dem Koppel und hielt schon die Schnur in der Faust. "Ich zieh ab!"
Gomulka senkte widerwillig den Lauf der Maschinenpistole und sagte dabei: "Ich geh! Mich hält keiner! Und ich lass mich nicht von Wolzow abknallen!"
"Gilbert!" rief Holt. "Zum... zweitenmal im Leben erinner ich dich... du hast mir geschworen..."
"Ich knall ihn ab, den Lump, den Verräter", sagte Wolzow hassvoll. Die Waffe, die noch immer auf ihn gerichtet war, erregte ihn mehr und mehr. Holt schrie: "Sepp! Die MP weg!" Gomulka gehorchte zögernd. "Gilbert... setz dich dort hin!" Wolzow setzte sich endlich, Wut in den Augen. Holt atmete auf. Als er sich umwandte, sah er den Gefreiten in der Ecke den Karabiner absetzen.
"Lässt du ihn gehn?" fragte Holt. Wolzow schwieg und warf wortlos ein paar Holzscheite in den Ofen. Gomulka hängte die Maschinenpistole um den Hals.
Jetzt erst erfasste Holt die volle Tragweite dessen, was Gomulka vorhatte. "Die Russen!" rief er. "Die schlagen dich tot! Sie bringen doch alle um!"
Da rief der Gefreite in der Ecke. "Hör auf! Hör mit dem Schwindel auf. Ich hab das lange genug herunterschlucken müssen!... Ja... im Nahkampf, wenn dir´s da plötzlich einfällt, dann ist es längst zu spät, längst! Aber nicht, wenn wir ruhig ankommen, mit einem Auto, und ich kann ein paar Worte Russisch...! Was meinst du, wie die sich da freuen!"
Sie sahen alle auf den Gefreiten. Gomulka fragte verwundert: "Wir?"
"Ja... was denkst du denn von mir! Was meinst du denn, warum ich mich freiwillig gemeldet hab! Panzerjagd? Nie! Bei mir ist Generalstreik, mein Lieber, aber nicht Krieg. Krieg ist einwandfrei Fehlcharge bei mir!"
Holt sah auf den Gefreiten und sah auf Gomulka. Eine Ahnung dämmerte in ihm, ganz fern zeichnete es sich ab wie ein Weg... Und nun sagte Gomulka: "Werner..." Und sagte: "Komm mit!" Nur diese drei Worte.
Da hob Wolzow den Kopf und sah Holt an.
Holt schwieg.
"Komm mit!" sagte Gomulka noch einmal.
Holt schwieg.
Der Gefreite rief: "Besinn dich nicht lange, los!"
"Ich kann nicht!" rief Holt. Im Bruchteil einer Sekunde liefen all die eingedrillten Begriffe durch seine Gedanken: Vaterland, Treue, Ehre, Pflicht. "Ich kann doch nicht zu den Russen! Ich bin doch Deutscher!"
"Junge!" rief der Gefreite. "Mach Schluss mit den Phrasen! Damit haben sie die Arbeiter lange genug aufeinandergehetzt! Sieh endlich ein, wer unser Todfeind ist! ... Es heißt nicht: Russen und Deutsche, sondern es heißt immer noch: Bourgeois und Proletarier! Bist du Fabrikbesitzer? Heißt du Krupp? Also! Worauf wartest du?"
"Bourgeois und Proletarier... " sagte Holt, "was soll mir das! Damit kann ich nichts anfangen! Wir sind alle Deutsche!" "Auch deine Gundel", sagte Gomulka.
Holt senkte den Kopf.
Die Dunkelheit des kleinen Raumes war auf einmal wie ein Vorhang vor seinen Blicken aufgezogen. Gleißende Helle war da, und sie blendete ihn, sonnendurchglühte Landschaft, blauer Himmel über wogendem Korn. Und Gundels Stimme: Auch ich bin schon angespuckt worden, nun weißt du´s, alle waren besser als ich und haben auf mich geschrien: Dreckstück.
Dann war wieder Dunkel, vom Licht der Kerze durchflackert.
Gundel, Deutsche, solche und solche, Deutsche bespucken Deutsche, die einen zittern vor dem Ende, die andern warten auf das Ende. Zu welchen gehör ich?
"Gilbert!" rief Holt. "So sag du doch was!" Wolzow erhob sich. Er setzte den Helm auf und zog den Riemen fest, dass er ins Fleisch schnitt. "Ich geh den Vetter ablösen. Und du, Werner? Wer noch Mark in den Knochen hat, der kämpft!"
"Und wofür?" schrie der Gefreite, nach vorn geneigt, und in seinen Augen glühte ein Hass, wie ihn Holt im Leben nur ein einziges Mal gesehen hatte, damals, im Schuppen, als sie das Beil hob, und diese Erinnerung stieß ihn noch tiefer in die Verzweiflung.
"Für wen? Für Krupp und die IG und alle die Blutsauger, damit das faschistische Gesindel noch ein bisschen länger leben und die Völker schinden kann! Dafür kämpfst du!"
Wolzow tippte mit dem Finger unter dem Helmrand an die Stirn. "Ich will dir sagen, wofür! Kapieren wirst du Stückchen Plebs es doch nicht!" Er ging zur Tür. "Für meine Soldatenehre!" Er warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Der Gefreite sprang auf, er wies mit der ausgestreckten Hand zur Tür. "Das sind sie! So sehn sie aus, die Halsabschneider, die Verrückten, das Generalsgesindel und Junkerpack! Sie sind genauso schlimm wie die Faschisten! Sie sind noch schlimmer! Die Faschisten verschwinden, die fliegen auf den Schrotthaufen, und zwar bald, die warn nicht lebensfähig, jawohl, Fehlcharge... fort! Aber das Militaristengesindel, das ist zäher, das will nicht aussterben, das lebt weiter, das hetzt weiter, das mordet weiter!"
"Sei doch still!" sagte Holt. Er sah auf Gomulka und hörte ihn noch einmal sagen: "Komm mit, Werner!"
Holt stand auf. Wär doch alles vorbei! Er band den Helm fest und nahm die Maschinenpistole. "Ich kann nicht."
"Werner! Mach die Augen auf! Eh es zu spät ist!"
Holt sprach gegen die Wand. "Ich kann nicht. Ich hab einmal alles geglaubt, weil ich nichts gewusst hab. Jetzt, wo ich alles weiß, und alles war falsch und umsonst und ganz anders, da kann ich nichts mehr glauben. Ich werd draufgehn, oder ich werd einmal dastehn als ... Verbrecher, mag sein, es ist alles gleich. Nur eins darf nie sein: dass ich vielleicht doch einmal aufwach und sehen muss... ich hab Deutschland verraten in seiner schwersten Stunde."
"Deutschland?" rief der Gefreite. Er trat vor Holt hin und packte ihn am Arm. "Du nimmst mir das Wort nicht in den Mund! Hitlers schwerste Stunde, meinst du, jawohl... aber das wird Deutschlands schönste sein!" Er schob ihn zur Tür. "Hau ab, Bourgeoissöhnchen!"
Holt trat verstört ins Freie.
Es schneite nicht mehr. Der frischgefallene Schnee lag kniehoch und war an der Straße zu weißen Dünen verweht, über die noch immer ein eisiger Wind pfiff. Der Himmel war sternklar.
Vetter und Wolzow standen am Rande des Waldes, wo sich der Wind in den Bäumen verfing. Wolzow sagte: "Na also, Werner! Ich hab´s ja gewusst!" - "Sei still", sagte Holt. Dann zog er die weiße Kapuze über den Helm. Vetter rief: "Also, der Sepp, der muss ja übergeschnappt sein! Wo das doch noch gar nicht feststeht, ob wir den Krieg verlieren! Nachher kommen die neuen Waffen und wir gewinnen! Na, dann haben sie den Sepp aber am Arsch!" - "Halt den Mund!" rief Holt. Wolzow erklärte: "Christian, du sicherst mit dem MG am Waldrand, du lässt aus dem Panzer keinen aussteigen, das ist deine Hauptaufgabe! Ich lieg hinter der Sperre. Werner, du gehst vorn am Waldrand in ein Loch und schießt auf den zweiten, sobald er aus dem Wald kommt." Holt nickte wortlos.
Die Mondsichel stieg über die Wälder. Der Schnee glänzte in weißem, gespenstischem Licht. Die Landschaft war wie verschleiert.
Gomulka und der Gefreite verließen die Baracke. Holt ging zu den beiden hin. Wolzow stand auf der Straße. Der Wind schlief ein. Gomulka zog ein kleines Kärtchen aus der Tasche, ein Bild seiner Mutter. "Schick das meinem Vater, Werner. Kannst schreiben, du hättest es mir selbst abgenommen, er weiß auch so Bescheid, wenn ich hier die obere Ecke abreiß." - "Nichts als weg!" sagte der Gefreite. "Los, abstechen, ehe die Charge rückphosphort... eh der Kerl wieder verrückt spielt, mein ich." Er befestigte einen Fetzen Bettuch an einem Ast und ließ den Motor des Wagens warmlaufen.
"Leb wohl, Werner!" sagte Gomulka.
Holt lief zu Wolzow. Wolzow hielt die entsicherte Maschinenpistole in den Händen, und sein Gesicht war verzerrt. Aber Holt stellte sich dicht vor ihn hin, bis hinter seinem Rücken der Wagen mit aufheulendem Motor auf der verschneiten Chaussee davonrollte.
Wolzow sagte finster: "Es war das letztemal, dass ich mich hab beim Wort nehmen lassen, damit du´s weißt! Mein Soldateneid geht über den kindischen Schwur von damals. Von jetzt ab wird jeder Verräter umgelegt, und wenn´s mein eigener Bruder wär!" Wolzow und Vetter gingen in die Baracke. Holt blieb am Waldrand stehen. Die Leere in ihm füllte kein Gedanke, keine Hoffnung mehr aus.
Es war gegen sechs Uhr morgens, als Holt zusammenschrak. Er horchte. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er lange Zeit nichts vernahm. Dann war es wieder da, das ferne, leise Klirren. Ein dunkler Brummton summte dazwischen. Panzer!
Er lief schreiend zur Baracke. Wolzow und Vetter fuhren aus dem Schlaf, warfen das Sturmgepäck auf den Rücken, Gasmaske, Koppel, fertig! "Christian... ans MG!" Vetter hetzte über die Wiese.
"Still!" Das Klirren näherte sich. Es war nicht festzustellen, in welcher Richtung die Panzer fuhren, es klirrte im Osten, es klirrte im Süden, lauter und lauter. Dann blieb es als gleichmäßiger Ton im Norden und Südosten, wohl eine Stunde lang, ohne näherzukommen.
"Was müssen das für Panzermassen sein!" sagte Holt. Wolzow antwortete: "Aber die kommen nicht hier lang, sonst wären sie schon da, sie stoßen wohl südlich auf Brieg und im Norden durch Namslau nach Oels... Vielleicht kommen hier bloß ein paar Einzelgänger vorbei!"
Sie kamen, als fahles Morgenlicht über die Wälder stieg: dreizehn Panzer T 34, dicht gefolgt von einem Dutzend Schützenpanzerwagen mit Infanterie. Der Stoß traf die drei Jungen mit der elementaren Gewalt einer Naturkatastrophe. Es dauerte nur eine Minute.
Plötzlich schwoll das Klirren der Panzerketten, das Summen der Motoren an und kam rasch näher. Holt kroch in sein Loch, Wolzow verschwand hinter der Sperre. Der erste Panzer, in ohrenbetäubendes Gerassel gehüllt, raste aus dem Wald, sah die zertrümmerte Barrikade und bremste scharf. Dann nahm er mit aufbrüllendem Motor das Hindernis an. Holt, wie hypnotisiert, sah das stählerne Ungetüm auf die Sperre klettern... da traf ihn zugleich mit einem grellweißen Lichtblitz die Druckwelle wie ein Keulenschlag und wart ihn in sein Loch. Die Detonation war gewaltig, fuhr wie ein Orkan in die Bäume des Waldes und brach mit hohlem Ächzen ein paar Stämme... Ein pfeifender Luftsog trieb Rauch und Schnee zum Himmel hoch und fetzte die Dunstwolke auseinander. Die Sperre war weggefegt. In einem flachen Trichter, zur Seite gesackt, lag qualmend der Panzer. Wolzow taumelte über die Wiese.
In diesem Augenblick rollte der zweite Panzer aus dem Wald und Wolzow flüchtete. Der Panzer drehte sich mit einem einzigen Ruck um neunzig Grad und stieß schon von der Chaussee auf die Wiese hinab. Holt sank in sein Loch. Eine MG-Garbe warf Schnee und Erde auf ihn, dann rollte der Panzer über ihn hinweg und gegen den Graben. Holt tauchte auf, feuerte eine Panzerfaust ab und traf viel zu niedrig. Die Druckwelle warf ihn zu Boden. Aus dem Heck des Panzers troff brennendes Öl. Aber der Turm schwenkte mit unheimlicher Geschwindigkeit nach hinten. Holt kroch ins Gebüsch am Waldrand. Krachend barst eine Sprenggranate zwischen den Bäumen. Nun schmetterten zwei Panzerkanonen zugleich, denn der dritte Panzer war weit nach vorn auf die Straße gerollt, mit seitwärts gedrehtem Turm, aus dem Rohr fuhr ein meterlanger Flammenstrahl. Dann war schon mit entnervendem "Urrä" ein Zug abgesessener Infanterie über ihnen.
Holt hatte das Grabenstück erreicht, dort feuerte Vetter mit dem MG blindlings über die Lichtung. Eine Handgranate überschüttete sie mit glühenden Splittern. Zwei, drei Gestalten in Schneemänteln waren am Graben, sie schossen im Laufen, Feuer spritzte, Erde stiebte. Vetter floh nach hinten in den Wald. Holt prallte mit Wolzow zusammen. Wolzow floh. Dichtes Unterholz nahm sie auf. Holt rannte tiefer in den Wald.
Sie wurden nicht verfolgt. Der Feuerlärm war verstummt. Sie hielten atemlos und horchten: Motoren dröhnten, Panzerketten klirrten, rasch schwächer werdend, nun schon wieder weit entfernt.
"Oh verdammt!" keuchte Wolzow. "Oh gottverdammt..." Holt lehnte mit jagendem Herzen an einem Baum. Was nun? Er zitterte noch immer. "Nichts als zurück!" befahl Wolzow. "Vielleicht schaffen wir´s noch irgendwie über die Oder!" Er rückte sich das Koppel zurecht. "Unseren Kampfauftrag haben wir jedenfalls erfüllt: Panzer aufhalten, solange es geht. Länger ging´s nicht."
Flucht. Nach Westen durch die Wälder, über brechendes Eis der Sümpfe, uferlose Felder und durch struppiges Dickicht. An der Oder rollte der Donner einer Kanonade aus Panzerkanonen. Nach Stunden erreichten sie den Strom, dicht unterhalb der kleinen Stadt. Nur zwei Kilometer aufwärts sahen sie die Panzerspitze am Ufer, bei der gesprengten Brücke. Der Donner der Kanonen, die flach über den Strom feuerten, war so laut, dass sie sich nicht mehr verständigen konnten. Am anderen Ufer brüllten dann und wann die 15-Zentimeter-Langrohre auf. Als ein Sturmboot die drei über den Strom holte, durch Packeis und treibende Eisschollen, setzte stromaufwärts schon die Infanterie über und stürmte den Damm. Die Langrohre schwiegen.
Holt kletterte die steile Uferböschung hoch. Er war in einem solchen Maß demoralisiert, dass er sich am liebsten in einer Schneewehe verkrochen hätte. Er wankte den ersten ländlichen Häusern der Stadt entgegen und schob im Laufen ein paar Täfelchen der koffeinversetzten Schokolade in den Mund. Die lähmende Erschöpfung ließ ihn das Kommende wie im Halbschlaf erleben: ein Auffangkommando, ein Haufen heruntergekommener Gestalten, Volkssturm, halbinvalide Reservisten, schlecht bewaffnet… in einem Gehöft Sammeln zum Gegenstoß! Ein Leutnant voran, durch Gärten, durch winklige Gassen, dann die breite Straße hoch zur Brücke… Schlachtflieger, Splitterbomben, Motorengedröhn und Bordwaffenfeuer... Tote, überall Tote... der Leutnant bewegungslos im Schnee... Wolzows Stimme: "Zurück!" Ein Haus am Straßenrand... Wieder Wolzows Gebrüll: "Sie greifen an!" Von der Brücke her, locker geordnet, in Schneemänteln, stürmende Infanterie...
Holt kniete keuchend hinter dem Fensterloch eines niedrigen, erdgeschossigen Hauses. Wie durch einen Schleier sah er Wolzow ein neues Magazin in die Maschinenpistole einsetzen. "Zu-rück!" Flucht durch Gärten... Wieder in einem Haus festgekrampft... Ein Dutzend zermürbter. Gestalten, führerlos, waffenlos, ist das die Truppe? Und nun das Heulen der Granaten, berstende Einschläge, fern vom rechten Oderufer her Abschüsse von Feldgeschützen... Schlachtflieger, dröhnende Motoren, das Hämmern der Bordkanonen, Flucht von Haus zu Haus, hinwerfen, auf und hinwerfen, Christian, gib mir ein Magazin, nur noch Einzelfeuer, schieß doch! Dal... Und wieder .Wolzow: "Zurück!"
Im Keller eines Hauses an dem kleinen Marktplatz kam Holt zu sich. Die angreifende Infanterie ließ sie zur Besinnung kommen, stieß nicht weiter vor. "Jetzt setzen die erst einmal Truppen über, Panzer, Artillerie", sagte Wolzow. "Prima Brückenkopf", meinte Vetter. Ein Donnerschlag ließ den Keller erheben, das Dach rasselte auf die Straße. Schlachtflieger strichen über die Ruinen. Wolzow schickte Vetter ins Ungewisse.
Nach einer Stunde keuchte Vetter mit einer Kiste Pistolenmunition in den Keller. Im Halbdunkel saßen Volkssturmmänner bewegungslos an den Wänden, stumpf, wie tot, unfähig zur Flucht. Wolzow fuhr sie hart an, ließ sie Magazine füllen. Ab und zu schlugen aus den gegenüberliegenden Häusern Schüsse gegen die Ziegelwände.
"Was ist draußen los, Christian?"
Vetter setzte die Feldflasche ab. "Das solln sibirische Schützen sein, die uns angreifen, Russen aus Sibirien, mit einer besonderen Nahkampfausbildung, solche Sturmspezialisten! Hier ist fast alles getürmt. Aber in Strehlen... Gibt´s das? Da soll heut nacht eine Division losgeschickt worden sein, mit Panzern, Wir sollen aushalten, bis sie kommen."
"Die müssten längst hier sein", sagte Wolzow.
Aus den gegenüberliegenden Häusern schlug heftiges Feuer. Holt hockte apathisch in einer Ecke. Er dachte an Gomulka. Wolzow brüllte: "Raus!" Auf den Markt rollten die ersten Panzer. Sprenggranaten krachten in die Keller. Flammen, einstürzende Häuser. Klirrende Panzerketten überall. Panik. Regellose Flucht.
Eine kleine, beschädigte Holzbrücke, davor ein schreiender Menschenhaufen, in den die Panzer hineinstießen. "Nach links!" kreischte Wolzow. Breit und offen eine Straße, brennende Häuser, Holt wusste nicht, was er tat, er handelte willenlos, aber sein Blick nahm alles auf: Wieder, in weißen Schneemänteln, dicht hinter ihnen, die stürmende Infanterie. Panzer folgten nach, überholten sie feuernd. Rechts das Gelände einer brennenden Gasanstalt, Wolzow floh voran, Vetter wie ein Schatten an seiner Seite... Hinter verschneiten Kokshaufen eine leichte Pak, zwei ältere Artillerieoffiziere knieten dabei, die Pak feuerte, der erste Panzer walzte Kanone und Bedienung in den Koks... Hinwerfen! Hinter einer umgestürzten Kipplore rang Holt nach Luft, ließ den Panzer vorüberrollen, schoss auf die nachfolgende Infanterie. flucht. Ein Bretterzaun! Verzweifelter Sprung. Er fiel samt den Planken auf die Straße. Brennende Villen. Panzer vor ihm, links, überall... Eine Tankstelle, aus der fauchend ein Riesenfeuer schlug. "Schneller!" Wolzow war neben ihm, Vetter folgte. Eine Parkanlage, in der Sprenggranaten krepierten. Große zugefrorene Teiche, splitterndes Eis unter den Stiefeln. Endlich... der Bahndamm!
Hier hielt die Garnisonstruppe eine Feldstellung. Wolzow, Holt und Vetter krallten sich am Bahndamm fest. Hundert Meter rechts lag der Bahnhof, dahinter, am Bahnübergang, rollten die Panzer ungehindert über die Gleise, gewannen die Chaussee und jagten weiter. Fern, in Holts Rücken, wurden sie von ein paar Feldgeschützen empfangen. Das Duell der Geschütze schwoll bei sinkendem Abend zu einer mächtigen Kanonade an.
Holt lag keuchend und tödlich erschöpft im Schnee. Es dämmerte. Die Infanterie in den Schneemänteln stürmte den Bahndamm. Nahkampf. Und wieder Flucht: das Eis eines kleinen Flusses barst. Flucht durch eine tief verschneite Ebene, baumlose Weite, nur kahles Weidengebüsch, bis weit nach Westen. Hinter ihnen verstummte das Schießen.
Sie wankten zurück. Ein Haufen müder Soldaten scharte sich um Wolzow, geschlagene, zerlumpte Gestalten. Der Frost wurde noch grimmiger. Schneesturm setzte ein.
Sie erreichten ein Dorf.
Hier gab es einen Gefechtsstand, gab es Offiziere, Truppen, Pak und Feldgeschütze, Depots mit Munition. Vetter brachte eine warme Feldküchenverpflegung. Holt saß im Schnee. Vetter reichte ihm ein Kochgeschirr mit Erbsen.
"Der Russe!" Geschrei, Schüsse, im Dorf beginnende Panik. Nichts geschah, Wolzow fluchte: "Die sehn Gespenster!"
Weit vor dem Dorf im Weidengebüsch bezogen sie Stellung. Noch einmal flammte das Gefecht auf. Die Schützen in den Schneemänteln rückten in der Dunkelheit vor und nahmen das Niederungsgelände in Besitz. Einen Kilometer vor dem Dorf wurde eine improvisierte Hauptkampflinie gehalten. Fern klirrten Panzer durch die Nacht. Die Hauptkampflinie war nichts als ein paar eilig ausgehobene Schützenlöcher hinter kahlen Weiden, von den Resten ausgebluteter Alarmeinheiten besetzt. Holt grub sich ein. Neben ihm schanzten Wolzow und Vetter. Sie verbanden ihre Schützenlöcher zu einem Grabenstück und hockten nun eng beieinander. Seit Stunden sprach Holt das erste Wort. "Gib mir Feuer, Christian!" Der Funke des Feuerzeugs sprang auf. Die kleine Flamme brannte ruhig hinter der hohlen Hand.
"Da sind wir aber mitten in den dicksten Matsch geraten", sagte Vetter.
Holt starrte ins Dunkel. Nicht klagen! Ich könnte auch irgendwo mit Bauchschuß liegen. Mit abgewalzten Beinen. Als Treibeis in der Oder. Nicht klagen! Ich hab´s nicht anders gewollt.
Wolzow erhob sich und schlug die Arme um den Körper. "Komm, Werner... ins Dorf! Vielleicht klappt´s mit Papieren." Auf dem Weg redete er vor sich hin: "Die bringen jetzt Panzer rüber, immer mehr Panzer, Ari, Granatwerfer. Morgen setzen sie Schlachtflieger ein." Sie stapften durch den Schnee.
Im Dorf vor dem Gefechtsstand hielten Lastwagen. Dort stand ein bulliger Kerl im Dunklen, sein weißer Tarnmantel leuchtete. "Der Burgkert! Herr Oberfeld!"
"Ach! Lebt ihr auch noch?" Der Oberfeldwebel war nüchtern. "Mich haben sie nach Brieg geschickt. Dort sollte unsere Elfte liegen." Er spuckte aus. "Scheiße lag dort!" Ein paar Offiziere verschwanden im Haus. "Das Bataillon will türmen", sagte Burgkert. "Sie laden schon ihre Privatvorräte auf."
"Was gibt´s Neues an der Oderfront?" fragte Wolzow. "Niemand weiß Bescheid."
Der Oberfeldwebel war mürrisch und böse. "Frag nicht so dämlich! Hilf mir lieber, ich such Leute. Wir greifen an!"
"Angreifen?" rief Holt entsetzt. "Aber das ist..." - "Der Führer soll´s persönlich angeordnet haben, dass der Brückenkopf heute nacht zu zerschlagen ist."
Eine Schar Offiziere trat ins Freie. Ein Hauptmann, mit dem spitzen Kinn eines Greises unter eingefallenen Kiefern sagte zu Burgkert: "Sie kämmen das Dorf durch! Da steckt alles voll Drückeberger!" Er verschwand. Burgkert sagte wütend: "Affenarsch! Ein verramschter Kapitän von einem Fliegerhorst. Keine Ahnung! So was will rumkommandieren!"
Er rührte sich nicht vom Fleck. Ordonnanzen trugen Gepäck auf den LKW. Kaum waren die beiden Soldaten wieder im Haus, da sprang Burgkert zum Wagen, zerrte eine kleine Kiste herab und lief damit weg. Wolzow schüttelte den Kopf. "Das nenn ich marodieren!" Burgkert stand abseits und stopfte sich eine Flasche Kognak in die wattierte Jacke. "Holt, Sie tragen die Kiste in Ihr Loch! Gut aufpassen, dass keine Flasche verlorengeht. Wird alles noch gebraucht. Wolzow, Sie kommen mit, Leute suchen!"
Die verwilderten Soldatenhaufen wurden zu einem "Sturmbataillon" zusammengefasst und in den Löchern und Gräben vor dem Dorf bereitgestellt. Gegen drei Uhr morgens begann in ihrem Rücken die Feldartillerie zu feuern. Als Antwort fiel ein Hagel von Granaten ins Dorf. Häuser und Ställe und Scheunen barsten. Die Munitionsdepots gingen in die Luft, die Feldartillerie verstummte. Das Dorf brannte.
Holt saß in seinem Loch, die Zeltbahn über den Kopf gezogen. Wolzow schob ein MG zu ihm hin. Burgkert sah auf die Uhr. Er war aufgeräumt, sein Bass grollte wieder tief und mächtig. "Wir sind erste Welle", sagte er. "Holt, mit dem MG schön sauber nachziehn." Er reichte Holt die Kognakflasche, packte sechs Schnapsflaschen in Decke und Zeltbahn, schnallte das Paket mit Riemen fest und befestigte es auf dem Rücken. "Fertig!" Er sah wieder auf die Uhr und hob die Leuchtpistole. Eine grüne Leuchtkugel stieg in die Nacht. Fahles, geisterhaftes Licht.
Trunkenheit breitete sich wie Nebel über Holts Sinne aus. Er kletterte aus dem Graben und lief schwerfällig durch den tiefen Schnee. Vereinzelte Schüsse. Warum... feuern die nicht? "Weiter!" Das war Burgkert. Hurra, wer schreit da Hurra? Dort... der Graben! "Stellung!" Hinwerfen! Vor ihm Gebrüll, Schüsse, Detonationen von Handgranaten. Rote Leuchtkugeln, was soll das? Holt lief. Vetter keuchte neben ihm, sie warfen sich zu Wolzow in den Graben. "Die Stellung war so gut wie leer!" rief Wolzow. "Weiter!" schrie Burgkert. Holt lag hinter dem MG. Leuchtkugeln! Eine jählings hochschlagende Welle von Feuer und Geschrei fegte über ihn hinweg.
Holt lag im Graben, neben ihm ein erdfarbener Leichnam. Der Stoß war über Holt hinweggegangen wie ein grauenvoller Spuk. Schatten und Schemen waren im Licht der Leuchtkugel vor ihm aufgetaucht, die Maschinengewehrgarbe peitschte ins Leere, die Schattengestalten sprangen über ihn hinweg, ein Bajonett fuhr zu ihm herab, die Kugel der erhobenen Parabellum warf einen schweren Körper auf Holt. Der nach hinten flüchtende Wolzow fiel in das Loch, riss das MG hoch und zerrte schließlich den Leichnam zur Seite. Auch Vetter und Burgkert kehrten zurück. Wolzow keuchte: "Wie die Teufel... Wie die leibhaftigen Teufel!" Burgkert schrie: "Nicht liegenbleiben! Zurück!"
Versprengte schlossen sich an, Männer mit flackernden Augen, und an dem brennenden Dorf vorbei flüchteten sie nach Westen, bis ihnen Feuer entgegenschlug. "Durch!" brüllte Burgkert. "Durch! Hurra!" Die Schützen in den Schneemänteln waren dabei, sich einzugraben, warfen die Spaten weg und griffen zur MP. Handgemenge. Urrä und Hurra in einem. Schmetternde Detonationen von Handgranaten, splitternde Kolben, Mündungsfeuer. Holt stolperte, fiel aufs Knie. Die Maschinenpistole verschaffte ihm Luft. Vor ihm war Dunkel. Flucht!
Dann endloses Wandern über die Ebene, über der milchig-weiß ein eiskalter Morgen empordämmerte. Holt taumelte durch den Schnee. Es gab keine Gedanken mehr, nur noch furchtbare Bilder, Entsetzen, das sich in die Seele hineinfraß für immer.
Sie rasteten an einem Wäldchen bizarr geformter, kahler Weidenstrünke. Alle Feldflaschen waren voll Schnaps. Trink, saufe das hilft! Das gibt die Moral zurück.
Jetzt fielen wieder Worte. "Junge!" stöhnte Burgkert. "Drei Trupps auf einen halben Kilometer, aber die hält keiner auf!" Wolzow trank.
Holt malte mit dem Löffelstiel Striche in den Schnee. Burgkerts Worte spülten Gedanken aus der Erschöpfung hoch. Und wir? dachte Ü. Wir werden geschlagen. Wir sind gut ausgebildet und bewaffnet, der Burgkert hat Kampferfahrung wie keiner, wir kämpfen verzweifelt. Aber wir werden geschlagen, gejagt, überrannt. Warum? Ich bin wie gelähmt. Ist es das Bewusstsein des... Unrechts? Ist es, weil wir wissen: Alles war falsch?
Und sie?
Versetz dich einmal in so einen hinein... Das hatte Gomulka gesagt, irgendwann... Versetz dich in so einen, dem die SS die ganze Familie erschlagen hat... Und: Sie haben nicht angefangen!... Er dachte, die erstarrenden Beine in den Schnee gestreckt: Wir sind mit sieggewohnten Truppen über sie hergefallen und haben an der Wolga gestanden und im Kau-kasus, und keiner von uns hätte mehr einen Groschen für diese Armee gegeben. Aber sie sind aufgestanden und haben uns geschlagen, immer wieder geschlagen, und haben uns vor sich her getrieben, dreitausend Kilometer weit, und sind immer stärker geworden, immer stärker, und jetzt sind sie über die Oder.
Und da wird keiner dabeisein, der denkt wie ich: Alles umsonst. Der heimlich weiß: Das darf nicht sein, dass so was siegt. Der sich sagen muss: Alles war falsch.
Ob es das ist, was sie unüberwindlich macht?
Stumm saßen sie beieinander.
Sie marschierten weiter. Endlich ein größeres Dorf, wieder Auffangkommandos, SS-Leute, ein Rottenführer: "Warum verlasst ihr die Linie?" - "Jungchen, es gibt keine Linie mehr! Nur noch Russen, bildschöne Kerle! Warte nur, bis sie kommen!" Burgkert schob den Rottenführer zur Seite. Vetter rief: "Aus Frankreich kommen die, so was!" Ein Hauptmann, zitternd vor Nervosität: "11. Panzerdivision? Hier gibt´s keine Panzer, in Breslau gibt´s Panzer, aber keine Besatzungen! Was treiben Sie sich hier herum? Sie bekommen Papiere nach Strehlen!"
Ein klappriger Lastwagen rumpelte in Richtung Westen durch den Schnee. Auf der Straße zogen ihnen Truppen entgegen, Alarmkompanien, eine Batterie Nebelwerfer, Pak, auch ein paar Selbstfahrlafetten, Trosskolonnen. Hinter ihnen grollte schweres Artilleriefeuer.
in Strehlen machte man Anstalten, sie mit eitler Alarmkompanie wieder nach vorn zu schicken. "Drücken wollen Sie sich! Zurück an die Front!" Burgkert erfand faustdicke Lügen: Funker mit Sonderausbildung, Festung Breslau, Armeekommando! Sie erhielten Marschpapiere nach Breslau.
In Strebten staute sich ein Menschenstrom, mit Stäben, Truppen, Troß, Arbeitsdienstabteilungen und Kriegsgefangenenkommandos. Als der Kanonendonner im Osten anschwoll, griff Panik um sich. Alle halben Stunden kämmten Feldgendarmen die Lokale durch.
Holt sank in einem Cafe auf einen Stuhl. Der Transport nach Breslau ging erst am Abend. Es war warm und stickig. Wolzow schimpfte auf das Heißgetränk. Burgkert goss die Limonade unter den Tisch und füllte das Glas mit dem Schnaps, den er unbeschädigt durch den Angriff geschleppt hatte. Er trank rasch eine ganze Flasche leer. Dann schlief er ein.
"Mit Burgkert im Panzer", sagte Wolzow, "das wär nicht übel. Aber nur, wenn er genug Schnaps hat. Der ist überhaupt nur noch unter Alkohol lebensfähig." Er haschte nach einem vorbeigehenden Zivilisten und entriss ihm eine Zeitung. Er faltete das Blatt auseinander. "Von heute! Aus dem Führerhauptquartier... ‚Zwischen Kosel und Breslau wurden zahlreiche Übersetzversuche des Feindes vereitelt..." Vereitelt ist gut, dachte Holt. Wolzow rauchte. "Werner, hör zu! 'Wie fällt die Entscheidung im Osten'?" - "Wahrscheinlich kommen nun bald die neuen Waffen", rief Vetter. Wolzow las. Vetter hörte mit offenem Munde zu. "... Pflicht darin sieht, ohne Rücksicht auf die eigene Person in mühsamer Kleinarbeit einen bolsche-wistischen Panzer und Infanteristen nach dem anderen auszuschalten..." Auszuschalten? Es war erst gestern gewesen: Sepp und der Gefreite... die Panzersperre... Wolzow und seine "überlegene Taktik" ... nicht dran denken! "Hier heißt es, der Russe hätte alles eingesetzt, was er noch besitzt, und wenn es uns gelingt..." Wolzow las: "...was er jetzt einge-setzt hat zu zerschlagen, dann ist er fast wehrlos und muss alles, was er raubte, wieder herausgeben." - "Fast wehrlos ist gut!" sagte Vetter. "Wer das schreibt, der will uns doch glatt veralbern!"
"Was war eigentlich gestern an der Panzersperre los?" fragte Holt.
"Ich hab doch gedacht", antwortete Wolzow unwirsch, "die Überraschung wird so groß sein, dass die sich nicht zu helfen wissen!"
"Junge", sagte der Oberfeldwebel plötzlich, mit dröhnendem Bass, und er blinzelte schlaftrunken mit den geschwollenen Lidern. "Den Trick mit der Panzersperre kennen die doch! Die kennen doch alle Tricks, die´s gibt. Ich bin ein ausgewichster Panzermann, aber die sind doch keine halbe Nase weniger schlau!" Er goss sich den Aluminiumbecher voll Schnaps. "Panzerfaust ist Krampf, Junge, 'dem besten Soldaten die besten Waffen'..." Er trank den Becher leer und sank in den Stuhl zurück. "Was sind wir beschissen worden!" Er schloss die Augen.
Wolzow kniff ein Auge zusammen. Der Oberfeldwebel sagte stoßweise, halb bewusstlos vor Trunkenheit: "Wir warn drei... auf sechs Morgen... in Pommern... Alles in Kartoffeln auf-gefressen, und dann... auf dem Gut, für Deputat... Der Baron war Major. Einmal war Sauhatz... Ist ihm der Jagdwagen abgehauen, vier Wallache... Ich hab sie am Halfter geschnappt..." Er sprach mit schwerer Zunge: "Sagt der Baron: 'Name? Von hier?' Ich sag: 'Ihr Nachbar... Drei Brüder, sechs Morgen.' Volk ohne Raum... Der Major: 'Hol dir Land. Im Osten gibt´s Land!' Der Kopf des Oberfeldwebels sank auf die Brust,. "Hab´s nie mehr vergessen. Hab gedacht: Wirst Berufssoldat. Schaffst dir´n Hof." Er knallte plötzlich den Becher auf den Tisch: "Eingießen, Rekrut!" Wolzow grinste und füllte den Becher abermals. Burgkert trank, mit geschlossenen Augen, der Schnaps troff über Kinn, Hals und Uni-form. Wie gelähmt wischte der Arm über den Mund, fiel schwer herab. Ein Röcheln: "Sonst nichts... Immer nur für... einen Hof... gekämpft..."
"Randvoll!" sagte Wolzow. "Stockblau, der Mann!"
Vetter sagte: "Da hat er sich aber auf die Schippe nehmen lassen, von wegen 'Land im Osten'! Jetzt wird er sich richtig verarscht vorkommen!"
Der bullige Mann war haltlos zusammengesunken und schnarchte mit offenem Mund. Der wird nie mehr hinter dem Pflug gehn, dachte Holt. Der sät und melkt und erntet nicht mehr. Der kann bloß noch saufen und dreinschlagen. Der lebt gar nicht mehr richtig. Der ist fertig. Eines Tages werden wir alle so fertig sein, besoffen, verkommen, betrogen.
Und sterbensmüde dachte er: Wär doch alles vorbei!
Holt schlief auf seinem Stuhl und erwachte erst am späten Nachmittag. Dämmerung lag in dem Raum. Alle Tische waren leer. Hinter der Theke spülte niemand mehr Gläser. Alles getürmt! Auch die anderen erwachten. Burgkert schickte Vetter in die Stadt. "Nachsehen, wo der LKW bleibt!" Sie aßen. "Hier lag früher mal eine Husaren-Garnison", erzählte Wolzow. "In der Nähe, in Woiselwitz, hat der Baron Warkotsdi den alten Fritzen..." - "Bist du blöd?" fragte Burgkert. "Bist du auch schon übergeschnappt?" Holt aß Ölsardinen. "Tja", sagte Wolzow und brannte sich eine Zigarette an, "wird Zeit, dass was geschieht! Ich will noch Offizier werden!" Vetter krähte an der Tür: "Meine Herren! Der Wagen!" Holt kletterte unter die Plane, dann saß er zusammengesunken an der Rückwand. Er fand keinen Schlaf.
"Wo wir sind? Auf dem rechten Oderufer", sagte Wolzow. "Vorhin sind wir über die Oder gefahren." - "Sind wir eben wieder drüben!" rief Vetter. Fern grollte Kanonendonner. Der Wald glich einem Heerlager. Schützenpanzerwagen, Panzergrenadiere, Zugmaschinen, Artillerie, Lastwagen, Selbstfahrlafetten, Sturmgeschütze, ein Depot von Benzinfässern, ein paar Baracken, auch Zelte im Schnee, und überall Soldaten. Burgkert sprach mit einem Oberleutnant. Dann ging er voran. Holt folgte ihm.
Ein Eisenbahngleis schnitt durch den Wald. Ein Güterzug, auf vielachsigen Schwerlastwaggons Panzer mit überdimensional langen, schlanken Rohren. "Panther!" rief Vetter begeistert. Motoren brüllten auf. Uber Stapel auseinanderrollender Baumstämme krachten die Panzer von den Waggons und fuhren zum Tanken. Vetter rieb sich die Hände. "Mit solchen Panzern, also da müssen wir Siegen, was?" Die achtzehn Panzer-rollten ins Dickicht am Waldrand. Die zusammengetrommelten Panzerleute wurden eingeteilt. Burgkert war auf einmal ein wichtiger Mann. "Ich übernehm die Panzer. Dieser Schnösel von Oberleutnant dort, der muss hierbleiben. Die Reise ist ihm zu riskant." - "Wir fahren mit Ihnen", sagte Wolzow, "reden Sie nicht, Herr Oberfeld, ich mach Richtschütze, Holt Funker, Vetter Ladeschütze, da haben Sie eine Besatzung, auf die Sie sich verlassen können!" Burgkert sah auf Holt. "Mit zwei Geräten?" Holt nickte. "Rekruten", sagte Burgkert, und die Hand, in der er die Zigarette hielt, zitterte, "wenn ihr aus den Latschen kippt! Ich steig um und lass euch im Dreck, mir macht das gar nichts aus!" Holt nickte abermals. Er sah gedankenlos ein paar Panzer-III-Fahrgestelle mit aufmontierter Zweizentimeter-Flak in Vierlingslafette auf die Lichtung hinausrollen. Dann folgte er Wolzow zum Chefpanzer. Aufmunitionieren! Das erinnerte an die Zeit in der Flakbatterie. Er zog die Granatpatronen aus den Körben, die man zu ihnen heranschleppte, und reichte sie hoch zu Vetter. Der Oberleutnant ging mit Burgkert die Reihe der Panzer entlang. "Schweinerei verdammte! Die Kerle rauchen! Soll der ganze Wald in die Luft fliegen?"
Holt reichte eine Patrone hoch, er konnte kaum noch die Arme heben. "Bewegt euch!" Man fluchte: "Antreiber, verdammter!" - "Die Moral der Truppe ist keinen Groschen mehr wert!" schimpfte Wolzow. Er setzte sich verschnaufend auf einen leeren Korb.
"Fertig!" Vetter kletterte aus dem Turrnluk und sprang auf den Boden. Ein Soldat latschte durch den Schnee, ein kleiner Kerl mit bartstoppeligem Gesicht und einem kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, die Hände in den Taschen des langen Mantels, unter dem ein paar klobige Filzstiefel hervorsahen. "Chefwagen?" Er war zerlumpt und verdreckt. "Klotzsche, nicht bei Dresden. Bin der Fahrer." Er stieg durch das Luk. Irgendwo im Wald schrie eine Stimme: "Motoren warmlaufen lassen!" Unerträglicher Lärm erhob sich. Burgkert brachte die Funkunterlagen. "Nach dem Abstimmen Funkstille." Holt lief die Reihe der Panzer entlang und notierte mit froststarren Fingern die Namen der Funker. Der Schnee leuchtete. Nun stieg der Mond über die Wälder. Wolkenfetzen warfen gespenstische Schatten. Eschenhagen, Papst, Adam in den Zugführer-Fahrzeugen, Maaß, Jähner, Gehrke und so weiter, Wenzlau, Leutka, wie sie alle hießen.
Holt kletterte auf den Panzer, hing in der Luke und suchte mit den Füßen einen Halt. Im Turm brannte elektrisches Licht. An der Kanone stand Wolzow und rieb mit einem Lederläppchen das Okular der Richtoptik blank. "Fabrikneue Wagen!" schrie er durch das Motorengebrumm. "Sie haben uns zwei davon weggeholt, für den Kommandeur!"
Es war eng im Panzer, alles war mit Patronen vollgestopft. Holt kletterte auf seinen Sitz hinab und setzte die Lederhaube mit den Kopfhörern auf. Er schaltete die Funkgeräte ein und schloss die Morsetaste kurz. Abstimmen auf Dauerton. Er schob sein Gepäck mit den Füßen nach vorn. Vetter hatte ihm Verpflegung hingelegt. Er spürte keinen Appetit. Er fühlte sich beengt zwischen den Stahlplatten, in der stickigen Luft. Ein Lied ging durch seinen Sinn: "Dann wird uns der Panzer zum ehernen Grab..." Er schaltete am Bordsprechkasten und hörte Wolzows unbekümmerte Stimme: "Christian, dass du mir nicht Panzergranaten und Sprenggranaten verwechselst, das kann den Kopf kosten!" - "Ruhe!" schrie Holt durchs Kehlkopfmikrophon. "Gequatsche, unnützes! Vetter, du bist Ladeschütze, nennst du das einen munitionierten Panzer? Ich hab keinen einzigen Gurt am MG!" Im Mitteiwellengerät, das die Verbindung nach oben hielt, pfiff endlich der Dauerton, und dann eine scharfe Stimme: "Kommandeur an alle, kommen!" Holt hörte Sturmartillerie und Panzergrenadiere und gab seinen Namen bekannt. "Aber Leute, wozu gibt es Decknamen auf der Funktafel?" - "Schnauze, Idiot!" schrie es im Kopfhörer. "Wer ist hier Kommandeur, du oder ich? Piep nicht so´n langen Ton, du bist hier nicht in der Kaserne! Funkstille. Bei Abfahrt auf Empfang! Fertig!" Der Kommandeurfunker war noch nicht verstummt, da brüllte schon Porschke von der Sturmartillerie: "Was ist denn das für ein blöder Heini?" Fern meckerte eine Stimme: "Der blöde Heini ist ein Leutnant, der soll heißen Josef von Ägypten, denn er trägt einen bunten Rock und dünkt sich mehr denn seine Brüder!" Holt schüttelte den Kopf und schaltete ab. Über das Ultrakurzwellengerät rief er die Panzer: "Chef an alle... kommen!"
Alle fünfzehn Panzer meldeten sich. "Funkstille! Die Russen peilen! Ende." Holt saß trübsinnig auf seinem Ledersitz. Vetter kletterte in den Bauch des Panzers hinab und machte Holts MG schussfertig. "Dass du so munter bist!" sagte Holt. - "Wir haben mit der Verpflegung solche Tabletten bekommen, die machen munter, deine hat Gilbert!"
Noch immer klirrte der Frost in den Baumwipfeln. Holt ging langsam durch den Wald. Überall liefen die Motoren der Panzer, der Sturmgeschütze und Schützenpanzerwagen. Holt sah Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, Panzer. 111-Fahrgestelle mit Flak, Feldhaubitzen auf Panzer-IV-Fahrgestellen, eine überlange 8,8-Zentimeter-Kanone auf Selbstfahrlafette. Schwer bepackte Infanteristen zogen im Gänsemarsch durch den Wald und lagerten sich bei den Panzern. Die Panzergrenadiere saßen fahrbereit in ihren Wagen. Das Motorengeräusch löschte das ferne Grollen der Front aus. Im Osten, über den Wäldern, dämmerte der Morgen.
Holt lief zum Panzer zurück. Oberfeldwebel Burgkert hatte die Karte über das Schutzblech gebreitet. Wolzow leuchtete mit der Taschenlampe. Er hielt Holt ein kleines Röhrchen hin. Pervitin? Mal sehn, wie´s wirkt. Holt studierte Burgkerts Gesicht.
Der Oberfeldwebel war wieder alkoholisiert, seine Stimme rollte, die Hände zitterten nicht mehr, die eingefallene Gesichtshaut straffte sich. Er nestelte an der Feldflasche und trank. Er redete mit Wolzow endlos über den Kampfuftrag. "Sind Kampfgruppe Bredow... die Panzer nehmen die Spitze. Sturmgeschütze, Artillerie auf Selbstfahrlafetten, nennen sich Sturmartillerie-Abteilung, folgen dichtauf, dann zwei Bataillone Panzergrenadiere, auf Schützenpanzerwagen. Bei uns sitzt eine Sturmkompanie auf. Dann ist noch motorisierte Artillerie da, der müssen wir erst Platz schaffen, ein Regiment Infanterie auf Lastwagen soll auch noch nachkommen." - "Bisschen wenig Panzer", sagte Wolzow. Burgkert erklärte die Lage, redete von einem mächtigen Brückenkopf des Gegners auf dem linken Ufer, aber weiter nördlich stehe noch der Rest eines deutschen Korps und halte auf dem rechten Ufer einen Brückenkopf mit einer Pontonbrücke... Kennt sich kein Mensch mehr aus, dachte Holt. "Der Russe hat momentan nur Infanterie in der Front liegen", sagte Burgkert. "Er formiert sich neu. Das Korps im Norden sollte sich zu uns durchschlagen, ist aber liegengeblieben. Jetzt sollen wir von Süden her durch die Russen zu ihm stoßen und eine Gasse öffnen." Er fluchte: "Aber das alles geht uns einen, Dreck an! Ich hab ganz andere Sorgen! Bis zum Angriffsziel sind es etwa neunzig Kilometer, und die Scheißpanther fahren bloß hundertzehn... Dass wir mit den Panzern durchrammeln, das halt ich für möglich, wenn wir nicht aus Versehen auf eine Bereitstellung fahren. Aber ob der Sprit reicht! Alles andere ist Sache der Infanterie." Er sah auf die Uhr. "Wir fahren voraus. Holt, sag durch: Chaussee, dann Gelände, bis wir wieder eine Straße schnappen." Er nahm einen Schluck aus der Feldflasche. Die herumstehenden Infanteristen saßen auf und zogen sich Zeltbahnen über die Köpfe. Holt glitt auf seinen Sitz hinab. Er fühlte sich in eine eigenartige Stimmung versetzt. Undurchschaubare Gefühlswallungen erschütterten ihn, ihm war seltsam klarsichtig, alles war nahe herangerückt, die feinsten Knistergeräusche im Kopfhörer klangen laut und deutlich, das linke Augenlid flatterte. Die Aufregung, dachte er, oder die Tabletten...
Mit einem Ruck zog der Panzer an, und die sechzehn Panther setzten sich an die Spitze der Kampfgruppe, gefolgt von den Sturmgeschützen, den Selbstfahrlafetten und der langen Kette der Schützenpanzerwagen. Holt sah durch die Richtoptik des Bug-MGs. Der Wagen brach durch das Unterholz, walzte ein paar junge Kiefern nieder, überquerte die Lichtung, wo die Selbstfahrlafetten mit der Vierlingsflak darauf warteten, sich anzuschließen, und kroch dann auf die Chaussee.
Er kletterte in den Turm und schob den Oberkörper neben Vetter ins Freie. Der Oberfeldwebel ragte bis zum Gürtel aus dem Turmluk. Der Fahrtwind schlug eisig in die Gesichter. Das fünf Meter lange Rohr der Kanone reichte weit über den Bug hinaus. Sie passierten offene Panzersperren, an denen Soldaten wachten. Der Himmel war bedeckt, tief hängende Wolken trieben von Norden her über die Wälder. "Das rettet uns vor den Schlachtfliegern!" meinte Burgkert mit einem Blick zum Himmel. Vor einer flachen Steigung der Chaussee schaltete der Fahrer und gab Gas. Holt glitt, vom eisigen Fahrtwind durchfroren, in die Tiefe zurück. Auch Burgkert tauchte in den Turm. Holt hörte im Kopfhörer die Stimme des Kommandeurfunkers, der nach der Sturmartillerie schrie: "Kommen! Verdammt, verfluchte Idioten... kommen!" Ganz schön in Fahrt, dachte Holt. Endlich meldete sich Porschke bei den Sturmgeschützen, dann Klein bei den Panzergrenadieren. "Pennst du? Mensch, es sollen lljuschins oben sein! Aufpassen!" Holt gab die Warnung weiter. Auf einmal hielt der Wagen mit einem Ruck, der Holt vornüber warf. Soldaten umringten den Panzer. Durch die Optik sah Holt am Straßenrand zwei Panzerwracks liegen, im Gebüsch schwere Flak. Der Panzer fuhr wieder an. Holt bediente mechanisch die Funkgeräte. Der Kommandeurfunker sagte leichthin: "Der Russe trommelt ein bisschen auf die Frontlinie, das ist bloß Nervosität, ihr greift an!" Und gleich darauf: "Der Kommandeur kommt später mit der Feldartillerie nach. Meldung, wenn ihr durch seid." Holt schüttelte den Kopf, aber der Oberfeldwebel begann zu fluchen, dann trank er aus einer Schnapsflasche und schimpfte weiter: "Erst hetzt uns der Alte in seinem Knopflochfleber in dieses Scheißunternehmen, und dann bleibt er zurück, so was lieb ich!"
Wieder hielt der Panzer. Holt steckte den Kopf in die eiskalte Winterluft. Die Chaussee verließ ein dichtes Gehölz. Die Straße lief schnurgerade in die Ebene, in eine öde, weiße Schneewüste. Holt blickte nach Osten. Felder, Wiesen und Buschwerk bis hin zum Horizont. Dort aber, fern, hing es wie ein Nebelvorhang über der Ebene, wie Wolkendunst... Vor dem Panzer standen feldgraue Gestalten mit weißen Helmen. Burgkert starrte lange durchs Fernglas. Dann befahl er Holt, den Kommandeur zu rufen. "Der wird hier gebraucht!" Nichts rührte sich. Nur die freche Stimme Porschkes von der Sturmartillerie lästerte: "Die Herren frühstücken!" - "Holt, du sollst den Kommandeur rufen!" schrie Burgkert wütend. Er hörte mit und rief über den Bordfunk: "Nicht so höflich!" Endlich war die Verbindung hergestellt, und der Kommandeurfunker schnauzte: "Was ist bei euch für eine Sauerei im Gange? Warum greift ihr nicht an?" Burgkert wurde böse. "Ich seh´s von hier, die fetzen in die Front rein, was das Zeug hält!" Die Antwort lautete: "Unverzüglich angreifen." Burgkert schrie: "Wir greifen an! Aber wenn die halbe Kompanie liegenbleibt, dann solln sie uns kreuzweis... !" Die können uns nämlich gar nichts! dachte Holt. In einer halben Stunde sind wir hinter den Russen. "Unerhört!" kam der Kommandeurfunker wieder. "Feldgendarmerie hinterherschicken..." Burgkert brüllte: "Sie sollen! Sollen sie doch! Dann drehn wir die Rohre um!" Holt schaltete ab.
Die Soldaten, die den Panzer umstanden, grinsten. "Traut euch wohl nicht ins Feuer, ihr Aristokraten? Wir müssen da mit´m bloßen Wanst rein! Die Herren sind sich wieder mal zu schade!" Burgkert trank aus der Schnapsflasche. Dann gab er seine Befehle: "Linksschwenkt, dann rechts um und durch."
Mit aufheulendem Motor rollte der Panzer von der Chaussee, fuhr am Waldrand entlang, schaukelte wie auf hoher See. Die schwierige Wendung klappte, die Panzer rollten ausgeschwärmt über die Ebene. Am Waldrand fuhr auch die Sturmartillerie in Reihe auf.
Wolzow schrie: "Werner! Lass zwei Wagen vom ersten Zug links raus fahren, dass wir beide Flanken geschützt haben!" Die abgesessene Sturminfanterie keuchte in Rudeln hinter den Panzern her. Holt hörte Burgkert sagen: "Klotzsche, pass auf, dass wir nachher nicht die eigene Infanterie zermanschen!" Er starrte durch die Richtoptik seines MGs. Vor ihm endete die Welt in einer schwarzen Rauchwand, in der ununterbrochen rote und weiße Blitze zuckten. Durch das Motorengedröhn drang nun der Donner der Einschläge bis unter den Kopfhörer. "Luken dicht!" Der Feuervorhang war da, war kein Vorhang mehr, war trüber Nebel, der um die Panzer wogte, schwarzer Rauch, und vor dem Bug des Wagens sprang eine riesige Erdfontäne auf, der Wagen schwankte hinab in einen Trichter. Holt hörte nichts, nicht das Donnern der Einschläge, nicht das Klirren der Splitter gegen die Panzerung, nicht das Geheul der heran-fegenden Granaten, er hörte nur das Aufbrüllen des Motors, als Burgkert schrie: "Klotzsche ... Vollgas! Durch und drauf !" Der Wagen taumelte durch Trichter, von Einschlägen umzuckt. Holt presste das Auge an die Optik. Der rechte Panzer war etwa dreißig Meter voraus, und die Sturminfanterie keuchte hinter ihm durch die Einschläge und fiel im Feuer zurück... "Klotzsche! Schützenlöcher! Vorsicht!" Der Panzer wand sich durch Grabenstücke und Löcher. Holt wollte nichts mehr sehen. Der Wald der Einschläge, die Gestalten in den Löchern, die hier in höllischem Feuer lagen, die Trupps der nachfolgenden Sturminfanterie, die der Splitterregen lichtete und die sich verzweifelt an die Panzer klammerten und sich durch Schnee und Dreck schleifen ließen... er wollte es nicht mehr sehen, aber er hörte Burgkert: "Wir sind durch!" Schwankende Erde, von Rauch überweht... und dann zerriss der Nebel, und das Feld lag frei, bis zum buschbestandenen Horizont... Burgkert schrie: "Jetzt passt auf Nahbekämpfer auf!" Ein ganzes Ausbildungsprogramm wurde in Holt lebendig: wie man sich in den toten Winkel eines Panzers pirscht, wie man sich überrollen läßt, wie man von hinten auf den Stahlkoloss losgeht... Aber wie man im Innern dieses Stahlgrabes sitzt, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, gelähmt vor Angst, das erlebte er zum erstenmal, die Sinne wach wie ein Tier, das sich in Todesangst duckt... Er umklammerte den Handgriff des Maschinengewehrs, es war wie in der Kaserne auf dem Schlingerstand, er sah durch die Optik einen Graben vor sich und fremdartige Helme, sah weiße Tarnmäntel hinter der Brustwehr, hörte Burgkert schreien und den ersten schmetternden Schlag der Panzerkanone... Wolzow schießt! Auf der Grabenböschung sprang eine Fontäne von Feuer, Schnee und Erde hoch. Die Turm-MGs rasselten. Da tauchte der Graben schon unter den Gesichtskreis, der Bug des Panzers senkte sich tief in die Erde und stieg mit brüllendem Motor hoch... Und im Kopfhörer Burgkerts Stimme: "Die Infanterie geht mit dem Bajonett gegeneinander-" Und im Kopfhörer der Schrei des rechten Nebenmannes: "Chefpanzer... Bei uns... ist einer aufgesessen, o Gott, schießt ihn runter! Aaaaah... schießt ihn runter!" Holt schrie: "Wolzow... rechter Nebenmann... hilf ihm doch!" Aber Burgkert brüllte: "Neun Uhr! Sprenggranate!" - "Hab selbst zu tun!" Wolzow riss den Turm nach links. Wieder der rechte Nebenmann, die unkenntliche Stimme des Funkers in Todesangst: "Wir brennen... Hiiiilfe!" Wolzow eiskalt: "Wieder´n Graben, Herr Oberfeld, Schützenlöcher!" Mit einem Ruck hielt der Panzer. Die Kanone schmetterte. Der Fahrer: "Hab ein Schützenloch unter der Kette!" Der Motor raste, der Panzer drehte sich wie ein Kreisel um seine Achse... In Holt stieg das Grausen hoch. Aber der Panzer ließ nun die Gräben hinter sich und stieß in eine von kahlem Gebüsch bestandene Senke hinab.
Links um! Von rechts schoss Artillerie. Wieder klappte das Manöver. Weit auseinandergezogen jagte die Kompanie nach Norden. Die Artillerie fasste die letzten Wagen. Im Kopfhörer Geschrei. Dann Stille. Holt wischte sich über das Gesicht, das nass war von Schweiß oder von Tränen. Wo ist die Infanterie?
Es gab keine Sturminfanterie mehr. Der Panzer kroch auf ein fernes Waldstück zu, krachte hinab und durch das Eis eines zugefrorenen Baches, schob sich schwerfällig wieder hinauf und brach sich dann durch Buschinseln Bahn. Die Züge meldeten sich. Vier Wagen verloren! Der Chef der Sturmartillerie kam: "Sind durch mit Verlusten. Folgen euch." Und die Panzergrenadiere kamen, schon schwächer: "Kämpfen MGs und Widerstandsnester nieder." - "Weiter", rief Burgkert, "Tempo, Klotzsche!"
Sie näherten sich rasch dem Waldstreifen. Vor dem Wagen fuhr eine Erdfontäne hoch. "Pak! Paaaak!" brüllte Burgkert. "Nein, Panzer! Panzer... drei Uhr! Wolzow, Panzergranaten!" Und zum Fahrer: "Klotzsche, links hinter die Büsche, schnell! Wolzow, zwei Uhr, die hohe Buche mit dem abgehackten Gipfel, hast du? Links davon, etwa dreißig Meter, im Gebüsch... hast du ihn?" Der Wagen verkroch sich im Buschwerk und hielt. Die Kanone schmetterte. Über Funk riefen Stimmen: "Halbrechts am Waldrand Panzer!" Die Wagen verkrochen sich in den Strauchinseln, zwischen Hainbuchen, jungen Fichten und Gestrüpp.
Die Motoren liefen nur noch leise. Die Kanonade der Panzerkanonen schwoll an. Das meterlange, schlanke Rohr ragte durchs Gestrüpp ins Freie. Wolzow rief: "Klotzsche, ich hab einen Zweig vor der Optik... ein Stück vor!" Der Panzer ruckte an und schob den breiten Bug durch die Büsche. Nun konnte auch Holt durch die Optik das weite Feld bis zum Waldrand übersehen. Die Kanone feuerte. "Der ist gut getarnt!" rief Wolzow. Wieder krachte die Kanone. "Treffer!" rief Burgkert. "Gut, er kraucht zurück, rasch noch eins hinterher!" Die Kanone schmetterte, die Kartusche klirrte in den Sack. Vetter riss das Luk auf und warf die heißen Messinghülsen in den Schnee. Kalte Luft stürzte in den Bauch des Panzers. "Noch einer!" sagte Burgkert. "Mehr links, Wolzow, ein Uhr, knall mal in den komischen roten Busch... ja, etwas höher!" Die Abschüsse der Kanone füllten den engen Raum bis zum Bersten. Da fegte es in die Buschinsel, zerfetzte das Hainbuchengestrüpp, knickte die jungen Eichen, über; flammte das dürre Geäst mit gelbem Feuer... "Luke dicht!" brüllte Burgkert.
"Wolzow! Einer hat uns entdeckt! Rechts! Drei Uhr! Neben dem Busch... schnell doch, er schießt!" Diesmal knallte ein harter Schlag gegen den Panzer. "Treffer! Ist was passiert?" Der Fahrer rief: "Linke Kette!" Der Motor dröhnte, der Panzer ruckte an und hielt wieder. "Alles heil!" Da schlug es drüben flammend in den Waldrand, zerfetzte Bäume und Sträucher, warf Erde und Gebüsch durch die Luft. "Die Fünfzehner!" rief Burgkert aufatmend.
Da kam schon der Ruf über das Mittelwellengerät: ‚Wir decken sie ein! Geht ran, es sind bloß ganz wenige!" Holt suchte eine Verbindung zu den Panzergrenadieren; sie meldeten sich, fern, kaum zu verstehen: "Liegen in der Einbruchstelle, in schwerem Feuer, wehren Gegenangriffe ab!" - "Sie haben den Einbruch schon abgeriegelt!" schimpfte Burgkert. "Wenn das bloß bei uns mal so schön klappen würde! Los, Klotzsche!" Wieder stand ein Panzer brennend zwischen den Büschen. Aus dem Wald schlug noch immer Feuer. Sie jagten über die Ebene, bogen nach rechts ab und erreichten endlich eine Straße, überquerten einen Bahndamm und rasten weiter, wieder in Wald hinein. Die Sturmartillerie folgte. Eine halbe Stunde lang fuhren sie die Straße entlang, ohne einen Gegner zu sehen. Burgkert stand im offenen Turmluk. Er brüllte: "Iljuschins!" und ließ sich in den Turm fallen, die Luke schlug über ihm zu.
Über die Wälder strichen Schlachtflieger, zogen hoch, wendeten und stießen auf die Straße hinab. Die Panzer verkrochen sich im Gehölz und hielten. Bomben barsten. Borkanonen hackten ins Gebüsch. Die Maschinen kreisten über dem Wald.
"Jetzt sitzen wir erst mal fest! Ruf die Züge, Holt!" Die Züge meldeten sich. "Ruf die Infanterie!" Die Grenadiere waren nur noch ganz schwach zu hören: "Wehren uns gegen Flankenangriffe mit Panzern." Burgkert hielt eine frischgeöffnete Schnapsflasche in der Hand. "Panzer? Die haben uns durchgelassen und zerreiben die Grenadiere!" Er trank. Holt rief: "Vetter, steig aus, ob die Luft rein ist!" Vetter kam bald zurück. "ich hör nichts mehr, sie sind weg!" sagte er. Die elf Panzer krochen auf die Straße und fuhren weiter. Der Wald endete. Ackergelände schloss sich an. Da waren die Schlachtflieger wieder da, und diesmal blieben drei Wagen brennend liegen, nur acht erreichten den schützenden Waldrand. Die nachfolgende Sturmartillerie lag in einem Gehölz fest, von Schlachtfliegern angegriffen, und hatte Verluste. Dann piepte das Rufzeichen, der Kommandeur meldete sich über Tastfunk. Holt schrieb den Spruch mit, und während er schrieb, dachte er: Das quittier ich nicht! Er reichte das Papier zu Burgkert hoch. Die Kampfgruppe befahl: Panzer und Sturmartillerie kehrt marsch, kämpft Grenadiere frei.
Burgkert las den Spruch. Der Funker der Sturmartillerie rief über Sprechfunk: "Habt ihr auch den Irrsinn gehört? Kehrt! Mensch, da gehn wir bis aufs letzte Geschütz drauf!" Burgkert: "Aber wenn die Grenadiere nicht durchkommen, dann hat es keinen Zweck, wenn wir weiterfahren!" Wolzow: "Aber wenn wir umdrehen und die Grenadiere raushauen, ist unser Sprit alle, und dann war der ganze Angriff sinnlos." Burgkert: "Der Angriff war überhaupt sinnlos. Holt, hast du den Spruch quittiert? Nein? Schlauer Hund! Dreh das Gerät ab! Ruf de Sturmartillerie über UKW. Für den Alten stelln wir uns tot." Und zum Fahrer: "Klotzsche, los!"
Sie stießen wieder über die Bahnlinie und blieben abermals in einem Wäldchen liegen, viele Stunden lang. Am Himmel kreisten unermüdlich Flugzeuge. Im Kopfhörer das Gespräch Burgkerts und Wolzows. Wolzow: "Die setzen nicht mal eine Panzerkompanie gegen uns ein." Burgkert: "Die Schlachtflieger tun´s ja auch." Da Burgkert das Kehlkopfmikrophon nicht abschaltete, hörte Holt den Schnaps durch die Kehle gluckern.
Endlich flogen die Schlachtflieger ab. Die Panzer bogen nach rechts und folgten dem Bahndamm. Der Tag neigte sich schon dem Ende zu. In der Dämmerung passierten sie ein Dorf auf einer endlosen, von Bäumen und Buschwerk bestandenen Ebene. Vom Dorf her feuerten ein paar Panzer. Zugleich, im letzten Tageslicht, stürzten sich wieder Schlachtflieger auf sie. Dann war es Nacht.
Die Dunkelheit nahm schützend die sechs Wagen auf, die übriggeblieben waren und einen neuerlichen Übergang über die Eisenbahnlinie gewannen. Wie flüchtendes Wild verkrochen sie sich in einem Gehölz und hörten auf der nahen Chaussee eine Stunde lang Panzerketten vorüberklirren. Dann fuhren sie weiter, mit offenen Luken, alle Sinne in die Nacht gerichtet. Vor ihnen flammte der Himmel rot vom Feuer der Salvengeschütze, sie näherten sich dem Ziel. Bei aufgehender Mondsichel prallten sie von hinten auf eine Panzerbereitstellung, vielleicht hundert Wagen, die auf einer Lichtung tankten und munitionierten. Als die Kanonade verstummte, waren es noch vier Wagen, die im Dunkel untertauchten. Diese vier Wagen durchbrachen im Morgengrauen mit verzweifeltem Anlauf von hinten die Front, unterliefen noch einmal einen verheerenden Feuervorhang, den Werfer und Artillerie über die deutschen Linien zogen, und rollten dann ein paar Kilometer weiter in ein Dorf. Sie hielten. Burgkert stieg aus und suchte eine Befehlsstelle.
Als der Panzer mit hartem Ruck stoppte, fiel Holt nach vorn über die Funkgeräte und legte den Kopf in die Arme. Es würgte und schüttelte ihn. Geschafft, dachte er, gerettet! Er nahm sich zusammen und stieg aus. "Friss Pervitin", meinte Wolzow, "das pulvert auf! Hast du noch Schoka-Kola? Mach bloß nicht schlapp!" Burgkert war wieder da. "Wir setzen über, eh es hell wird!"
Am vergangenen Tag hatten die Reste zerschlagener deutscher Truppen die Oder erreicht, In dieser Nacht war der Brückenkopf geräumt worden. Nur ein dünner Schützenschleier lag noch draußen im Feuer und wartete auf den Befehl zum Rückzug.
Die vier Panzer rollten die Straße entlang, die unter schwerem Artilleriefeuer lag, erreichten die Oder und kletterten über den Damm. Dort brach ein Wagen im Einschlag einer 21-Zentimeter-Granate auseinander. Die anderen stießen die steile Böschung hinab zum Strand, zerknirschten das Packeis und schoben sich an die Brücke heran.
Halt! Sie stiegen aus und warteten. Infanterie ging aber den Fluss. Es wurde hell. Burgkert fluchte.
Die Pontonbrücke war eingefroren. Nur in der Mitte überspannte sie freies Wasser. Dort schob sich das Treibeis immer wieder an den Pontons hoch, drückte gegen den Belag und wurde von Pionieren gesprengt. Seit zwei Tagen lag die Brücke unter Beschuss. Am Tage strichen Schlachtflieger darüber hin und machten den Übergang unmöglich. Immer wieder flickten Pioniere die Einschlagstellen, dichteten die von Splittern zerlöcherten Pontons notdürftig ab.
"Aufsitzen!" Der Panzer fasste mit den Ketten die Brückenplanken. Holt saß im offenen Luk, seine Beine hingen ins Innere. Vetter saß draußen, beide hatten ihre Ausrüstung angelegt. Wolzow stand hinten auf dem Heck, Burgkert im offenen Turmluk, er dirigierte den Fahrer, der als einziger wieder in die tödliche Enge des Panzers hinabsteigen musste.
Die Brücke lag tief im Wasser. Die Einschläge der Granaten überschütteten sie mit Eis und Stahl. Das ferne Ufer lag hinter weißem, eiskaltem Nebel. Das hab ich schon einmal gesehn, dachte Holt, diese Brücke kenn ich doch... Aber es war nur ein Olgemälde, ein Bild, das nun in seiner Erinnerung hochstieg. Beresina. Als der Panzer seine sechsundvierzig Tonnen auf den Brückenbelag schob, sanken die Pontons bis zum Rand. Die Brücke hielt. Langsam rollte der Panzer zur Strommitte, näherte sich dem linken Ufer, der zweite folgte. Es war nun taghell.
Da waren die Schlachtflieger da. Am Ufer hämmerte Vierlingsflak. Der zweite Panzer zerbarst in einem Bombentreffer und stand als lodernde Fackel über der Mitte des Stromes. Holt hob schützend die Arme über den Kopf. Der Panzer unter ihm schwankte, eine riesige Wassersäule, mit Eis vermischt, stieg zum Himmel. Zwei Pontons schlugen voll. Die Brücke senkte sich tief, schon war der Belag überschwemmt, der Panzer neigte sich zur Seite, neigte sich mehr, Holt ließ sich auf die Brücke fallen. Auch Wolzow sprang ab. Vetter fiel auf Holt. Burgkert stand noch im Turmluk. Der Panzer kippte von der Brücke in das zerkrachende Eis. Von der Tonnenlast befreit, schnellte die Brücke hoch. Rohr und Kommandantenkuppel ragten aus dem gurgelnden Wasser.
Burgkert gewann einen Ponton. Holt erhob sich taumelig. Ein Schlachtflugzeug fegte mit seinen Maschinengewehren die Brücke leer. Ein schwerer Schlag traf Holt und warf ihn von den Planken in einen Ponton.
Dort lag er, in flachem Wasser, den Kopf nach hinten gestaucht, und langsam schwand sein Bewusstsein. Er sah den grauen Himmel über sich, von Blitzen überflammt, er hörte wieder Gottesknechts Stimme, doch wie fern war das: Durch die sieben Höhen... Dann halluzinierte er: Während die Dämmerung tiefer über sein Bewusstsein sank, sah er über sich das zarte und klare Gesicht Gundels, aber die großen Augen sahen ihn nicht an, und der Mund lächelte nicht. Nebel wogte darüber hin.
Holt lag in einer kleinen niederschlesischen Stadt in einem Lazarett, das einmal Reservelazarett gewesen und geräumt worden war und nun als Feldlazarett die Masse der von Osten zurückflutenden Verwundeten aufnahm und versorgte. Gehfähige und Leichtverwundete wurden weitergeschickt. De Front rückte näher und spülte eine Woge verwundeter, kranker, zer-mürbter Soldaten vor sich her. Im Seitenflügel wurde ein Hauptverbandplatz eingerichtet. Geschützdonner drang bis in die Krankenzimmer.
Holt lag mit einem Oberschenkeldurchschuss. Das Geschoß hatte kein größeres Gefäß, keine Nervenbahn getroffen. Vier Wochen, sagte man ihm, höchstens sechs... Man war Schlimmeres gewöhnt: Schuss- und Splitterverletzungen mit eitriger Wund- oder jauchiger Gewebsinfektion, Gasödem, metastasierende Allgemeininfektion, Tetanus, Wunddiphtherie... Er hatte die erste, schwere Woche der Wundschmerzen und des Fiebers in einem Zustand der Apathie hinter sich gebracht; dann war die Trübung des Bewusstseins geschwunden; und er hatte in seinem Bett gelegen, an die weiße Decke geschaut und haltlos vor sich hin geträumt, wie als Knabe, als er Weltreisen, Ruhm und Macht in endlosen Tagträumen fortspann... Nun, in den einsamen Krankentagen, malte er sich bunte Traumbilder aus, die in einer abseitigen Welt, in einem zeitlosen Frühling spielten... Die lautlosen Schritte der Ordensschwestern störten ihn nicht. Das Elend der Verwundeten, die Qual der Sterbenden, das alles drang kaum in seine Traumwelt hinein.
Holt hatte sein Versprechen gehalten und das Bild an Gomulkas Vater geschickt, aber den Brief des Rechtsanwaltes, der bald darauf eintraf, ließ er unbeantwortet. Er hatte auch an Gundel geschrieben und von ihr Post erhalten. Als dann eines Tages die Schritte benagelter Sohlen und rauhe Stimmen laut wurden, schrak er zusammen. Es riss ihn aus seinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Wolzow war gekommen! Frost, Dreck, Schweiß- und Ledergeruch umgaben ihn. Das Leben brach in das stille Krankenzimmer und mahnte Holt, dass noch nicht alles vorbei war.
Es war Mitte März. Seit einer Woche verließ Holt das Bett und humpelte durchs Zimmer, stand am Fenster und blickte in den Garten. Der Schnee schmolz, warme Luft strich durch das Fenster, dann brach wieder klirrender Frost herein. Gewölk trieb von Westen heran, es schneite, Schneesturm heulte um die Hausecken. Anderen Tages stand ein frostklarer Himmel über der Landschaft. Der Winter trotzte dem fortschreitenden Jahr.
Und nun war also Wolzow gekommen! Er zog einen Stuhl heran, öffnete die Überkleidung und zeigte die Schulterklappen eines Unteroffiziers. "Werner... alter Krieger!" Er war ganz der Alte und doch verändert, gealtert: die Augen lagen tief in den Höhlen, das starke Kinn schob sich vor, die Kaumuskeln an den Kiefern waren wulstig erstarrt. Auch Vetter war da. Er war noch hagerer, fast mager geworden und rief: "Hastes überstanden? Beeil dich!"
Sie kamen aus der Kaserne. Wolzow erzählte. Breslau war seit langem eingeschlossen, lag schon weit hinter der Front. Nach dem Rückzug über die Oder hatte man sie mit einer Alarmeinheit vergebens und sinnlos gegen den Brückenkopf anrennen lassen. Angriff auf Angriff war liegengeblieben. Dann brachen die Panzer aus dem Brückenkopf. Die zertrümmerten Truppen schlugen sich mit der aufgesessenen Infanterie, wurden geworfen. Schließlich schickte ein Auffangkommando Wolzow und Vetter nach hinten.
"Ein Hauptmann war das", sagte Vetter. "Hat festgestellt, dass wir eigentlich noch gar nicht fertig ausgebildet waren, so was!" Wolzow sagte: "Hab mir´s gefallen lassen. War ziemlich scheußlich. Immerfort Nahkampf." Wolzow sagte "scheußlich"?... "Sind wir zu Wehnert zurück."
In der Kaserne fanden sie alles beim alten. Ausbildungsdienst, Revetckis Gebrüll, Wehnerts Unterricht. "Eines Morgens", erzählte Wolzow, "kommt Wehnert: 'Meinen Glückwunsch, Unteroffizier Wolzow!' Meine Offizierslaufbahn sieht also gesichert aus. So schnell wird selten einer ohne Schule befördert. Wehnert hat gesagt, am besten, ich meld mich gleich wieder an die Front. Hab ich mich also gemeldet." Vetter: "Ich bin natürlich mitgegangen."
"Jetzt sind wir auf dem Weg nach vorn", sagte Wolzow. Er rekelte sich auf dem Stuhl. "Wann bist du wieder soweit? Am besten, du kämst gleich mit! Die Russen machen unerhörten Dampf!"
Jetzt wurden aus allen Betten Fragen laut, ängstliche, verzweifelte Fragen. Wolzow war bis obenhin voll Neuigkeiten. "Die Amis überall am Rhein, Koblenz muss jede Stunde fallen... " - "Aber das Bein macht´s noch nicht richtig, Gilbert... " - "Beeil dich!" sagte Wolzow.
Noch einmal verstrich eine Woche, dann war Wolzow wieder da. Eine unruhige, beängstigende Nacht war vergangen, die Verwundeten hatten kein Auge zugetan; die ferne Kanonade war näher und näher gerückt, bis sich das helle Krachen der Panzerkanonen deutlich vom dumpfen Grollen der Feldartillerie abhob... Als es hell wurde, drang Wolzow ins Zimmer, ungeachtet des Gezeters, das ein paar Schwestern erhoben. Er war verdreckt und band erst an Holts Bett den Helm ab. "Die Russen!" Der Schwerverwundete, der am vergangenen Tag operiert worden war, stöhnte im Fieber. Die anderen lagen vom Schreck gelähmt in den Betten. Wolzow rief: "Panzer sind durchgebrochen! Burgkert holt schon bei der Verwaltung deine Papiere raus." Eine Schwester protestierte: "Ohne Untersuchung und..." - "Los, Werner!" Holt kleidete sich an. Es musste gehen.
Vor dem Lazarett hielt eine Zugmaschine mit einer 7,5-Zentimeter-Pak. Der Oberfeldwebel war schwer alkoholisiert und rief: "Geht´s wieder?" Die Zugmaschine, mit acht Mann besetzt, rollte los.
Überall sah Holt die Zeichen völliger Auflösung. Stäbe und Verwaltungen bewegten sich fluchtartig nach Westen. Reste zerschlagener Fronttruppen rissen vorrückende Alarmeinheiten in den Strudel des Rückzuges. Durch dieses Chaos schob sich die Zugmaschine mit aufheulendem Motor. Bald zitterte die Luft im Lärm herannahender Panzer. Sie brachten die Pak in Stellung, auf einem verschneiten Hügelkamm. Die Panzer stießen die Chaussee vor, weit hinter der Front, mit aufgesessener Infanterie. Wolzow feuerte auf kurze Entfernung. Die Panzer schwenkten von der Chaussee und nahmen ohne Zögern die Pak an. Die Panzerkanonen brüllten, die Pak fiel in Schweigen. Flucht hinter den Hügelkamm. Ein T 34 lag brennend auf dem Acker. Die Panzer schwenkten auf die Chaussee zurück. Mit der Zugmaschine nach Norden flohen sechs Mann, denen noch alle Glieder zitterten, und einer davon war schwer verwundet.
Ein einzelnes Schlachtflugzeug stieß vom grauen Himmel herab und machte Jagd auf die Maschine; sie sprangen ab und rannten zum Wald, hinter ihnen flog das vollgetankte Fahrzeug in die Luft. Sie wanderten durch Wälder und verlassene Bauerndörfer, bis sie endlich auf versprengte Truppen stießen, Feldgendarmerie und SS. Gerüchte: "Der Russe steht vor Görlitz!"
Burgkert brachte Papiere. Er musste bleiben. Von Sagan fuhr ein überfüllter Zug nach Cottbus, voller Flüchtlinge und Verwundeter. In Cottbus schickte sich die SS an, die drei in die nächste Alarmkompanie zu stecken und wieder nach vorn zu schicken. Aber Holt mit seinen Lazarettpapieren erhielt auf der Kommandantur für alle drei Marschbefehle.
In der Kaserne saßen die Nachkommandos auf gepackten Koffern. Zwei Kompanien waren nach Mitteldeutschland verlegt worden. Der Ausbildungszug der Stabskompanie unter Wehnert sollte irgendwo hinter der Neiße auf Feldwache liegen. Sie machten sich auf die Suche. Der Zug lag westlich Bautzen in einem Wäldchen und bewachte eine Panzersperre.
Holt konnte sich kaum noch an Wehnert erinnern. Der Leutnant hatte nichts an Glanz und Wichs und Bügelfalte eingebüßt; nur ein wenig nervös war er geworden und rückte oft das Koppel, die Mütze zurecht... Wolzow knallte die Hacken.
Die Panzersperre war noch geöffnet. Zwischen dem nahen Wald und einem fernen Hügelrücken zog sich ein System von Feldstellungen hin, Erdbunker und Laufgräben. Im Wald gab s eine Baracke. Der Zug kampierte in den Bunkern und Gräben. Tag und Nacht standen Doppelposten an der Panzersperre. Von Osten her schob sich tagaus, tagein der Flüchtlingsstrom über die Chaussee nach Westen, Greise, Frauen und Kinder, zurückgehende Stäbe, fliehende Parteileute. Die Posten kontrollierten die Marschpapiere. Ein paar Kilometer weiter zurück lag ein Kommando Feldgendarmerie.
Revetcki war mit der Genesenenkompanie an die Front geschickt worden. Boek führte die erste Gruppe, er schrie und tobte nicht mehr, sondern spielte den guten Kameraden. Die zweite Gruppe übernahm Wolzow. Tauwetter setzte ein, es wurde Frühling. Die Gräben füllten sich mit Schlamm und Wasser. Der Verpflegungsnachschub setzte aus, man hungerte.
Eines Abends riefen die Posten nach Wolzow, dessen Gruppe an der Sperre Wachtdienst hatte. Ein großer, offener Mercedes hielt dort, die Scheinwerfer aufgeblendet. Im grellen Licht stand breitbeinig Vetter, die Maschinenpistole angeschlagen. Der zweite Posten stand am Fond. Der Fahrer saß in die Polster gelehnt und rauchte. Drei Offiziere, ein Oberstleutnant und zwei Majore, brüllten durcheinander, in einem schnarrenden Jargon. Einer der Majore, ein hagerer Mann mit Nickelbrille und Geiergesicht, stand neben dem Fahrer, nach vorn über die Wind-schutzscheibe gebeugt. Wolzow hob grüßend die Hand. "Herr Major?" Vetter kratzte sich mit der freien Linken im Genick und rief unverschämt: "Die haben keine Papiere! Türmen wollen die!" Nun brüllte auch der Oberstleutnant. Da kam Wehnert. "Leutnant! Endlich!" Der Major riss den Schlag auf. Leutnant Wehnert stand im Scheinwerferlicht und grüßte. Der Major redete auf ihn ein. Wolzow beobachtete die Szene misstrauisch. Der Oberstleutnant gestikulierte, dann stieg er befriedigt in den Wagen. Wehnert befahl: "Geben Sie den Weg frei!"
Wolzow zögerte, aber schließlich machte er einen Schritt zur Seite. Auch Vetter trat an den Straßenrand und warf die Maschinenpistole über die Schulter. Der Wagen stob mit aufheulendem Motor davon. Wehnert ging wortlos zur Baracke zurück. Später sagte er versöhnlich: "Wolzow, in so einem Fall gehört es sich, dass..." Wolzow unterbrach den Vorgesetzten schroff: "Die drei Herren vorhin, das wette ich, die sind getürmt!" Wehnert ließ sich den herausfordernden Ton gefallen. "Die Lage kann es erfordern, dass sich der Offizier als der wertvollste Mann aufspart..." - "Die Lage!" rief Wolzow und schnob durch die Nase. "Die Lage erfordert Kampf bis auf den letzten Mann!" - "Aber nehmen Sie sich doch zusammen!" sagte Wehnert. "Zusammennehmen? Wissen Sie, was ich nehmen werde, Herr Leutnant? Einen Strick werde ich nehmen! Und wenn ich in Zukunft noch jemanden türmen sehe, dann ist die Kugel zu schade! Dann hol ich den Strick raus, dann zieh ich die Lumpen eigenhändig an der Laterne hoch!" Er war bei den letzten Worten zur Tür gegangen, dort schrie er: "Ich halt mich an den Führerbefehl: Kampf bis zum letzten Blutstropfen! Vorhin hab ich´s nicht beweisen können, sonst hätt ich bloß dem Vetter gewinkt, der hat da gar kein Gewissen, Herr Leutnant... Uns macht das nichts aus, jemanden den Tod in Schande zu bereiten!"
Krachend warf er die Tür hinter sich zu.
Wiese lächelte, ein bisschen bekümmert. "Ich denke jetzt viel an ein Buch", sagte er, "von Hugo. Da heißt es: '... der Mensch hat einen Tyrannen.' Das sagt ein ehemaliges Konventsmitglied. '... dieser Tyrann ist die Unwissenheit'."
"Hast, du deswegen in der Schule so fleißig gelernt?" fragte Holt.
Wiese rückte zur Seite und zog die Zeltbahn enger um seine Schultern. "Eigentlich, weil mich an der Welt so vieles irritiert hat... Und ich hoffte... es wäre möglich... 'Der Mensch darf nur von der Wissenschaft beherrscht werden!' - 'Und vorn Gewissen', wird ihm entgegengehalten. Da sagt das Konventsmitglied: 'Das ist dasselbe'. Stell dir vor, er meint: 'Wissenschaft und Gewissen ist dasselbe!' "
"Dann sind wir ganz gewissenlose Menschen", meinte Holt, und das Wort weckte in ihm Beklommenheit. Aber... " Der Knack", rief er, "hat uns doch immer wieder vor einer Überschätzung der Wissenschaft gewarnt! Verwelschung, hat er gesagt. Dem nordischen Menschen entspricht die Beziehung auf das Unendliche..." Wiese sagte: "Ja... Aber... wo es hin-führt, wenn man das Maß verleugnet, das weiß ich... wenigstens in der Musik. Dort führt es zu Wagner. Beinahe ins Nichts. Oder überhaupt ins Nichts." - "Deshalb steht bei den Germanen am Ende immer der Untergang", sagte Holt. "Schon im Nibelungenlied heißt es, dass Freude zuletzt mit Leid endet..." Er glaubte nichts von alldem, was er sagte. Er dachte: Alles falsch, alles Lüge!
Wenn es möglich wäre, dachte er, dass man den Krieg übersteht, dann müsste man ganz von vorn anfangen, umlernen, suchen, fragen...
"Mach Schluss mit dem Gegrübel, Peter! Jetzt brauchen wir Härte." Er wickelte sich in seine Decke und versuchte zu schlafen. Und wieder dachte er: Mit verbundenen Augen... im dunklen Zimmer...
Am anderen Morgen fuhr Wehnert mit Boek nach hinten, um endlich Verpflegung heranzuholen. Er übergab Wolzow das Kommando. Auf der Chaussee nahm der Verkehr immer mehr zu. "Ich hau mich jetzt bisschen hin", sagte Wolzow. Holt blieb mit Vetter an der Panzersperre. Er rauchte. Gedankenlos blickte er die Chaussee entlang nach Osten, starrte durch den Morgendunst.
Vetter fragte: "Siehst du das, dort hinten?"
Es kroch wie ein riesiger, grauer Wurm heran, fern, die Chaussee entlang, langsam. Ab und zu wehte ein feiner Knall an Holts Ohr.
"Klingt wie Peitschengeknall!" sagte Vetter.
"Klingt wie Schüsse", sagte Holt.
Die Posten an der Sperre standen unbeweglich. "Eine Marschkolonne! Eine ganz ulkige! Und so langsam...
Ein Auto rollte heran, darin ein dicker Zivilist und drei Frauen. Holt kontrollierte die Papiere. Beruf Betriebsführer. "Sagen Sie mal", fragte er, "Sie haben da doch eine Kolonne überholt..." Eine der Frauen rief: "Wir haben nichts gesehen, gar nichts..." Der Mann gab Gas.
Der graue Zug schob sich näher an die Panzersperre heran und löste sich auf in Trupps. In unregelmäßigen Abständen von zwei oder drei Minuten peitschten dünne Pistolenschüsse durch die Luft. An der Sperre wurde abgelöst. Unter den neuen Posten war Peter Wiese, übernächtig, der Stahlhelm schien ihn zu erdrücken, der Karabiner, der ihm schon immer zu schwer gewesen war, hing schief und kläglich an der Schulter.
"Ausgeschlafen?" fragte Holt. Wiese hatte noch nie geklagt. Holt wendete den Blick wieder nach Osten. Die graue Menschenkolonne schlich langsam näher und passierte die Sperre An der Spitze SS-Leute, Maschinenpistolen umgehängt, Handgranaten in den Stiefelschäften, und links und rechts des Zuges SS-Leute, die geöffneten Pistolentaschen vorn am Koppelschloss, die Mützen im Genick, junge Gesichter, stumpf, unbewegt, wachsam... Langsam schleppte sich der lange, graue Zug dahin: Gestalten, lebende Skelette, von gestreiftem Drillich umschlottert... hautüberspannte Totenschädel auf dürren Hälsen... nackte, blaugefrorene Füße in Holzpantoffeln... ein Spuk und doch Wirklichkeit... Das lebte, das schleppte sich gebeugt, tödlich erschöpft die Straße entlang, das zog an Seilen schwere Leiterwagen, wankte in Haufen daher, stützte einander, und ein Stöhnen wehte über den Zug, ein Hauch von Tod und Verwesung...
"Das... das ist ein KZ!" flüsterte Vetter aufgeregt. "Alles Schwerverbrecher, solche Untermenschen, Kommunisten!"
Eines der lebenden Skelette wankte und fiel. Die Gestalt in dem gestreiften Drillich lag im Chausseedreck, das Gesicht im Schlamm... Auf der dünnen Jacke sah Holt ein rotes, auf die Spitze gestelltes Dreieck... Die nachdrängenden Gestalten stiegen hilflos darüber hinweg. Ein SS-Mann blieb stehen und stieß mit dem Fuß an das Menschenbündel, nicht derb, mehr probeweise. Der Gestürzte hob mühsam den Kopf, zog ein Knie unter den Leib und blieb dann reglos liegen. Das Gesicht des SS-Mannes blieb unbewegt. Die Runen glitzerten auf den Spiegeln. Er bückte sich und zog den Gestürzten mühelos am Arm hinter sich her zum Straßenrand und warf die gestreifte Gestalt in den Straßengraben. Dann zog er die Pistole. Der Schuss knallte.
Da hing ein spitzer, dünner Schrei in der Luft. Peter Wiese ließ den Karabiner fallen und sprang ungeschickt, mit erhobenen Fäusten gegen den SS-Mann los. Ein Fausthieb warf ihn zurück, aber Wiese kam nicht zu Fall, und er stürzte sich zum zweitenmal auf den Posten, mit seinen schwachen Fäusten; die Mütze mit den Runen und dem Totenkopf fiel in den Dreck... Wiese klammerte sich verzweifelt an dem Posten fest. Der stieß mit dem Pistolenlauf in Wieses Gesicht, schleuderte ihn von sich und schoss.
Mitten auf der Landstraße blieb Peter Wieses Leichnam zurück, an dem die gestreiften Gestalten scheu vorbeistrebten. Holt bückte sich, drehte Wiese auf den Rücken und blickte in das Gesicht, das der Schlag mit der Pistole entstellt hatte. Der Schuss war in den Hals gedrungen. "Peter!" sagte Holt. "Mensch... Wiese!" Ein Trupp SS-Leute kam die Chaussee zurück. "Hier, Oberscharführer, er liegt noch genau an der Stelle..."
Holt wandte sich nicht um. Die SS-Leute verschwanden hinter der Biegung der Straße im Wald. Der graue Zug der drillichgekleideten Gestalten endete.
Wolzow fluchte. Er brannte sich eine Zigarette an. "Der Wiese war schon immer verrückt! Was gehn ihn diese Verbrecher an!" Vetter rief: "Das hat er von seinem Latein...!" Die Soldaten trugen sieben tote Häftlinge zusammen. Leutnant Wehnert kam zurück und ließ sich von Wolzow unter vier Augen berichten. Man hob unterdessen ein großes Grab aus. Niemand zeigte Mitleid mit Wiese. Wehnert befahl. "Er wird mit den Verbrechern begraben."
Holt trat an das offene Erdloch. Dass ich jetzt hier zuschau, wie sie ihn verscharren, das ist erbärmlich. Warum lieg ich nicht auch in der Grube, und ein paar SS-Leute dazu? Das wäre eine Lösung gewesen.
Er dachte: Jetzt gibt es für mich überhaupt keine Lösung mehr.
"Zuschaufeln!" befahl Wolzow.
Holt fragte: "Was ist aus... unseren Idealen geworden? Wollten wir nicht für Gerechtigkeit kämpfen? Hast du nicht den Meißner zusammengeschlagen, weil er ein Unrecht begangen hatte?"
"Das war Kinderei", entgegnete Wolzow. "Damals warn wir dumme Jungs."
"Und heute? Was sind wir heute?"
"Soldaten."
"Soldaten..." wiederholte Holt.
"Jetzt ist es aber genug", rief Wolzow. "Jetzt reiß dich zusammen! Das ist der ganze Miesepeter nicht wert, dass ein Kerl wie du deswegen umkippt!"
Ein Kerl wie ich! dachte Holt.
Ein Erdklumpen fiel auf Wieses Kopf, der nächste Schaufelwurf bedeckte das entstellte Kindergesicht. Leb wohl! Trag mir´s nicht nach!
Er ging davon.
Er dachte: Dieser Wiese war unter uns der wirkliche Held. Panzerknackerei und Nahkampferfahrung, das ist alles Verzweiflung Ich kann mich in der Stadt am Fluss nicht mehr sehen lassen. Wie soll ich Wieses Eltern in die Augen schaun, wo ich zugesehn hab? Wie soll ich vor Gundel hintreten? Ich weiß doch, dass die Gestreiften wie ihr Vater waren. Ich hab keinen Finger krumm gemacht, ich hab zugesehn. Jetzt bleibt mir keine Wahl mehr.
Einen imaginären Punkt suchen, festklammern mit dem Blick... und vorwärts, marsch!
Eine Volkssturmeinheit löste den Ausbildungszug ab, besetzte die Feldstellung und übernahm den Wachdienst an der Panzersperre. Wehnert brachte seinen Zug mit der Eisenbahn in die Nähe von Leipzig, wo die Stabskompanie auf ein paar Bauerndörfer verteilt worden war. Hier sollte der Ausbildungsdienst weitergehen, aber der Zug lungerte nur untätig herum, denn Wehnert suchte sich ein Quartier-im Nachbardorf und kümmerte sich um nichts. Unteroffizier Boek saß den ganzen Tag im Wirtshaus und legte Patiencen. Wolzow riss alle Befehlsgewalt an sich. "Noch ein paar Tage Untätigkeit, und der Zug wird nicht wieder kampffähig", sagte er. "Diese Banditen schreiben sich schon die beste Bahnverbindung nach Hause auf!" Holt war seit Wieses Tod wie erloschen, interesselos, er ließ sich treiben. Er hörte geflissentlich keine Nachrichten. Zeitungen gelangten nicht ins Dorf. Ostern besuchte Wolzow die Kompanie, und als er zurückkam, zog er Holt beiseite: "Wir werden eingesetzt! Es wird höchste Zeit!" Er trommelte den Zug aus den Quartieren. "In einer Stunde marschfertig!" Boek zog ein Gesicht, als habe er Essig im Mund.
Wolzow setzte sich zu Holt in die Gaststube. "Burgkert ist wieder da. Der Russe steht an Neiße und Oder. Der Amerikaner ist überall durchgebrochen. Das Ruhrgebiet ist eingeschlossen. Panzerspitzen nähern sich Fulda und Weser. Osnabrück ist genannt worden. Marburg, Gießen... Da wird es Zeit, dass wir zuschlagen!"
Holt antwortete nicht.
Zwei Lastwagen standen bereit. Wehnert blieb, im Nachbardorf bei der Kompanie. "Möcht wissen, warum der nicht mitkommt", knurrte Wolzow. Sie fuhren nach Westen. In der Nacht erreichten sie ein einsames Gasthaus, im Walde. Hier lagerten Soldaten über Soldaten. Wilde Gerüchte liefen um. Vetter erzählte: "Panzer sollen bereitstehn, unheimliche Massen! Wir fahren eine ganz große Gegenoffensive!" Wolzow studierte die Karte. "Wir sind hier südlich Kassel ... Der Fluss war die Fulda!" Er sah sich um, tatsächlich standen Panzer bereit, getankt und munitioniert, Panzer III mit der 5-Zentimeter-Kanone, ein paar Wagen unbewaffnet auf die 7,5-Zentimeter Kampfwagenkanone L 24.
Bei der Einteilung wurden sie auseinandergerissen. Wolzow wurde Kommandant, Holt fuhr als Funker. Die Wagen waren klein und eng, drei Kompanien, vierzig Panzer. Die Mannschaften traten an. Es war noch dunkel. Nun tauchte auch Leutnant Wehnert auf, als Kompanieführer.
Ein Panzer richtete den scharfen Lichtkegel des Scheinwerfers auf einen einarmigen Offizier. Hauptmann Weber! Der Einarmige galt als Draufgänger, als einer, der den letzten Mann hinopferte. Er schrie mit heiserer, durchdringender Stimme: "Deutsche Panzersoldaten! Der Führer ruft zu neuem Kampf im alten Geist. Wo immer deutsche Panzermänner fochten, dort fochten sie siegreich. Wo immer..."
Holt war in Gedanken wieder weit entfernt. Seit ich aus dem Lazarett weg bin, hab ich nichts mehr von Gundel gehört, dachte er. Seine Gedanken flüchteten jetzt oft zu Gundel, um dort nur neue Unruhe zu finden. Der Morgen erwachte.
"Unserem Führer ein dreifaches..." - "Hurra! Hurra! Hurra!" - "An die Wagen... weggetreten!"
Die Motoren liefen warm. Die Abteilung fuhr lost Der Fahrer in Holts Wagen, ein alter, müder Mann, rief durch den Bordfunk: "Wenn Jabos kommen... sag mir´s ganz schnell, dass ich rauskann!" Holt saß auf dem Heck. Der Befehl lautete: Die Funker-MGs werden ausgebaut, zur Abwehr von Tieffliegern. Holt hielt das kolbenlose MG auf den Knien. Die Chaussee war schlammig. Sie fuhren nach Westen, dann nach Südwesten. Es wurde heil. Der Tag war klar und wolkenlos.
Hoch am Himmel brummte eine Kette Jagdbomber heran. Sie stießen mit heulenden Motoren auf die Straße herab. Fast alle Wagen hielten, die Besatzungen flüchteten nach links in den nahen Wald. Ein paar Panzer fuhren nach rechts auf freies Feld und kurvten in Schlangenlinien über den Acker. Holt warf das MG in den Dreck, rannte zum Wald und ließ sich ins Gebüsch fallen. Auf dem Feld, auf der Chaussee flogen die vollgetankten Panzer in die Luft, beim ersten Anflug drei, beim zweiten vier, dann war schon eine neue Kette Jagdbomber am Himmel. Die Raketen zischten. Brennendes Benzin floss über die Straße. Immer neue Anflüge. Es war ein Scheibenschießen.
Holt kroch tiefer in den Wald. Er stieß auf Wolzow und Vetter. Eine Mustang raste flach über das Feld, mit stark gedrosseltem Motor, suchte sich einen unbeschädigten Panzer, feuerte mit Bordkanonen in ihn hinein und zog steil nach oben. Der Panzer krachte auseinander. Der Motorenlärm verstummte. In den brennenden Panzern detonierte Munition. "Sammeln!" rief es dünn durch den Wald.
Auf. der Chaussee stand noch ein Dutzend unbeschädigter Wagen zwischen den brennenden Wracks. Holts Panzer war noch ziemlich heil. Die herumstehenden Besatzungen saßen auf. Der Fahrer flehte: "Wenn sie wiederkommen... sag mir´s rechtzeitig!"
Sie kamen wieder, als die Kolonne ein paar Kilometer gefahren war und zwischen Chaussee und deckendem Wald ein tausend Meter breiter Ackerstreifen lag. Die Jagdbomber ließen die Panzer stehen und fielen über die fliehenden Besatzungen her. Holt rannte um sein Leben und erreichte den Wald.
Die Jagdbomber stürzten sich auf die Panzer, mit Raketen, Bordwaffen und Bomben. Sie ruhten nicht eher, bis auch der letzte Wagen auseinanderbarst.
Die Reste der Abteilung marschierten weiter, kaum bewaffnet, noch fünfzig Mann. "Die wenigsten hat´s erwischt", sagte Wolzow wütend. "Die meisten sind getürmt." Sie marschierten bis zum Mittag. Der Himmel bewölkte sich mehr und mehr. Sie erreichten ein Dorf. Von allen Häusern wehten weiße Fahnen. Hauptmann Weber tobte: "Die Fetzen verschwinden!" Wolzow, Holt und Vetter streiften durch die Gehöfte. "Sind noch Truppen in der Nähe?" Ein Bauer wies mit dem Daumen über die Schulter. "Eine Flakbatterie. Die Flieger haben alles zerschossen." Sie sprachen mit dem Besitzer einer Tankstelle. Der dicke, rotgesichtige Mann rief gedämpft: "Macht Schluss! Jede Stunde können die Panzer kommen!" Wolzow brüllte ihn an, durchschnoberte die Reparaturwerkstatt und blieb vor einer verschlossenen Garagentür stehen. "Aufmachen!" In der Garage stand ein kleiner LKW. "Der Wagen ist beschlagnahmt!" Wolzow holte Leute. Der dicke Mann schrie verzweifelt: "Sie... rauben meine... Existenz!" Wolzow befahl: "Mach ihm eine Quittung, Vetter, Ordnung muss sein!" Vetter setzte sich auf den Pumpensockel und schrieb mit seiner steilen Schülerhandschrift: "Bestätige die ordnungsgemäße Beschlagnahme eines Lastwagens zum Zweck der Kriegführung. gez. Vetter, Panzerschütze. 5. April 1945." Der Dicke warf ihm den Wisch vor die Füße. Der LKW rollte zum Wirtshaus, wo die Truppe rastete. Die Soldaten stritten sich um die Plätze auf dem Wagen. Hauptmann Weber befahl: "Wolzow! Sie führen den Rest der Leute Richtung Heiligenstadt - Mühlhausen. Wir fahren voraus." Der Wagen rollte davon. Wolzow blieb mit dreißig Mann zurück, es waren fast alles ältere Soldaten, nur wenige vom ehemaligen Ausbildungszug. Wolzow beriet sich mit Vetter. Vetter erklärte: "Wenn ich nicht erst was zu fressen bekomm, macht mir der ganze Krieg keinen Spaß mehr." Wolzow gab ihm eine Stunde Zeit. Vetter brach in den Dorfkrug ein, es gab Gezeter, es gab einen schimpfenden Gastwirt, der mit der Mistforke vor Vetters Gesicht herumfuchtelte. Vetter brüllte: "Du sollst der erste gewesen sein, der die weiße Fahne rausgehängt hat, du Verbrecher!"
Holt saß müde auf der Bank vor dem Dorfkrug. Die Szene war ihm gleichgültig. Alles war ihm gleichgültig. Wolzow ließ antreten. mi ersten Glied sagte jemand: "Das beste wär Schlussmachen." Wolzow drohte: "Wer türmt, ist Deserteur, und Deserteure hänge ich eigenhändig auf." Man murrte nicht, man zeigte kein Zeichen von Zustimmung. Wolzow setzte sich auf die Bank und sah in den Himmel. Die Sonne hinter dem Gewölk näherte sich dem Horizont. Vetter trat aus dem Haus, verteilte ein paar Dauerwürste und erklärte: "Ich koch in der Waschküche Nudeln!" Wolzow saß unbeweglich. Aber dann sprang er auf.
Das helle Klirren der Panzerketten, das Summen von Motoren... Die Panzer näherten sich rasch. Vetter stürzte schimpfend aus dem Gasthof und raffte Helm und Waffen auf. "Reihe... rechts!" Wolzow führte die Gruppe aus dem Dorf.
Das Dorf zog sich lang hin. Als sie die letzten Häuser hinter sich ließen, dröhnten die Motoren so nahe, dass die Gruppe in panischer Flucht davonstürzte. Die Landstraße führte nach Norden. Links dehnte sich eine endlose Brachfläche bis zum westlichen Horizont, wo nun die Wolkendecke auseinanderriss und den grellen, gelbroten Strahlenbündeln der Abendsonne Raum gab. Ein paar ferne Buschinseln, dahinter ein lichtes Birkenwäldchen, boten Schutz und Deckung. Dorthin floh die Gruppe, regellos und ohne Befehl. Rechts der Landstraße lag ein Acker, leicht ansteigend zu bewaldeten Bergen am östlichen Horizont, und über diesem Acker breitete sich schon die Dämmerung aus.
Wolzow schrie: "Das ist falsch!" Er orientierte sich mit einem Rundblick, er brüllte: "Haaaalt! Nach rechts!" Niemand hörte auf ihn. Nur die letzten machten kehrt und rannten auf die Straße zurück, Vetter und vier jüngere Soldaten in schwarzen Panzeruniformen. Wolzow zerrte Holt fluchend am Arm nach rechts. Die anderen flüchteten über die Wiese dem hell erleuchteten Horizont entgegen.
Wolzow wies mit dem Arm nach Osten in die Dämmerung, die tiefer herabsank. "Die Flakstellung!" Holt sah vor den dunklen Bergen den Acker grau und dunkel... Die Panzer stießen aus dem Dorf heraus, rollten die Landstraße entlang, hielten, schwenkten die Türme nach Westen und feuerten mit Maschinengewehren und Sprenggranaten auf die fliehenden Soldaten, die sich vom hellerleuchteten Horizont wie Schießscheiben abzeichneten.
Wolzow, Holt, Vetter und die vier Soldaten rannten nach Osten über den nassen Acker. Als Holt den Kopf wendete, sah er die lange Reihe der Panzer auf der Chaussee aufgefahren, schwarz und drohend vor dem flammenden Horizont. Holt rannte weiter und erblickte vor sich dunkle Umrisse, wie von Erdwällen oder Bunkern... Wolzow schrie: "Die Flakstellung!" Auf der Landstraße fuhren die Panzer an. Maschinengewehrgarben peitschten durch den Abend.
Sie erreichten die grauen Erdhügel, die Kanonen und Fahrzeuge einer zerschlagenen 8,8-Zentimeter-Batterie. "Die Jabos haben alles zur Sau gemacht!" schrie Vetter. Eine Kanone war aus der Lafette gekippt, ein toter Flaksoldat lag dabei, überall Tote. Das Gelände fiel nach Osten in eine Kiesgrube ab, ein Hohlweg führte in die Kiesgrube hinein. Zwischen zwei niedrigen Sandhängen, fast unsichtbar im Schatten, stand eine Kanone, den breiten Schutzschild nach Westen gekehrt. Wolzow brüllte: "Hierher!" In der Kiesgrube lag umgestürzt ein dreiachsiger Lastwagen, Patronenkörbe waren daneben verstreut, ringsum klafften Bombentrichter. Wolzow zog eine Patrone aus einem Korb. "Panzergranaten! Die Einundvierziger, mit Erdzieleinrichtung! Holt laden, Vetter die Höhe, ich nehm die Seite!" Er stieß Holt hinter die Kanone. Die vier Soldaten in den schwarzen Unifirmen schleppten Munition heran. Wolzow brüllte: "Holt... du sollst laden, hörst du nicht!" Holt wuchtete den Verschluss auf, schob eine Patrone ins Rohr, der Verschluss schepperte zu. Holt fasste den Abzug.
Erst jetzt sah er, dass hinter dem Dorf auf der Chaussee nur noch drei Panzer hielten. Die anderen waren weitergerollt. Scharf umrissen hoben sich die drei Silhouetten vom westlichen Horizont ab, wo nun der flammende Sonnenball die Erde berührte und sein Licht über die Ebene warf. Die Kanone stand im Schatten. Vetter, das Auge an der Richtoptik, rief: "Hab ihn!" - "Von rechts nach links!" Das war Wolzow. "Gruppe!" Holt zog gehorsam ab. Der Schuss krachte. Es war wie eine Erinnerung: der alte Donner, der als harter Windstoß den Körper traf, in den ungeschützten Ohren schmerzte und beißenden Rauch in die Augen trieb... Das Rohr lief weit zurück, spie die rauchende Kartusche aus, lief vor, Holt lud, er war leer und ausgeglüht, alles geschah mechanisch. Er hörte, durch das Klingen in den Ohren, Wolzow rufen: "Zu kurz, Vetter!... Gruppe!" Nun schmetterte Schuss auf Schuss hinaus.
Die Panzer mochten gegen den dunklen Osthimmel nur schlecht sehen. In die Kolonne kam erst Bewegung, als der vorderste Sherman als qualmendes Wrack zusammensank. Die anderen zwei Wagen fuhren an, zogen auseinander, drehten sich schwerfällig nach rechts und rollten über den Acker heran.
Während das Rohr wieder zurücklief und Holt automatisch nach einer Patrone langte, sah er, wie eine Rauchsäule sich auf-kräuselte und gelbrotes Feuer wie ein riesiger Ball aufsprang... "Gruppe!" brüllte Wolzow, Holt zog ab, die beiden Panzer krochen über den flachen Acker. Und nun blitzten auch ihre Kanonen auf... Neben der Flak flammte der erste Einschlag in die Sandböschung, warf Kies hoch und streute glühenden Stahl über die Kanone. Holt duckte sich. "Gruppe!" Der Luftdruck einer einschlagenden Granate ließ ihn taumeln, er klammerte sich am Verschluss fest, er bückte sich nach einer Patrone, er zog schon ab, er sah in einer blendenden, trichterförmig hochfahrenden Flammensäule den tonnenschweren Turm eines Panzers durch die Luft fliegen, dann riss ihm ein Einschlag die Beine unter dem Leib fort, die Kanone schwankte, der letzte Panzer war sehr nahe. Holt taumelte vom Acker hoch... Gruppe!" Da hielt der Panzer mit zerschossener Kette keine dreißig Meter vor ihm und spie weißes Feuer, die Turm-MGs blitzten dünn, aber schon umfloss ihn in feurigen Bächen brennendes Benzin. "Gruppe!" Er zerbarst in gewaltiger Detonation.
Die Stille war so beängstigend, dass Holt ein Schauer der Furcht über den Rücken lief. Der Horizont im Westen verblasste, es war dunkel, der flackernde Schein der brennenden Panzer drang bis an die Kanone. Vetter stand neben der Höhenrichtmaschine, halb in die Knie gehockt, patschte sich mit beiden Händen auf die Schenkel und lachte wie ein Irrer, und plötzlich begann er zu kreischen: "Wir siegen... passt auf... wir siegen!" Wolzow erhob sich von seinem Sitz, nahm den Helm ab und schrie, mit einem Flackern in den Augen: "Ich mach die ganze Kompanie fertig...! Alle mach ich fertig!" Holt taumelte ein paar Schritte zur Seite. Er bückte sich. Da lagen zwei der jungen Panzersoldaten neben einem Patronenkorb, und die Splitter einer Sprenggranate hatten sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Sie liefen den Bergen entgegen. Hinter ihnen brannten die Panzer. Der Weg stieg an, dann führte er wieder hinab ins Tal. Die beiden Soldaten blieben zurück. Wolzow merkte es erst, als sie wieder ein Dorf erreichten, wo überall weiße Fahnen aus den Fenstern hingen. "Die Schweine wollen alle nicht mehr", fluchte Wolzow. Ein Gehöft, nahe am Walde, war leer und verlassen. Sie drangen in das unverschlossene Wohnhaus ein. "Wir bleiben!"
Wolzow stapfte die Treppe hoch und warf sich angekleidet, mit verdreckten Stiefeln in ein Bett. Holt übernahm die Wache. Er lief zwischen den Weidenbüschen und dem ersten Gehöft auf und ab. Es wurde empfindlich kalt. Dann dämmerte der Morgen. Fern summte ein Motor. Holt lief ins Haus und jagte die Holztreppe hoch. "Sie kommen!" Ein Auto rollte die Straße entlang, ein offener, viereckiger Wagen, und darin saßen, Gewehre zwischen den Knien, Soldaten mit runden Helmen und khakifarbenen Uniformen. Holt floh durch die Küche, über den Hof. Vom Tor her fielen Schüsse. Wolzow und Vetter blieben im Schutz der Scheunenwand stehen und schossen zurück. Als Holt den nahen, schützenden Wald erreicht hatte, krachte eine Handgranate. Er sah sich um. Die Scheune stand in hellen Flammen. "Das war ich!" sagte Vetter. "Ich hab eine Handgranate ins Stroh geschmissen."
Sie wanderten nach Nordosten und wichen allen Dörfern aus. Wolzow vertiefte sich in die Karte. Wieder stieg ein Berghang vor ihnen an. Vom Kamm sahen sie einen Fluss, der sich in Schleifen durch die Bergewand. An seinem Ufer lag ein Flecken. Eine weiße Steinbrücke überspannte das Gewässer.
Sie näherten sich vorsichtig der Brücke. Dort lehnte ein Soldat am Geländer, legte den Kopf in den Nacken und trank aus einer Flasche. Die Bewegung war unverkennbar.
Oberfeldwebel Burgkert grinste. Er war schwer betrunken, schwenkte die Schnapsflasche und sagte: "Die Rekruten!" Er ging mit ihnen stadtwärts. "Division ‚Schlageter." Er trank. "Spähtrupp-Unternehmen. Den Spähtrupp haben die Jabos gefressen. Aber ich hab wieder ein Auto." - "Sind hier Truppen?" fragte Wolzow. - ‚ja. Ich", sagte Burgkert. Vetter feixte. Burgkert fuhr fort: "Ich warte, bis sie kommen, dann jag ich die Brücke hoch. Zwanzig Panzerfäuste." - "Zündung?" fragte Wolzow. - "Elektrisch. Haben die Pioniere gemacht, eh sie getürmt sind."
Burgkert hatte sich in einer Villa verschanzt. In dem dicht bepflanzten Vorgarten waren Löcher ausgehoben, von dort konnte man bis hin zur Brücke sehen. Sie nisteten sich in einem großen Parterrezimmer ein. "Die Leute sind fuchsteufelswild. Die haben kochendes Wasser stehn. Aber nicht für die Amis", sagte Burgkert.
Holt ging ein Stück in den Flecken hinein. In den Straßen standen Menschen vor den Häusern. Überall wehten weiße Fahnen. Holt begriff nur langsam, dass erhobene Fäuste, Flüche und Verwünschungen, dass die Ausbrüche von Hass ihm galten, seiner Anwesenheit, seinen Absichten. Enge Gassen, dachte er, Fachwerkhäuser, sie haben ja recht, ein paar Panzerfäuste, und der halbe Ort brennt ab! Aber weiter reichte sein Denken nicht mehr. Mein Schicksal, ihr Schicksal... Mag es seinen Lauf nehmen.
In der Villa schlief Burgkert einen schweren, betrunkenen Schlaf. Holt legte sich auf den Teppich.
"Sie sind da!" schrie Wolzow. Burgkert fuhr hoch, trank noch einmal und reichte auch Holt seine Feldflasche. Vetter und Wolzow lagen in den Löchern vor der Villa. Auf der Chaussee, dicht vor der Brücke, hielt ein Sherman, mit geöffnetem Turmluk. Der Kommandant starrte durch den Feldstecher. Wolzow legte Panzerfäuste vor sich hin. "Der traut sich nicht rein!" Burgkert kauerte über dem Zündmechanismus. Vetter rief: "Achtung... er macht die Luke dicht!" Motorenlärm sprang auf. Der erste Panzer rollte klirrend über die Brücke, ein zweiter folgte, ein dritter... Burgkert zündete. Die Detonation deckte das Dach der Villa ab und schlug wie eine Sturmbö in den Garten... Ein Panzer hielt vor dem Haus, Vetter sprang mit einer Panzerfaust zwischen die Büsche. Als der Panzer in die Luft flog, krachten vom Fluss her die ersten Sprengranaten in die Villa. "In die Stadt!" brüllte Burgkert. Der Panzer vor den Schützenlöchern brannte mit einer riesigen, fast unbewegten und stark rußenden Flamme. Vom jenseitigen Ufer feuerten Panzerkanonen in den Flecken. Holt lief die Straße entlang. Fünfzig Meter vor ihm rannten Wolzow und Burgkert, und sie deuteten nach links in eine Gasse und liefen weiter. Holt überquerte die Gasse und sah sich unmittelbar hinter dem Heck eines Panzers, sah den weißen Stern auf blauem Felde, und aus den Auspuffrohren schlug ihm heißes Gas ins Gesicht... Holt ließ sich zu Boden fallen. Ein schmetternder Schlag betäubte ihn. Als er zu sich kam, floss vor seinem Gesicht brennendes Benzin aufs Pflaster, er kroch in die Deckung der Häuser. Von der anderen Seite schoss Vetter eine zweite Panzerfaust ab, und die Detonation warf Holt gegen die Mauer. Er erhob sich und taumelte die Straße hoch. Das Schießen ringsum war verstummt. Wolzow und Burgkert standen in einem Hausflur und spähten die Straße hinab zur Brücke. "Hier... sauf!" sagte Burgkert. Sie liefen durch die Stadt, an einem qualmenden Panzerwrack vorbei. Vetter wartete schon am Ortsausgang, bei einem kleinen, offenen Kübel-wagen. Burgkert fuhr mit einem Höllentempo über die Schlaglöcher. Hinter ihnen brannte die Stadt. Der Alkohol stieß Holt noch tiefer in Gleichgültigkeit und Apathie. Er saß auf dem Rücksitz, neben ihm war alles mit Schnapsflaschen vollgepackt. So geht das weiter: auf Panzer lauern, auf Panzer schießen, vor Panzern fliehen, und wieder auf Panzer lauern, ohne Ende.
Burgkert fuhr mit halsbrecherischem Tempo.
"Das ist schon die Leipzig - Altenburger Gegend!" sagte Wolzow. Sie jagten zwischen Feldern entlang.
Vor ihnen lag Wald, noch fern. "Jabos!" schrie Vetter. Burgkert bremste scharf. Sie liefen über den Acker zu einer großen Strohmiete. Burgkert machte fluchend kehrt. Aus der Deckung der Strohballen sah Holt, wie der Oberfeldwebel einen Arm voll Schnapsflaschen aus dem Wagen raffte, wie er in einer Wolke aus Feuer und Erde verschwand, während der Jagdbomber steil nach oben zog.
Sie standen um den brennenden Wagen. Burgkert, zur Seite geschleudert, lag tot auf dem Feldweg.
In einem Dorf liefen sie einem Kommando der Feldgendarmerie in die Arme. Mit etwa hundert Versprengten aller Truppenteile wurden sie auf Lastwagen in die nächste Kaserne gefahren; der Gebäudekomplex war hell erleuchtet, als gebe es keinen Luftkrieg. Hier fanden sie Leutnant Wehnert wieder. Er zeigte sich erfreut: "Sie kommen wie gerufen! Ich hab eine Alarmkompanie, es fehlt an Dienstgraden, Gefreite als Zugführer! Sie übernehmen sofort einen Zug, Wolzow!" Der Zug lag auf drei Stuben und wartete, blutjunge Burschen, von überallher zusammengeholt, von Panzerschulen, aus einem ROB-Bataillon der Grenadiere, auch Arbeitsmänner waren dabei, die man in feldgraue Uniformen gesteckt hatte. Auf den Stuben redete man von neuen Waffen, von der großen Wende des Krieges.
In der Waffenkammer saß ein betrunkener Unteroffizier. Jeder nahm sich, was ihm gefiel, auch in der Kleiderkammer, wo Holt endlich den dicken, wattierten Überrock gegen Tarnkleidung aus Segeltuch eintauschte. Den Rest der Nacht und den folgenden Tag lagen sie in einer Stube auf Strohsäcken herum. Wolzow hatte ein Zeitungsblatt aufgetrieben und las daraus vor. "Siegen oder fallen!... Einzige Parole für den Volkskrieg." Der Wehrmachtbericht sprach von "örtlichen Kämpfen an der Ostfront", von einer "Abwehrschlacht im Ruhrgebiet", dann war Schweinfurt genannt und gleichzeitig Erfurt erwähnt. "Da kennt sich keine Sau aus!" sagte Wolzow. "Keine Front mehr, nur überall Panzerkeile..." Man unterhielt sich über die deutschen Siegeschancen. Jemand erzählte von einem BdM-Mädchen aus Aachen, das den Amerikanern fanatisch... Holt lief aus der Stube.
Er stand am Fenster des langen Korridors. Auf dem Hof, unter Bogenlampen, wurden ein paar Selbstfahrlafetten mit der langen 7,5-Zentimeter-Kanone munitioniert. Wolzow schlenderte den Korridor entlang. "Das war eine Panzerjäger-Kaserne. Überall stehen noch Selbstfahrlafetten und Pak mit Zugmaschinen rum, aber es fehlt Sprit... Ein Jammer! Überhaupt. alles desertiert, alles haut ab, seit die Amis über den Rhein sind, wird kaum noch Widerstand geleistet. Ich versteh das nicht!" Er schlug Holt auf die Schulter. "Im Unteroffizierskasino versaufen sie die letzten Schnapsvorräte."
Sie fanden einen Tisch. Wolzow brachte Bier und Kognak und stützte die Arme auf den Tisch. "Möcht wissen, was mein Onkel macht." Er trank. Holt saß stumm im Trubel der Betrunkenen.
In der Nacht wurden sie alarmiert. Wehnerts Kompanie marschierte aus der Kaserne. Der Leutnant fehlte. Wolzow erklärte: "Er fährt mit dem Kommandeur und dem Bataillonsadjutanten." -"Sie haben einen LKW voll Fresserei", rief Vetter. Sie marschierten den ganzen Tag, am Straßenrand entlang, kilometerweit auseinandergezogen. Zurückgehende Truppen begegneten ihnen. "Die einen gehen zurück, die anderen gehen vor. Möcht wissen, was hier gespielt wird", sagte Wolzow. Abends kampierten sie in einem Dorf, in Scheunen und Ställen.
Im Wirtshaus saß ein Kommando SS. Wolzow spielte mit den SS-Leuten bis tief in die Nacht hinein Skat. Am Morgen erzählte er: "Prächtige Kerle! Die sind übrigens ganz in unsrer Nähe zu Hause. Vorgestern haben sie in einem Maidenlager genächtigt, da war was los! Den Mädchen haben sie so lange eingeredet, die Neger und die Mongolen werden sie fressen, bis sie alles mitgemacht haben." Er lachte. "Sie warten auf ein paar Führer, die wollen ein fliegendes Standgericht aufmachen." Mit Genugtuung setzte er hinzu: "Dann gehen sie endlich gegen die Deserteure vor!"
Die Kompanie marschierte weiter. Am Nachmittag wurde sie von Jagdbombern angegriffen. Das Gelände war günstig, es gab kaum Verluste. Dann erreichte die Kompanie das Marschziel, das Dorf Greifensleben. Ein paar Feldgeschütze standen am Dorfrand. Ein Fernsprech-Bautrupp legte Telefonleitungen. In der Gaststube des Wirtshauses richtete Wolzow eine Art Befehlsstelle ein. Er war der einzige, der Initiative zeigte. Die Unteroffiziere Boek und Winkler saßen apathisch am Ofen. Am späten Abend langte eine zweite Alarmkompanie an. Der Führer, ein Oberfeldwebel, war schwer verwundet. Jagdbomber hatten die Kompanie gelichtet. Die Verwundeten wurden ins Nachbardorf gebracht, nach Bucheck, wo der Bataillonsverbandplatz eingerichtet worden war. Als die Telefonverbindung zum Bataillon hergestellt war, ließ es sich Wolzow nicht nehmen, ausführlich den Kampfauftrag zu erläutern.
Das Bataillon hielt drei Ortschaften besetzt, Greifensleben, Bucheck und den Flecken Gerstedt, eine Stadt von fünftausend Einwohnern, von Fabriken umgeben, schwer bombenzerstört. Die Fernverkehrsstraße stieß von Süden nach Norden durch das hügelige, sparsam bewaldete Land, erst an Greifensleben, dann an Gerstedt vorbei, wo der Bataillonsstab eingezogen war. Westlich Gerstedt lag das große Bauerndorf Bucheck. "Wir gehören zur Division 'Körner', zu einer neu aufgestellten Armee, deren Südflanke wir hier decken." Holt hörte es müde und teilnahmslos.
In der Nacht trafen drei 7,5-Zentimeter-Pak auf Selbstfahrlafetten in Greifensleben ein. Gegen ein Uhr wurde im Süden Kanonendonner laut und verstummte bald. Das Bataillon in Gerstedt, wo auch Wehnert untergekrochen war, gab bekannt, dass Panzerspitzen auf der Autobahn im Süden nach Hermsdorf-Glauchau vordrängten. Gegen Morgen rief das Bataillon die Kompanie nach Gerstedt, zur Verteidigung des Gefechtsstandes, wie es hieß. "Und wer bleibt hier?" fragte Wolzow. Die zuletzt angekommene Alarmkompanie war führerlos, sie bestand aus halbausgebildeten Rekruten, Schülern militärischer Spezialschulen. "So einen Haufen kann man doch nicht sich selbst überlassen! Boek, du bleibst hier!" Wolzow telefonierte mit dem Bataillonsadjutanten. Dann sagte er zu Holt: "Ich hab den Eindruck, dass die das alles gar nicht interessiert."
Draußen stand die Kompanie marschfertig. Boek blieb teilnahmslos und zusammengesunken im Wirtshaus sitzen. Die Kompanie marschierte ab.
Nach anderthalb Stunden, als es hell wurde, sahen sie zur Rechten, ein wenig talwärts, das helle Band der Fernverkehrsstraße, die etwa zwei Kilometer von Gerstedt entfernt nach Norden lief. Über die Landstraße, aus dem Städtchen nach Osten hinab zur Chaussee, fuhren zwei Personenwagen, bogen in die Chaussee ein und rasten nach Norden davon.
Wolzows Gesicht erstarrte. Er lief mit Winkler, Vetter und Holt an der Spitze der Kompanie. Er brüllte plötzlich einen Gefreiten an: "Kommando übernehmen!", und dann rannte er schon über die Wiesen, Holt hinter sich her ziehend, gefolgt von Vetter und Winkler. In einer Senke stießen sie auf einen mehrere Meter breiten Bach. Endlich gab es eine Brücke. Sie liefen keuchend zwischen die Gärten und Villen. Im Osten glänzte der Horizont. Auf der Straße zeigte ein Wegweiser die Richtung zum Bataillonsgefechtsstand.
Der Tross-LKW stand vor einer Villa. Hier liefen viele Telefonkabel zusammen. Auf dem Gehsteig hinter dem Lastwagen türmten sich Munitionskisten, Gewehre, Maschinengewehre, ein Arsenal von Waffen und Munition, unordentlich hingeworfen, in Eile abgeladen. Unter der zurückgeschlagenen Plane sah Holt Kisten mit Verpflegung, Kognak, Kommissbrot, Marmeladeneimer, Kanister mit Butter. Der Fahrer, ein Gefreiter, stand neben dem Führerhaus. Aus der Gartenpforte trat Leutnant Wehnert, einen Koffer in der Hand, den Mantel über dem Arm. Er sah Wolzow, stutzte, ging weiter und reichte seinen Koffer ins Führerhaus.
Wolzow trat vor Wehnert hin, fasste mit der Linken das Schloss der Maschinenpistole, die um seinen Hals hing, und hob die Rechte zum Gruß. "Zweite Kompanie ..." Holt war zu abgehetzt, um recht zu verstehen, aber was Wehnert sagte, das verstand er. "Beziehen Sie die vorbereiteten Feldstellungen." - "Wo ist der Kommandeur?" fragte Wolzow. "Der Kommandeur ist im Begriff, den Gefechtsstand zu wechseln", sagte Wehnert leichthin, "und ich..." - " ... und Sie folgen mir in den Gefechtsstand!" Holt hörte die Drohung in Wolzows Stimme.
Wehnerts Gesicht wurde blass. Seine blauen Augen richteten sich auf Wolzow. Er fasste mit einer Hand die Autotür, setzte den Fuß auf das Trittbrett und rief in seinem härtesten Befehlston: "Sie haben einen Offizier vor sich! Was erlauben Sie sich!" - "Vetter!" schrie Wolzow. "Nimm dem Fahrer die Schlüssel weg!" Vetter, gehorsam wie ein Schäferhund, schob den Leutnant zur Seite und kletterte Ins Führerhaus. Holt hörte ihn schimpfen: "Mach keinen Mist, sonst..." Der Fahrer stieg aus und begegnete Wehnerts Blick mit einem Schulterzucken. Er ging ein paar Schritte die Straße entlang und blieb abwartend stehen.
Wehnert plusterte sich auf: "Sind Sie wahnsinnig! Ich befehle Ihnen..." Wolzow zitterte vor Wut. "Der Kommandeur ist getürmt! Und du willst auch türmen, du feiges Schwein! Den Kompanietross mitnehmen! Das Desertieren werd ich dir austreiben, du Lump!" brüllte er. "An die Laterne mit jedem, der türmen will!"
Wehnert langte nach der Pistolentasche, aber Vetter packte ihn auf einen Wink Wolzows von hinten am Koppel und riss ihm die Waffe heraus. Alle Aufgeblasenheit fiel von Wehnert ab. Er sah hilfesuchend auf Unteroffizier Winkler. Winkler war blass, er rührte sich nicht. "Ich enthebe Sie Ihrer Befehlsgewalt und nehme Sie in Haft", rief Wolzow. "Vetter, reiß ihm die Schulterstücke runter!" Vetter fetzte die silbernen Rangabzeichen ab, dass Wehnert taumelte. Sie schoben ihn durch den Vorgarten in die Villa. Der Gefechtsstand war im Keller, in der geräumigen, sauberen Waschküche eingerichtet. Den großen, aus Brettern und Holzböcken gefügten Tisch bedeckten Karten. Auf einer Bank standen Telefone und ein Funkgerät, auch einen Radioapparat gab es, und unter dem Fenster ein eisernes Feldbett. Ein Ausgang führte in den Garten, ein zweiter durch einen Gang in den Kohlenkeller.
Wehnert stand bleich neben der Tür; er raffte sich noch einmal zu einem Protest auf: "Sie werden sich zu verantworten haben! Winkler, Sie machen sich der Meuterei mitschuldig, wenn Sie..." Wolzow sprang auf den Leutnant zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht.
Vor Holts Blick wurde eine ähnliche Szene lebendig: wie Wolzow am Rabenfelsen Meißner zusammengeschlagen hatte... "Ich werd dir helfen... du Lump!" Wolzow schlug ein zweites Mal zu, und Wehnerts Kopf prallte gegen die Kellerwand.
Holt glaubte den Schlag zu spüren.
Wolzow sagte: "Den möcht ich langsam zu Tode schinden." "Großmäuliger Feigling... hat er dich mal genannt", hetzte Vetter.
In allen Kellern waren die Fenster unvergittert. Wolzow meinte: "Dann wär´s das beste, du legst ihn um, Vetter. Oder noch besser: such einen Strick!" - "Jawohl", schrie Vetter, "einen Strick suchen, Herr Unteroffizier!" Er machte kehrt. Wehnert rief in Todesangst: "Ich verlange ein Gericht! Ich bin Offizier! Sie haben kein Recht! Winkler, so helfen Sie mir doch!... Das ist doch nicht möglich... um Gottes willen!" Er schrie, mit verschwollenem Mund: "Nicht aufhängen!!"
Vetter brachte eine Wäscheleine.
Wehnert zitterte. "Der Führer", sagte Wolzow, "hat befohlen: Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande. Hängen wir ihn gleich auf? Winkler?"
Unteroffizier Winkler schwieg. In seinem Gesicht stand Angst. Aber dann schüttelte er den Kopf. Holt sagte: "Nein!" - "Vetter?" fragte Wolzow. "Aufhängen!" rief Vetter. Nichts wie aufhängen! Wenn ich dran denk, wie der uns geschliffen hat, dann bloß schnell aufhängen! Draußen, am Birnbaum!"
Wolzow sagte: "Da werd ich die Entscheidung treffen." Er sah Wehnert an und zog den Augenblick in die Länge. Wehnert verlor die letzte Beherrschung und flehte stammelnd: "Wolzow... Gnade!" Seine Zähne schlugen aufeinander. Wolzow überlegte lange. "Was machen wir mit ihm, dass er nicht türmt? Ich bring ihn bei der ersten Gelegenheit zum Regiment, den will ich hängen sehn!"
Wehnert atmete auf.
Wolzow überlegte noch immer. Vetter trat zu ihm hin und flüsterte etwas, und Wolzows Gesicht verzerrte sich.
"Gut."
Während Vetter durch den Vorgarten zum Wagen lief, sagte Wolzow: "Der Wehnert wird narkotisiert, damit er nicht türmen kann!"
Vetter flößte dem willenlosen Leutnant Kognak ein, aus einem Trinkbecher, eine ganze Flasche. Wehnerts Augen wurden glasig. Vetter stieß ihn auf das Feldbett, wo er weitertrinken musste, bis er bewusstlos liegenblieb.
"Erledigt", sagte Wolzow. Holt wischte sich über die Stirn.
"Was wird nun... aus dem Bataillon?" fragte Unteroffizier Winkler.
Wolzow schaute Holt, Vetter und Winkler ins Gesicht. "Das Bataillon wird seinen Auftrag unter allen Umständen ausführen. Das Bataillon hört auf mein Kommando."
Unteroffizier Winkler wandte überrascht den Kopf zu Wolzow um. Er sagte: "Hier wird aber nirgends mehr gekämpft." - "Wo ich befehle", sagte Wolzow, "wird gekämpft! Wer anders denkt..." Er schlug auf die Pistolentasche. Vetter stand mit der Wäscheleine dabei.
Wolzow trat an den Tisch und beugte sich über die Karte. Aus dein Radioapparat ertönte die Stimme des Sprechers. "Aus dem Führerhauptquartier... Großangriff im Osten hat begonnen..." Wolzow starrte das Radio an. "... Panzerspitzen im weiteren Vordringen... Erbitterter Widerstand… Auch westlich Erfurt... Saale zwischen Jena und Halle überschritten... " Und jetzt: "Aufruf des Führers..." Satzfetzen, die sich in Holts Teilnahmslosigkeit hineinschoben: "Berlin bleibt deutsch... Wien wird wieder deutsch..." Wütend schaltete Wolzow das Radio ab. "Wir haben einen Kampfauftrag! Alles andere geht uns nichts an!" Er beugte sich wieder über die Karte. "Holt, stell die Verbindung zum Regiment her!"
Holt probierte mechanisch die Telefone durch. In Greifensleben meldete sich Boek. Wolzow schrie: "Er soll die Selbstfahrlafetten herschicken!" Auf dem zweiten Apparat meldete sich Bucheck, ein Stabsarzt, der von Wahnsinn und Schlussmachen redete. Die aufgeregte Stimme drang blechern aus dem Hörer. "Leg auf!" zischte Wolzow. "Ruf das Regiment!" Aber die Leitung zum Regiment blieb tot. Niemand meldete sich.
Alles getürmt, dachte Holt.
Wehnert, auf dem Feldbett, stöhnte.
Wolzow ging mit Holt, Vetter und Winkler durch die Stadt. Eine Hauptstraße, ein kleiner, viereckiger Marktplatz, ein paar schmale Gassen, ringsum Villen in Gärten. Hauptstraße, Markt und die Nebengassen lagen in Trümmern, zerbombt und ausgebrannt. Nordwestlich der Stadt dehnte sich eine Industrieanlage, von einer großen Siedlung umgeben. Dort wehten weiße Fahnen. In der Stadt selbst begegneten sie keinem Zivilisten. Auch die Villen am Stadtrand waren geräumt.
Sie besichtigten die Feldstellungen östlich der Stadt. Der Graben zog sich von Süden nach Norden in Windungen an dem Flecken entlang, dicht vor dem Saum der Gärten. Die Alarm-kompanie hielt den Graben besetzt, zweihundert blutjunge Burschen, bis auf ein paar Gefreite führerlos, aber, gut bewaffnet. Wolzow zählte neun Maschinengewehre. Die Soldaten hockten in den Gräben, ihr Optimismus war verkrampft. Wilde Gerüchte: "Herr Unteroffizier, kommt Verstärkung, stimmt das?" - "Jawohl", sagte Wolzow, "auch schwere Waffen!" - "Herr Unteroffizier! Heut nacht sollen im Osten neue Waffen eingesetzt worden sein... der Russe in vollem Rückug..." - "Sobald die offizielle Nachricht eintrifft, lass ich´s bekanntgeben", sagte Wolzow.
Am östlichen Ende der Stadt führte die Hauptstraße vom Markt durch die Villen hinab zur Chaussee. Vetter notierte Wolzows Anordnungen. "Hier links und rechts eine Pak in Stellung bringen. Die dritte weiter hinten in die Villengärten." Winkler blieb im Graben. Sie liefen in die Stadt zurück, die Hauptstraße entlang. "Drei Keller mit Hinterausgang zu Bunkern herrichten... Panzerfäuste hinbringen! Drei Panzerjagdkommandos bilden. Ein Zug als Reserve in die Stadt." Vom Marktplatz führte ein Gässchen zum südlichen Stadtrand, wo in der langen Reihe der Villen der Gefechtsstand lag.
Dort klingelte das Telefon. Holt nahm den Hörer ab. Eine rauhe Stimme meldete, die Selbstfahrlafetten seien von Greifensleben nach Bucheck gelangt. "Lässt sich alles gut an", sagte Wolzow. Er studierte wieder die Karte. Mit gespreizten Beinen am Tisch, nach vorn geneigt, die Arme seitwärts auf die Platte gestützt, so stocherte er mit dem Zirkel herum, maß Entfernungen, rechnete, leise murmelnd.
Holt erinnerte sich unvermittelt, wie Wolzow bei der Flak die Lage erklärt, wie er in der Kaserne am Sandkasten gespielt hatte... Und er sah ihn heute nicht anders als damals über die Karte gebeugt und hörte ihn sagen: "Überlegene Taktik... bessere Stellung... Aufmarsch... Überraschungsmoment..."
Wohin führt das? dachte Holt...
Wie lange noch...?
Als es Mittag wurde, langten die drei Selbstfahrlafetten in Gerstedt an. Vetter meldete die Ausführung aller Befehle. Noch einmal besichtigte Wolzow die dünn besetzte Linie, die Bunker, in den Ruinen... Dann saßen sie im Gefechtsstand, wo Wehnert noch immer röchelnd im Schlaf lag.
Das Telefon schrillte. Holt nahm den Hörer auf, es war eine Reflexbewegung. Unteroffizier Boek redete aufgelöst und in panischer Furcht von Panzern... Hunderten von Panzern. "Sie halten auf der Höhe von Greifensleben", schrie Holt. Wolzow sagte: "Die fahren vorbei!" Er schickte Vetter zu den Selbst-fahrlafetten: "Wenn sie zu uns hochkommen sollten, werden die ersten in die Stadt hineingelassen!"
Holt dachte: Panzer. Hunderte von Panzern! Er hörte noch Boeks bebende Stimme, aber Wolzow stand wieder an der Karte und hielt Vorträge in den leeren Keller hinein: "Ich glaube kaum, dass sie uns hier mit starken Panzerkräften angreifen... im Süden bereits bis in den Raum Zwickau - Chemnitz... erhebt sich die Frage..."
Seit Tagen war Holt wie gelähmt, er befand sich in einem Zustand der Apathie, und sein Hirn vermochte die Eindrücke der Umwelt nur oberflächlich zu verarbeiten. Aber nun war es, als erwache er, als komme er zu sich. War es Wolzows Stimme, die rauh und schneidend an sein Ohr drang?
Wolzow redete und redete: "...werde die Amerikaner schlagen... nach allen Regeln der Kriegskunst."
"Wolzow!" schrie Holt und zitterte plötzlich vor Erregung. "Jeden Augenblick können die Panzer..." - "Panzer? Das dauert noch! Also, ich kenn die amerikanische Taktik. Ich werde sie schlagen!" Ein Melder riss die Tür auf und starrte entgeistert auf den schlafenden Leutnant. Dann schrie er: "Panzer! Massen von Panzern!" Wolzow langte nach der Maschinenpistole und packte Holt am Arm. "Raus!" Er schob ihn aus dem Keller.
Holt lag im Graben neben Wolzow, nahe der Landstraße. Auf der Chaussee im Tal klirrten Panzer vorbei. Die Kompanie verkroch sich tiefer im Graben. Wolzow sah auf Holt. "Was hab ich gesagt? Sie fahren vorbei!" Er zählte. Bei achtzig hörte er auf zu zählen. Mindestens noch einmal soviel rollten vorbei.
Dann verstummte langsam der Motorenlärm. Ein Melder kroch durchs Gebüsch und stieg in den Graben. Vetters Handschrift: "In Greifensleben motorisierte Infanterie. Boek Leitung durchschnitten und kapituliert." Wolzow las. Er zischte etwas Unverständliches. Eine Viertelstunde später klirrten wieder Panzerketten heran. Zehn Shermans rollten bis zur Höhe des Fleckens und bogen auf die Landstraße ab. Dort hielten sie lange Zeit. Unterdessen fuhr eine lange Kette von Wagen, mit Infanterie besetzt, auf der Chaussee vorbei nach Norden, Zugmaschinen mit Geschützen, und immer wieder motorisierte Infanterie. Das letzte Dutzend der Fahrzeuge hielt bei den Shermans vor der Stadt.
Wolzow brüllte den Laufgraben entlang: "Die Panzer... vorbeilassen!"
Die zehn Shermans rollten in rascher Fahrt die Landstraße hoch, näherten sich dem Ortseingang und drangen in den Flecken ein, sehr nahe an Holt und Wolzow vorbei. Die beiden Pak, in ihren gut gedeckten Stellungen im Gebüsch, begannen zu feuern.
Wolzow schrie: "In die Stadt! Schnell!"
Holt tauchte ins nahe Gebüsch, lief an einer feuernden Selbstfahrlafette vorbei, hörte stadtwärts Panzerfäuste detonieren, wieder und wieder. Dann hämmerten Maschinengewehre, Sprenggranaten donnerten in die Gärten, Obstbäume zerknickten; blühende Fliederbüsche segelten durch die Luft, ein Schuppen sprang in Fetzen, Feuer, Qualm. Holt rannte über die bebende, Erde, erreichte die Hauptstraße, kletterte durch die Ruinen und stieg durch einen Kellergang in den ersten Bunker. Der Keller war verqualmt, durch das Fenster leuchtete gelber Flammenschein, ein paar Soldaten brüllten durcheinander. Jemand drückte Holt eine Panzerfaust in die Hand.
Draußen fasste sein Blick, wie im Traum, einen brennenden Panzer. Aber drei oder vier schossen Sprenggranaten in die Ruinen. Holt lief zur Hauptstraße. Zu seiner Linken, auf dem Marktplatz, flog ein Sherman In die Luft... Rechts ein brennendes Wrack, davor ein Panzer, der mit der Kanone in die Stadt hineinfeuerte. Jemand warf sich neben Holt aufs Pflaster, das war Wolzow. "Geh ihn an, es ist der letzte!"
Holt lag unbeweglich. Er hatte das rasende Herzklopfen der Todesangst. Aber auf einmal war es vergangen, er spürte seinen Körper nicht mehr, als sei er schwerelos. In seinem Inneren sagte eine herausfordernde Stimme: Geh! Es ist die beste Lösung.
Er erhob sich. Einen imaginären Punkt suchen, festhalten mit dem Blick... und vorwärts, marsch! Er lief gegen den Panzer, fixierte die Walzenblende am Turm; er traf, und die Detonation schmetterte ihn zu Boden.
Ringsum war alles still, nur das Feuer brauste. Wenig entfernt stand ein Haus in Flammen. Holt wischte sich die Augen, die von Staub und Pulverdampf brannten.
"Die Infanterie sitzt ab!" schrie es, und dann: "Vier Panzer sind zurück zur Chaussee!"
Am Ortseingang, zwischen den Büschen, in einem Meer von Flammen, brannten die beiden Selbstfahrlafetten... Unteroffizier Winkler keuchte. "Die dritte ist heil... Und die beiden Besatzungen hier..." - "Scheiß auf die Besatzungen!" schrie Wolzow. "Die Kanone brauch ich! Die dritte Pak zurück in die Stadt!" Er stieß Holt in den Graben. Vetter kroch zu ihnen hin, mit einem Maschinengewehr. Holt sah, dass man hinter der Chaussee Granatwerfer in Stellung brachte. Die vier Shermans richteten ihre Kanonen auf die Häuser. Es heulte schon heran und schmetterte in die Stadt... "Lass sie angreifen!" sagte Wolzow. "Gegen ein Dutzend Maschinengewehre bergan über freies Feld! Vetter! Du führst den Zug aus der Stadt zum Gegensto߅" Vetter kroch zurück. Wolzow brüllte Holt an: "Was ist denn mit dir los? Nimm doch das Maschinengewehr!"
Eine Rakete stieg gleißend empor... Was soll das? Wolzow drehte den Kopf zur Seite, sah nach oben, rutschte, erstarrt vor Schreck, von der Brustwehr in den Graben, und verkroch sich im sandigen Boden... Holt begriff nichts. Da brach das Gewitter los. Jagdbomber glitten über den Himmel, kippten über die Tragflächen und stießen herab, und entlang des Stadtrandes flog in Fontänen und dann in einer einzigen, zusammenhängenden Masse die Erde zum Himmel auf und schmetterte mit Stahl vermengt auf den Boden zurück, und der Boden bebte wie unter vulkanischen Eruptionen... Schwarze Nacht, treibender Rauch, zum Himmel emporsteigendes Erdreich, das den Tag löschte, von rotem, rußigem Feuer und gelben Blitzen durchzuckte Nacht, Detonationen, Raketen, Bomben, dumpfes Gehämmer der Bordkanonen, verschmelzend zu einem einzigen Ton, den das Motorengeheul der niederstoßenden Maschinen überschrie. Holt lag bewegungslos, das Gesicht zum Himmel gekehrt, während rasend schnell die Bilder wechselten: vom Wahnsinn entstellte Gesichter, heranrasende Jäger, brüllende Einschläge, der Graben, der einstürzte, tonnenschwer niedergcpresstes Erdreich, bewegungslose Gestalten, und Feuer, überall Feuer... Das Grauen sickerte tiefer und tiefer in Holts Bewusstsein und löschte jede Regung. Sein Gesicht erstarrte in einer Grimasse.
Die Jagdbomber flogen ab.
Die Stille, die zurückblieb, füllte sich mit dem Geschrei der Verwundeten. Aber schon zitterte die Erde unter den herannahenden Panzern. Die vier Shermans rollten feuernd den Graben entlang, Brustwehr samt Besatzung mit breiten Ketten zermalmend, ein paar Panzerfäuste detonierten, ohne zu treffen, und die Panzer krochen auf die Landstraße und rollten in die Stadt, wo sie die letzte Pak empfing. Aber da riss das Hurra der Angreifer die Überlebenden aus dem Graben hoch.
Holt tauchte aus dem Loch, Augen und Mund voll Sand, riss das MG auf die Brustwehr, zögerndes Schießen setzte ein, Handgranaten barsten. Die Amerikaner waren am Graben, liefen nach links zur Straße hin; dort war der Einbruch gelungen. Die braunen Gestalten sprangen in den Graben und rollten ihn auf... Wolzow brüllte. Holt warf das MG herum. Die Amerikaner strömten regellos und ungeordnet zur Einbruchstelle. Wolzow warf Handgranaten. Wo die Landstraße zwischen die ersten Häuser führte, hieben die Amerikaner alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte oder sein Heil in der Flucht suchte... Wolzow kletterte aus dem Graben, brüllend: "Vorwärts!" Auf der Landstraße stieß die Pak zwischen den Häusern hervor und in den Haufen der Amerikaner hinein, gefolgt von dem Zug, an dessen Spitze Vetter stürmte. Die verwirrten Amerikaner gingen zurück. Die Pak feuerte Sprenggranaten unter die Fliehenden, rollte weit die Landstraße vor und beschoss die Fahrzeuge auf der Chaussee. Wolzow raffte ein paar Leute zusammen und riss sie mit gegen die Landstraße, wo Vetters Leute mit Kolben und Seitengewehr auf die Amerikaner eindrangen. Holt schleppte keuchend das MG, an der Hüfte angeschlagen, die Rechte am Zweibein, die Linke am Abzug. Noch hielt sich unter einer Baumgruppe ein Dutzend Amerikaner, um einen Neger geschart, aber als der Neger fiel, war das Handgemenge entschieden.
Die Kompanie behauptete den Flecken und den verschütteten Graben.
Wolzow geriet in Raserei. Er trieb, im Gesicht weiß vor Wut, einen der jungen Soldaten vor sich her, der während des Handgemenges ins Gebüsch geflüchtet war, trieb ihn zum Straßenrand und schoss ihn nieder. Vetter erschoss mit seinen Leuten ein paar khakifarbene Gestalten, die schon in die Stadt eingedrungen waren und nun vergebens die Hände hoben. Man erschoss auf Wolzows Befehl auch die Verwundeten. Die viel zu weit vorgeprellte Pak stand in Flammen. Aber das alles entging Holt. Er saß weit abseits auf einer Munitionskiste bei den Villengärten, er hatte den Helm abgebunden und vergrub das Gesicht in den Händen.
Ruhe trat ein. Endlich wurde es Abend.
Im Gefechtsstand brannte eine Petroleumlampe. Wolzow schnallte das Koppel mit der Pistole ab und warf es auf die Bank zwischen die Telefone. Auch Vetter legte die Waffen weg, öffnete den Kragen der Feldbluse und beugte sich dann prüfend über den Leutnant.
"Jedenfalls hat die Kompanie die Stellung gehalten", sagte Wolzow.
Unteroffizier Winkler stand nahe der Tür; er machte eine fahrige Handbewegung. "Die Kompanie?" Seine Stimme war vom Schreien brüchig. "Es gibt keine Kompanie mehr. Noch fünfzig Mann. Sie sind fertig."
"Die müssen sich erholen", sagte Wolzow barsch. "Die müssen weiterkämpfen. Meinetwegen teil Schnaps aus." Aber Winkler machte keine Anstalten, den Keller zu verlassen. "Die Jabos...", sagte er heiser, und sein Gesicht war eingefallen, wie tot, und nicht einmal mehr Angst hatte darin Platz, "die Jabos... und unsere Verluste... Es ist Wahnsinn!"
Wolzow schaute auf. Winkler verstummte unter seinem Blick. Wolzow trommelte nervös mit den Fingern auf der Karte. "Die Verwundeten nach Bucheck zurück. Vetter! Häuser am Stadtrand herrichten zur Verteidigung. Feldwachen draußen lassen. Jetzt wird aus den Häusern gekämpft!"
Vetter schrie backenknallend: "Jawohl, Herr Unteroffizier!" Er raffte Koppel und Maschinenpistole auf. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Wolzow telefonierte mit Bucheck. Er sprach kaum ein Wort und hörte mit unbewegtem Gesicht, was am anderen Ende in die Leitung gesprochen wurde. In Bucheck ist SS eingetroffen. Er legte den Hörer auf. "Die werden den Wehnert hängen", sagte er, während er zum Tisch trat. Dann stand er lange über die Karte gebeugt.
Winkler lehnte erschöpft am Türpfosten. Er hielt die Augen geschlossen, sein Brustkorb hob und senkte sich, als sei er noch immer außer Atem. Er hatte den Helm nicht abgelegt, um seinen Hals hing die Maschinenpistole. "Wolzow", sagte er, "der Junge... der Kleine vorhin... Es war..." Er verstummte, als Wolzow den Kopf hob, aber sein Blick irrte durch den Keller und blieb auf Holt haften.
Holt hockte zwischen den Telefonen. Er hatte das Grauen nicht verwunden. Der Halbschlaf vermengte die frischen Eindrücke des Gefechts mit vielen Bildern der Vergangenheit. Alles war noch einmal da, die Schlägerei am Rabenfelsen, die verhungernden Gefangenen in der Batterie, die Sägemühle in den Karpaten, die Gestreiften im offenen Grab. Er wehrte sich gegen die Bilder, er wurde sie nicht los.
Spät nach Mitternacht kehrte Vetter zurück. Er brüllte seinen Bericht in den Keller.
Holt fuhr zusammen.
"Zur Lagebesprechung", sagte Wolzow.
Vetter hängte die Maschinenpistole an einen Haken neben der Tür. Wolzow stülpte sich Wehnerts Offiziersmütze auf den Kopf. Er fröstelte und ließ sich von Vetter auch Wehnerts Mantel mit den silbernen Schulterstücken umhängen. Die Petroleumlampe warf seinen Schatten ins Riesenhafte verzerrt gegen die weißgekalkte Kellerwand.
"Meine Herren!" Holt horchte auf. Da war wieder die Stimme, rauh, schneidend, eine fremde Stimme, sie jagte Holt einen Kälteschauer über den Rücken: eine Stimme, die Befehle schrie, die Stimme des Schicksals, und sie stach in die Tiefe seiner Erschöpfung, wie sie einst in alle Träume, in die Urlaubsstunden oder ins stille Krankenzimmer hineingedrungen war, eine Stimme, vor deren Klang es kein Entrinnen gab.
"Die Kompanie hat den ersten Angriff abgewiesen und wird..."
Holt war von bleischwerer Müdigkeit erfüllt. Wolzows Rede wischte diese Müdigkeit fort. Holt hörte zu, und der Augenblick kam, da die Worte aufhörten, bloßer Schall zu sein, da er ihren Sinn aufnahm ....heldenhaft untergehn..."
Das Wort war oft gefallen. Es hatte in allen Lesebüchern gestanden, von der Heiligen Schar des Pelopidas bis zu den Figuren Ernst Jüngers, und besonders im letzten Jahr hatte es die Spalten der Zeitungen gefüllt: heldenhaft untergehn. Es war Phrase gewesen, Drohung, hysterischer Angstschrei. Aber jetzt, in Wolzows Mund, war es ein Todesurteil.
Es gibt keine Lösung, dachte Holt.
Wolzow hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, aber Holt bewegte verneinend den. Kopf. Wolzow rauchte. "Ich bin Zeit meines Lebens ein Verfechter des Schlieffenschen Cannae-Gedankens gewesen... schon Clausewitz lehrt, dass konzentrisches Wirken... Napoleon formuliert, der Schwächere darf nicht..."
Das Gerede Wolzows weckte in Holt ein Gefühl der Fassungslosigkeit, als höre er einen solchen Vortrag zum erstenmal. Wer ist das, dachte er, der dort am Kartentisch steht?
"...gekommen wäre, wenn nicht... und ich hätte, falls... gelingen würde, aber... wäre bestimmt gelungen, wenn..."
Hätte, wäre, würde, wenn...
Der Vorhang riss mitten durch. Holt erwachte. Er kam zu sich. Auf einmal sah er den düsteren Keller, den Kartentisch, den betäubten Leutnant nicht mehr unscharf, verzerrt, wie durch Nebel. Auf einmal fasste sein Blick alle Dinge klar und in harten Umrissen. Sein Denken setzte ein, mit einer Folgerichtigkeit, einer Schärfe, die eine halbe Ewigkeit unter Apathie und Gleichgültigkeit begraben gewesen war, wenn er überhaupt jemals darüber verfügt hatte, er, der Suchende mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer... Der Mechanismus seines Denkens pflügte in Sekunden alle Erfahrungen um, deutete alle Eindrücke neu, kehrte sein Leben vom Kopf auf die Füße und lief von der Vergangenheit her unaufhaltsam in die Gegenwart dieser Szene hinein.
Er sah wie gebannt auf Wolzow. Er kannte ihn nun zwei Jahre, eine lange Zeit. Zwei Jahre lang hatten sie zusammen gekämpft. Sie hatten bei der Flak nebeneinander am Geschütz gestanden, sie hatten Tiefangriffe und Bombenteppiche überlebt, sie hatten das Gefecht in den Karpaten überdauert, sie waren im Osten durch den Schneesturm geflohen, sie hatten in einem Panzer gesessen. Vom Dummejungenstreich bis zum Nahkampf gegen die Amerikaner hatten sie alles gemeinsam erlebt. Holt kannte Wolzow, nichts war neu, nichts kam überraschend.
Eine geschlagene, ausgeblutete Truppe, dachte Holt weiter, lag draußen zwischen Bäumen und Büschen und in zerbombten Kellern und schlief in tödlicher Erschöpfung, kaum einer ohne durchbluteten Verband, ohne Gehirnerschütterung, ohne Nervenschock.
Es war, als zerbreche etwas in Holts Brust. Der dort, dieser Wolzow, dachte er, steht an der Karte, draußen liegt die Truppe, das sind Menschen, und sie sind doch nichts als die einfachste Größe in einer Gleichung mit vielen Unbekannten, sind nur Pfeile auf der Karte, Schachfiguren, kleine Symbole im großen Sandkasten, sind Gegenstände für Wolzow, sonst nichts. Was aber ist Wolzow für sie, für mich?
Eine Ahnung beschlich Holt, verdichtete sich, wurde zur Gewissheit. Es nahm ihm den Atem. Die Binde fiel von seinen Augen, das dunkle Zimmer wurde hell.
Er ist ihr Schicksal.
Schicksal, dachte er, Vorsehung, Gott, wir sind ausgeliefert, Figuren im großen Spiel... Schicksal, dachte er, mein Schicksal heißt Wolzow.
Wo hab ich meine Augen gehabt, meinen Verstand? Mein Schicksal ist ein Mensch, ein lebender Mensch mit Leib und Hirn, und schlagendem Herzen, der sich Macht anmaßt über Leben und Tod, er oder ein anderer, wie hier im Keller, so überall, im ganzen Land, im Kleinen, im Großen... Und er sah nun: Das Anonyme, das System, wohlgeordnet, mit Rangabzeichen und Uniformen, eine Hierarchie der Gewalt ist unser aller Schicksal! Lüge, Betrug war alles, Verdummung war Gott und die Vorsehung nichts als Berechnung! Nicht Schicksalsmacht über Getriebenen, hieß es, nicht Vorsehung über vorgezeichnetem Weg, nicht Gott über Irdischen, Sterblichen, sondern Menschen über Menschen, Machthaber über Machtlosen, und immer Sterbliche über Sterblichen!
Er fasste Wolzow ins Auge. Er hatte noch hie mit solcher Klarheit in einen Menschen hineingesehen. Dieser Unteroffizier mit der Leutnantsmütze, der den Kopf voller Pläne hat, voller durchführbarer und undurchführbarer, auf jeden Fall aber mörderischer Pläne, zugleich voller historischer Ereignisse und Parallelen, für jeden Fehler ein Beispiel und für jeden Toten ein Beispiel, dieser Mensch dort, nicht anders als Ziesche und Ziesches Vater, Böhm, Wehnert und wie all das Gesindel hieß, ist ein Symbol: ein Verbrecher, der mit angemaßter Macht Mensch auf Mensch in den Tod schickt, ein Mörder von Berufung und Beruf. Und ich war sein Werkzeug, seine Kreatur, sein Zutreiber, dachte Holt.
Das Gefühl der Schuld stieg in ihm hoch. Es wollte ihn zurückstoßen in die alte Apathie: Ich hab auf der falschen Seite gestanden, von Anfang an, in der Slowakei, im Osten, immer, bis heute. Ich hab alles mitgemacht. Ich hab geschwiegen und zugesehn. Etwas davon war auch in mir. Und nun bin ich schuldig.
In seinem Inneren braute sich ein neues Gefühl zusammenbrennender Hass. Er verstand nun alles. Er verstand den Ausbruch Gomulkas, damals, an der Panzersperre, er verstand die Worte des Gefreiten: Das sind sie! Das will nicht aussterben, das mordet weiter. Sie sind die schlimmsten. Und er erkannte, auf welche Seite er gehört hätte: zu Sepp, zu dem Gefreiten, zu der Slowakin, zu den Gestreiften. Er sah auf Wolzow: Das sind sie, unsre Verderber, und der dort, bereitet schon neue Morde vor, zeichnet Angriffspfeile und erklärt, warum ein Teil der Kräfte von Norden angesetzt wird.., ein Teil der Kräfte, alles in allem fünfzig Mann!
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Das Stückchen Land ringsum, dieses Dreieck der Dörfer, Chaussee, Hügel und Bach, das war nichts anderes als ein überdimensionaler Sandkasten, in dem Wolzow Schicksal spielte mit Machtlosen und Verderben plante, sinnlos und mit der gespenstischen Lust eines Menschen, der einer zweihundertjährigen Mörderfamilie entstammt.
Späte Erkenntnis, zu späte Erkenntnis. Signale über Signale wurden missdeutet und überhört: alles umsonst, dreckige Arbeit, Chlorkohlensäuremethylester, Russengefangene, Zähne-einschläger, Schulhof, Sägemühle, Zug der Gestreiften. Ich war blindes Werkzeug des Verbrechens, Handlanger des Unrechts. Schaurige Bilanz! Achtzehn Jahre umsonst gelebt, achtzehn Jahre missbraucht und betrogen, und nun schuldig, schuldig. Und der Hass wuchs und schlug wie eine Flamme in ihm hoch: Im Ende lehn ich mich auf, gegen das "Schicksal", ich biet ihm die Stirn, ich bin stärker, ich spring in die Schranken.
Ich lege Wolzow das Handwerk.
Wolzow sagte: "Wir werden also jetzt sofort die Amerikaner bei ihren Fahrzeugen überfallen. Äußere dich zu den Einzelheiten, Holt."
Es war soweit. Draußen dämmerte der Tag. Holt setzte den Helm auf. Er dachte flüchtig: Meine Mutter... Aber nichts regte sich bei diesem Gedanken. Mein Vater... er hat mir alles gesagt. Aber er hat mir die Wahrheit hingeworfen, wie man einem Hund einen Knochen hinwirft, da war ich zu stolz und wollte die Wahrheit nicht hören, auch das ist meine Schuld.
"Los, äußere dich" rief Wolzow ungeduldig.
Holt stand auf und fasste die Maschinenpistole. Er sagte "Die Truppe geht zurück oder kapituliert."
Winkler, neben dem Ausgang, beugte sich nach vorn und starrte Holt überrascht an.
Wolzow stützte die Hände auf den Kartentisch und hob das Gesicht.
Holt ging zum Radio. Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Sprechers: "Erbitterte Kämpfe... Durchbruch russischer Panzer zwischen Muskau und Guben... Durchbruch im Raum Wriezen... Durchbruch... Durchbruch..." - "Stell ab!" schrie Wolzow. "Hier wird gekämpft bis auf den letzten Mann!"
Holt sagte: "Es wird nicht mehr gekämpft!"
"Nimm dich in acht", zischte Wolzow. "Ich hab schon einen umgelegt, eigenhändig, reiß dich zusammen, sonst... "
Holt nahm Wolzows Koppel mit der Pistolentasche und warf es durch die Tür in den dunklen Kohlenkeller.
"Es ist aus, Wolzow!" sagte Holt. Wolzows Gesicht verzerrte sich.
"Winkler!" schrie Holt.
Winkler riss mit einem Griff Vetters Maschinenpistole vom Haken. Vetter fuhr zurück und starrte hilfesuchend auf Wolzow.
Wolzows Hände tasteten über die Uniform, dann sprang er gegen Holt. Holt stieß den Kartentisch um. Die schwere Platte warf Wolzow gegen die Kellerwand. Holt hob die Maschinenpistole, er richtete sie auf Wolzow, er schrie:
"Du bringst keinen mehr um, Wolzow!"
Wolzow starrte in die Mündung der Waffe, starrte in Holts Gesicht und wurde fahl. Aus seiner Stirn brach Schweiß, ein Zittern ging über seine Gestalt. Er blieb unbeweglich stehen.
"Winkler", sagte Holt. "Sie übernehmen wieder das Kommando. Gehn Sie nicht nach Bucheck zurück, dort soll SS sein, gehn Sie südlich durch die Wiesen oder gleich in Gefangenschaft, wie Sie meinen…" Auf einmal versagte seine Stimme.
Winkler hielt den Türgriff in der Hand. "Komm mit, Holt!" - "Ich komm nach." Die Tür fiel hinter Winkler ins Schloss
Wolzow sagte mit einer kratzigen Stimme: "Das ist Verrat! Die Truppe ist noch gut für vierundzwanzig Stunden Häuserkampf!" Holt fuhr herum. Er schrie: "Gestern waren´s zweihundert; und wieviel sind übriggeblieben?... Du willst hier Lesebuchgeschichten aufführen, aber..." Er brach ab. Bei dem ist jedes Wort vergeblich.
"Ich fühl mich nicht zum Henker berufen", sagte Holt, "ich geh." Er rief: "Aber lauf mir nicht über den Weg, Wolzow! Verkriech dich irgendwo, aber lass dich nicht vor mir sehen!"
Er stand schon in der Tür. Als Wolzow nicht mehr die Waffe auf sich gerichtet fühlte, geriet er außer sich. Er schrie, nach vorn geneigt: "Warte, du Verbrecher! Warte, ich hol die SS aus Bucheck, ich komm wieder, du sollst hängen, ich will dich hängen sehn neben Wehnert!" Seine Stimme überschlug sich.
Holt warf die Tür ins Schloss. Er ging langsam durch die Gärten zum Stadtrand.
Die Chaussee im Tal war von Nebel verhüllt, und der Nebel verbarg die Fahrzeuge der Amerikaner und hüllte auch die zurückgehende Truppe ein. Holt fand den Graben, die Villen am Stadtrand verlassen. Zwischen Bombentrichtern lagen die Toten. Die Stadt war menschenleer.
Holt stand am Ortseingang bei einem der zertrümmerten Panzer. Die letzten Soldaten zogen gebückt durchs Gebüsch und tauchten im Nebel unter. Dann war Stille. Holt sah zu den Amerikanern hinüber. Nun, da der Bruch vollzogen war, da er sich losgesagt hatte von aller Vergangenheit, fühlte er sich einsam. Was wird nun aus mir? Er dachte an Gomulka.
So stand er lange, an den rußigen Stahl des Panzers gelehnt.
Es war nun taghell. Langsam hob sich der Nebel. Holt hörte Geschrei, das musste in der Stadt sein. Er wendete sich um und ging in Richtung Marktplatz.
Benagelte Stiefel knallten über das Pflaster. Jemand rannte die Straße hoch zum Ortsausgang, das war Vetter. Holt drückte sich in eine Mauerecke. Aber Vetter kam auf ihn zu, waffenlos und mit dem Gesicht eines Menschen, dem der Schreck Verstand und Überlegung geraubt hat. Er packte Holt an beiden Armen und stammelte: "Der Wolzow... sie wollen ihn ... " Er schrie: "Sie wollen ihn hängen!" Der Mund schnappte auf und zu und stieß Worte hervor: "Von Bucheck die SS... die suchen auch nach dir... Ihr Führer ist der Meißner..." Er brüllte verzweifelt: "Der Meißner von daheim... du kennst den doch!"
Die Szene mit Vetter mochte ein Spuk sein, ein Alptraum, aber dann schlug es wie der Blitz ein: Meißner hängt Wolzow! Er dachte daran, zu fliehen, geradewegs zu den Amerikanern, die Chaussee hinab, aber dann stieg in ihm wieder der Hass hoch, die Bilder der Erinnerung waren da: der alte Ziesche, die Sägemühle, die Wachmänner der Gestreiften. Und der Gedanke, in dieser letzten Minute des Krieges das Gewehr umzudrehen, löschte alle Überlegung aus.
Er lief los, durch enge Querstraßen, im Bogen zum Markt, er suchte den Keller, der zu einem Bunker hergerichtet worden war, er pirschte sich durch den Garten und sprang hinab in das Kellerloch. Mit einem Blick überschaute er Waffen und Geräte, die hier zurückgelassen worden waren. Vetter stand bebend am Hinterausgang, der in den Garten mündete. Holt kletterte auf den Kistenstand unter dem Fenster. Er sah Gestalten auf dem Marktplatz, keine fünfzig Meter entfernt, vor der Kulisse eines ausgebrannten Sherman. Er hörte Wolzow schreien. Dann öffnete sich der Kreis. Holt sah Wolzow, die Ellenbogen auf dem Rücken mit einem hellgelben Offizierskoppel zusammengeschnürt, barhäuptig und schon den Strick um den Hals. Man schleifte ihn zu der Brunnenfigur, die aussah wie ein Kandelaber. Der große, blonde SS-Führer war wirklich Meißner. Wehnert stand taumelnd dabei und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf Wolzow, der wie ein Tier brüllte, mit unkenntlicher Stimme.
Das alles sah Holt, und es zog sich sekundenlang wie ein Vorhang über seinen Blick, aber der Vorhang riss mitten durch. Man warf den Strick über die Brunnenfigur. Holt dachte: Die Mörder henken sich gegenseitig!
Er sprang in den Keller. Er raffte ein MG auf. Vetter stand fahl und hilflos im Halbdunkel, eine Maschinenpistole in den Händen. Holt stieg mit dem MG und einem Munitionskasten zum Fenster hoch. Schloss zurück, Deckel auf, Deckel zu, entsichern, runter das Visier, Anschlag.
Jetzt gnade euch Gott!
Wolzow hing unbeweglich an der Brunnenfigur. Die SS-Männer standen scharf und deutlich auf dem Visier. Holt zog ab. Ein Feuerstoß schmetterte heraus. Es war soweit. Die Rechnung wurde beglichen, für die Sägemühle, für die Gestreiften, für Gundels Eltern... Ihm war, als falle die Vergangenheit wie eine Last von ihm ab.
Die erste Garbe warf drei oder vier SS-Männer vor dem Brunnen nieder. Die zweite Garbe fasste Wehnert und einen bulligen Kerl und Meißner, und Wehnert schlug über den Brunnenrand, während Meißner aufs Pflaster stürzte. Die anderen sprangen mit Panthersätzen in die Ruinen. Aber da stiebten vor dein Kellerloch Sand und Steinsplitter auf. Holt war schon entdeckt worden und erhielt von allen Seiten Feuer. Vorsicht, die sind gefährlich, die haben Routine! Da krochen sie schon näher. Aber ich bin auch gefährlich, ich stell mich tot. Das MG schwieg. Fünf, sechs Mann sprangen aus den Trümmern und stürmten heran. Die Garbe fasste sie und warf sie zu Boden. Kommt doch, kommt!
Aber die SS war auf einmal unkonzentriert. Holt sah die versteckten Gestalten nach rechts feuern, als vermuteten sie auch dort einen Gegner. Holt schoss. Die SS erwiderte das Feuer. Dreck stiebte vor dem Fenster auf. Holt legte einen neuen Gurt ein.
Da hackte Vetters Maschinenpistole los, hinten, wo der Kellergang in den Garten mündete. Vetter schrie: "Die Amiiiis!"
Die Amis? Holt feuerte auf einen SS-Mann, der von rechts nach links über den Markt floh und im Laufen das Gewehr fallen ließ, ehe er auf das Pflaster stürzte. Schieß auf die SS! Schieß um dich, wo immer sich was rührt. Das Ende ist da.
Nur Gundel hätt ich gern noch einmal wiedergesehn!
Die Garbe jagte einen fliehenden SS-Mann um die Ecke. Holt sprang auf den Kellerboden. Im Garten peitschten Schüsse. Ausbruch. Nicht im Keller sterben. Er lief in den Garten. Da war kein Vetter mehr. Zwischen den Büschen huschten khakifarbene Gestalten. Holt prallte mit einem Amerikaner zusammen, beide fielen zu Boden, jemand trat ihm auf den ausgestreckten Arm und entwand ihm die Pistole, man überwältigte ihn.