Gedanken zum Islam
Gedanken und Aussagen zum Islam Kommentar von Ahmad Mansour Ich bin Muslim und will keine Muezzin-Rufe in Deutschland - weil ich weiß, wohin das führt

FOCUS-Online-Gastautor Ahmad Mansour

Montag, 18.10.2021, 15:41

Sollen in deutschen Städten Muezzine zum Gebet rufen dürfen? Ich bin Muslim und sage trotzdem: Nein! Aber anstatt über derlei Dinge zu diskutieren, sollte Deutschland besser eine viel grundsätzlichere Frage in seinem Umgang mit dem Islam für sich beantworten. dpa

Schon während der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 kam eine Moschee in Neukölln in Zusammenarbeit mit der hiesigen Lokalpolitik auf die Idee, den Muezzin-Ruf als Zeichen der Solidarität zu nutzen. Infolgedessen standen hunderte junge Menschen vor der Moschee, legten wenig Wert auf die geltenden Abstandsregeln und feierten die Rufe des Muezzins als persönlichen Sieg für sich und ihre Religion.

Für viele von ihnen, insbesondere aus dem Umfeld des politischen Islams, bedeutet jede Aktion, welche zu mehr Sichtbarkeit ihres geltenden Islam-Verständnisses in der Öffentlichkeit führt, einen Sieg. Dieses Islamverständnis fordert für sich und seine Anhänger einen Exklusivitätsanspruch und besitzt Anspruchsmentalität. Ihnen geht es wenig um Gleichberechtigung oder Toleranz der Religionen und um deren Co-Existenz, sondern ausschließlich um mehr Sichtbarkeit, mehr Macht und mehr Unterwanderungsmöglichkeiten.

Muezzin-Rufe in Deutschland werden nicht zu mehr Toleranz führen, sondern zu mehr Spaltung

Und während Berliner Politiker die Aktion als Zeichnen der Solidarität, Toleranz, Offenheit und Vielfalt feierten, gingen die Bilder aus dieser Berliner Nebenstraße um die Welt. In einigen Teilen wurde die Botschaft nicht als Zeichen der Offenheit und Solidarität verstanden. Sondern als Etappensieg eines politischen und weniger toleranten Islamverständnis mit seinen ununterbrochenen Bemühungen sich mit allen Möglichkeiten zu behaupten, auch außerhalb seiner historischen Grenzen.

Und bevor mich nun die nicht neuen, aber dennoch zahlreichen Vorwürfe erreichen, ich sei Islamhasser, intolerant oder ein Haussklave, der seiner eigenen Community in den Rücken falle. Nein! Ich bin selbst Muslim, bin dankbar in einem Land leben zu dürfen, wo man seine Religion frei wählen und auch praktizieren kann.

Ich bin dankbar in einem Land leben zu dürfen, in dem Religionen gleichberechtigt nebeneinander koexistieren dürfen. Ich hasse nicht, ich denke nach, stelle Fragen, betrachte die Angelegenheit aus einer Innensicht und kritisiere eine Aktion, weil ich fest davon überzeugt bin, es wird nicht zu mehr Offenheit und Toleranz führen, sondern im Gegenteil, zu mehr Spaltung.

Morgens fordern sie Gleichstellung, abends propagieren sie den Islam als einzig wahre Religion

Mit diesen Ansprüchen und diesen Gedanken erscheint es auch wenig verwunderlich, dass es sich um dieselben Personen handelt, welche an einem Tag morgens Muezzin-Rufe im Namen der Gleichstellung einfordern und am gleichen Abend vom Islam als die einzige wahre Religion sprechen. Jegliche Kritik an ihrem Islamverständnis wird mit aggressiven und bedrohlichen Reaktionen beantwortet.

Und statt Offenheit gegenüber Missständen in den eigenen Reihen an den Tag zu legen, statt Dialog, Diskurs zu suchen, über die Unterdrückung von Frauen, Homophobie, Antisemitismus im Namen dieser Religion, treten sie sehr schnell beleidigend und diffamierend auf.

Debatte um Muezzin in Köln: Sinnbild einer kranken Diskurskultur

Die Debatte um den Muezzin in Köln ist Sinnbild einer kranken Diskurskultur, wenn es um Themen wie den Islam geht. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich mit solchen Aktionen mehr Toleranz erhoffen: Ihnen geht es nur um sich und das Gefühl, besser zu handeln und moralischer zu sein.

Eine Forderung nach mehr Toleranz und Vielfalt seitens Ditib trauen sie sich nicht zu formulieren. Ein Verein, der immer wieder mit einer Anspruchsmentalität auftritt und wiederholt durch Hetze gegen Christen, Juden und liberale Muslime auffällig geworden ist.

Was bedeuten schon direkte Kontakte zu Erdogan, Jagd auf Kritiker, Spionageaffären und ein starres Islamverständnis, das selbstbewusst von Eroberung spricht, im Vergleich zu der möglichen Inszenierung einer Politik als mutiger Kämpfer für Vielfalt.

Auf der anderen Seite stehen Rassisten, welche Muslime und den Islam als homogene Gruppe sehen und wollen, dass diese Gruppe als Ganzes lieber heute als morgen das Land verlässt. Muezzin, Moschee, Kopftuch und die alleinige Existenz der Muslime in Deutschland sind dann schon eine Provokation.

Deutschland verpasst zum zigsten Mal eine große Chance

Eine differenzierte Debatte und angebrachte Kritik? Fehlanzeige! Das könnte ja einen Shitstorm auslösen, die nächste Einladung zum Sommerfest des Bundespräsidenten gefährden und das eigene Bild als heiligen Toleranten beschmutzen. Schmutzig sollen sich lieber die Anderen machen! Die schnell als Krawallmacher, Islamhasser und Rechtradikale betitelt werden.

Und so verpasst Deutschland zum zigsten Mal die Möglichkeit, das Verhältnis des politischen Islams zur Demokratie zu verbessern, die Gestaltung der Zukunft einer multireligiösen Gesellschaft vorzunehmen und die Frage, welche Rolle Religionen in Deutschland und Europa angesichts einer unsicheren Identität insgesamt spielen sollen, zu klären.

Eigentlich geht's um eine grundsätzlichere Frage, die Deutschland nicht beantworten will

Eigentlich sind solche Ereignisse ein wunder Punkt für jeden Europäer, weil sie ihn dazu zwingen, über seine eigene Identität nachzudenken und eine Entscheidung treffen zu müssen: Ist Europa christlich? Säkular? Welche Identität will Europa pflegen, hervorrufen oder sollten alle Religionen komplett gleich betrachtet und behandelt werden? Und wenn ja, wie sichtbar sollten Religionen sein, welches Verhältnis sollte die Politik dazu haben?

Diese bedeutenden Fragen will Europa gerne vermeiden, ignorieren und ist nicht bereit, diese bis zum Ende zu durchdenken. Denn in der Frage nach der Sichtbarkeit des Islams in Europa versteckt sich die Frage nach der Identität Europas. Und solange Europa dazu keine Antwort findet oder finden will, werden solche Debatten stellvertretend behandelt, erzeugen Unsicherheit und Unbequemlichkeit.

Darf ein Bundesland wie Berlin von Steuergeldern Weihnachtsbeleuchtung finanzieren? Und wenn ja, sollte es an Ramadan genau das Gleiche tun? Solange diese Fragen nicht offen diskutiert und geklärt werden, wird es immer wieder solche Debatten geben, die nicht nur zu nichts führen werden, sondern immer wieder von Vertretern des politischen Islams genutzt und missbraucht werden, um mehr Sichtbarkeit zu erlangen. Und sie versuchen so mindestens die Muslime in Europa für eine eindimensionale konservative islamische Identität zu gewinnen.


Quelle: focus.de 18.10.2021


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