zum Gedenken

Günther Reiche // Sind die Lehrer Schuld?

- aus dem Schultag in Ost und West -

Leonberg - Eltingen 2002

Inhaltsverzeichnis



Vorbemerkung

In letzter Zeit sind die Schulen etwas in die Kritik geraten. Angeblich haben die Schulabgänger nicht das Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Wirtschaft und Industrie von ihnen von Ihnen erwarten. Diese Unstimmigkeiten haben mich veranlasst, der ich ein Leben lang Berufsschullehrer war, zurückzublicken und aus der Schule zu plaudern. Das habe ich hier nach bestimmten Stichworten ohne besondere Zuordnung oder Folgeordnung getan. Es ist eine lose Anordnung von Episoden. Ich weiß, dass ich mir mit diesen Ausführungen unter Lehrern und Schulfunktionären kaum Freunde mache, eher schon unter Schülern und Eltern. Und manche(r) Pädagogik-Student(in) kann daraus vielleicht die eine oder andere Anregung entnehmen. Ich habe unten, an der Basis, an der Schule gearbeitet. Alles, was hier geschrieben, hat sich wirklich zugetragen. Und meines Erachtens kann an den Schulen einiges ändern, ohne dass dazu erst Erlasse oder Verordnungen notwendig wären. Schließlich findet der Unterricht im Klassenzimmer statt und nicht im Kultusministerium.
Wenn ich gelegentlich den Eindruck erwecke, einer zu sein, der mit erhobenem Zeigefinger dasteht, so nehme ich das in Kauf.
Das geht schließlich jedem so, der auf Ungereimtheiten hinweist. Meinen Ausführungen stelle ich eine Erkenntnis von Pestalozzi voran und begründe sie:

Von allen Fehlern seiner Schüler suche der Lehrer den Grund in sich!

So oft oder so selten ich einen Kollegen auf diesen Rat von Pestalozzi hingewiesen habe, hatte ich den Satz kaum ausgesprochen, wurde mir energisch entgegengeschmettert: "Na, das stimmt aber nicht!"
Deshalb ein Beispiel aus meiner eigenen Schulzeit:
Eines Tages bekam mein Vater einen Brief vom Gymnasium. Ganz entgegen seiner Gewohnheit ließ er den Brief offen liegen, so dass ich ihn lesen konnte. Das war alles, was mein Vater mir gegenüber getan hat. Der Brief - es war ein Vordruck - hatte sinngemäß folgenden Inhalt:
Sehr geehrter Herr Reiche!
Ich sehe mich gezwungen, Ihren Sohn Günther mit 1 Stunde Arrest zu bestrafen,
Begründung: Zu meinen Beispielsatz: "Ich gehe fort!"
bemerkte er: "Gott sei Dank."
Was war passiert? Ich hatte
a) aufgepasst,
b) gehört, was der Lehrer gesagt hat,
c) es registriert,
d) es sofort verarbeitet und
e) spontan geantwortet.
Das ist fünfmal positiv. Dafür bekomme ich eine Stunde Arrest und schuld ist der Lehrer!
Wenn er einen einfachen Beispielsatz, braucht, warum sagt er dann nicht: .‚Sie kauft ein" oder "Es weint laut" oder "Er fährt Rad"? Nein, er sagt ausgerechnet: "Ich gehe fort!" An meiner Reaktion war doch der Lehrer schuld.

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Meine Schulen

Von 1946 bis 1969 unterrichtete ich an der Industrieschule Chemnitz anfangs Maschinenschlosser, Mechaniker, Werkszeugmacher und Dreher, später Technische Zeichnerinnen, das war in der DDR ein Frauenberuf. Nach ein paar Jahren wurde die Schule Gewerbliche Berufsschule genannt. Von 1971 bis 1983 war ich an der Kreisberufsschule Leonberg tätig. Sie wurde in dieser Zeit zum Beruflichen Schulzentrum (BSZ) ausgebaut. Ich blicke also jetzt auf zwei recht unterschiedliche Schulen zurück.

Ob meine Beobachtungen auch für andere Berufs- und für allgemeinbildende Schulen gelten können, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber Lehrer gibt es an allen Schulen.

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Aufgabe, Auftrag, Pflicht

Aus meiner Kindheit ist mir in Erinnerung, dass es um das Jahr 1933 geheißen hat: "Der Lehrer muss neutral sein." Er sollte sich also nicht zu Äußerungen zu Gunsten einer politischen Partei hinreißen lassen. Insofern hat es mich gewundert, als einer unserer Lehrer einmal abwertend von Mussolini, diesem Makkaronifresser, gesprochen hat. Diese Bewertung weiß ich heute noch, den Grund dafür aber nicht. Es zeigt mir, wie langanhaltend Aussagen eines Lehrers sein können. Und dessen sollte man sich als Lehrer bewusst sein.

Zu welcher Verblendung politische Ideologie führen kann, zeigt eine Äußerung des Nazi-Bildungsministers von Sachsen, er hieß wohl Göpfert, der auf einer Tagung gesagt haben soll: "Es ist nicht ausschlaggebend, dass der Lehrer auf seinen Unterricht vorbereitet ist, es genügt, wenn er in SA-Uniform vor der Klasse steht!" Mir ist aber kein Lehrer bekannt, der in dieser Zeit so vor seiner Klasse gestanden hätte.

Nach 1945 haben die Sowjets in ihrer Besatzungszone alle Lehrer aus dem Schuldienst gefegt, die einen wenn auch noch so kleinen braunen Fleck auf ihrer Weste hatten. Stattdessen wurden "Neulehrer" eingestellt. Für Berufsschullehrer war dazu eine abgeschlossene Berufssausbildung erforderlich. So bin ich in den Schuldienst gestolpert. Meine Vorstellung: Der Lehrer muss neutral sein. Nach kaum zwei Jahren sagte mir ein älterer Kollege: "Ich gehe wieder in die Industrie. Das wird mir hier zu politisch!" Er war Elektromeister. Und was war ich? Durch den Krieg hatte ich nicht wie geplant Ingenieur studieren können, war ohne die erwünschte Ausbildung und gerade dabei, mir eine berufliche Möglichkeit aufzubauen. Also blieb ich.

In der DDR galt der Lehrer als der erste Funktionär des Staates. Er hatte die Aufgabe, seine Schüler zu vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Menschengemeinschaft zu erziehen. Und der Lehrer war verpflichtet, jeden Schüler zum Klassenziel zu führen. Beide Aufgaben hingen zusammen. Dafür gab es einen ganzen Katalog von Maßnahmen: Arbeitskollektive wurden großgeschrieben, Leistungsförderung durch Patenschaften zwischen Schülern, Lernaktive nach Unterrichtsschluss und den Klub Junger Techniker mit verschiedenen Zirkeln. Lehrausbilder der Volkseigenen Betriebe waren verpflichtet, zweimal im Jahr in der Berufsschule zu hospitieren. So ergab sich eine Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule, die sich letztendlich in besseren Leistungen der Schüler niederschlug. Jeder Lehrling erreichte das Ausbildungsziel.

Für die staatsbürgerliche Erziehung gab es natürlich Möglichkeiten, die sich auch im Fachunterricht boten. Als man in der Technik begann, Metalle zu zerspanen, wurden die Werkzeugmaschinen von Pferdegöpeln oder von schwacher Wasserkraft angetrieben. Dazu genügte als Werkzeug ein einfacher Werkzeugstahl.
Mit der Entwicklung der Dampfkraft als Antriebstechnik leisteten die Werkzeugmaschinen mehr, es erhöhte sich die Schnittgeschwindigkeit, also musste ein besserer, ein Schnellschnittstahl geschaffen werden.
Als Elektromotoren direkt an die Werkzeugmaschinen angebaut wurden, erhöhte sich deren Leistung so, dass ein noch besseres Schneidewerkzeug, das mit Hartmetall- oder gar Keramikschneidplatten ausgerüstet war, gefunden werden musste.
Und hier kann man seine Schüler auf die dialektische Wechselwirkung aufmerksam machen, wonach sich aus der Quantität (Menge der Erfahrungen) eine neue Qualität (Erhöhung der Leistung) ergibt. Diesen Umschlag von Quantität in Qualität gibt es auch in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft angeblich bis hin zum Sozialismus. Ob der Lehrer diesen Vers aber seinen Schülern erzählt, hängt von seiner eigen politischen Überzeugung ab oder davon, ob gerade sein Schulleiter hospitiert.

Einmal beklagte sich eine Klassenaktivleiterin (Klassensprecherin) bei mir als Klassenlehrer, dass der Lehrer der Werkstoffkunde beim Thema Kupfer 25 Minuten lang über den Kampf der Mansfelder Kupferkumpel gesprochen hat. Das sei doch Aufgabe des Faches Staatsbürgerkunde und Geschichte. Sie wollten etwas über das, Kupfer wissen. Ich habe mich anschließend mit dem Kollegen unterhalten. Er fand aber den Kampf der Kumpel so wichtig, dass er weiterhin daran festhalten wollte, ihn so eingehend in seinem Unterricht zu erwähnen. Und ich hatte von da an wahrscheinlich ein Häkchen mehr hinter meinem Namen in der sozialistischen Liste.

Einmal vor einer "Wahl" musste jeder Lehrer in seinem Unterrichtsraum in einem Wechselrahmen DIN A4 seine persönliche Stellungnahme zu dieser "Wahl" abgeben. Ich habe sinngemäß geschrieben, dass die eigentliche Wahl bei der Vorstellung der Kandidaten im Wohngebiet erfolgt - wohin freilich nur wenige Bürger gingen - und die Stimmabgabe am Wahlsonntag dann der feierliche Höhepunkt ist.

Da ich nicht in Baden-Württemberg ausgebildet bin, wusste ich nicht, wie hierzulande die Aufgaben und Pflichten definiert sind, denen ich nachkommen sollte. Deshalb habe ich die Ohren gespitzt und die Augen aufgemacht. So stellte ich fest: Der Lehrer hat den Schüler zu bilden, nicht ihn zu erziehen! Für mich, der ich das "1000jährige" Reich und die DDR hinter mir hatte, hieß das selbstverständlich: Keine Erziehung im Sinne irgendeiner politischen Gruppierung, wohl aber Erziehung zur Demokratie und den Grundwerten der menschlichen Gesellschaft.
Ob es für andere Lehrer ein Freibrief ist, grundsätzlich nicht zu erziehen, vermag ich nicht zu beurteilen.
Eine andere Feststellung: Der Lehrer ist fähig, den Schüler zu unterrichten! Woher das stammt, weiß ich nicht. Vermutlich ist das die Antwort eines Kultusministers auf die Frage nach der Lehrerausbildung. Und da kann er kaum etwas anderes sagen. Was aber kann mancher Lehrer daraus machen? Ich bin ja fähig, den Schüler zu unterrichten, wenn der das nicht begreift, ist das doch nicht meine Schuld!

Und noch etwas bekam ich mit. Angeblich haben die Lehrer den Schülern gesagt, welche Rechte sie gegenüber ihren Eltern hätten. Und die Eltern haben das damit vergolten, ihren Kindern zu sagen, welche Rechte sie gegenüber ihren Lehrern hätten. Wer von beiden damit angefangen hat, weiß ich nicht. Das ist wie mit dem Ei und der Henne. Auf alle Fälle kann damit eine Spannung aufgebaut werden, die einer guten Zusammenarbeit nicht förderlich ist.

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Lehrpläne

Als ich 1946 in den Schuldienst kam, unterrichteten wir noch nach Lehr- und Studienplänen aus den 30er Jahren. Soweit ich Ich mich entsinne, gab es am Vormittag 2 Std. Fachkunde - ein Gemisch von Technologie, Maschinenelementen, Physik, Elektrotechnik und wohl sogar etwas Chemie- , 2 Std. Fachrechnen, 1 Std. Deutsch und am Nachmittag 3 Std. Fachzeichnen. Etwa als die DDR gegründet wurde, kamen drei oder vier Jahre nacheinander jedes Jahr neue Lehrpläne. Einer war überladener und hatte hochtrabendere Ziele als der andere. Keiner war je zu erfüllen. Unter Berufsschullehrern machte für den Umgang mit diesen Lehrplänen das Wort die Runde: Da hilft nur, den Lehrplan "heroisch zu amputieren"!

Es war üblich, dass der gesamte Unterricht von ein und demselben Lehrer erteilt wurde. Anfangs musste ich sogar in der Schulwerkstatt jeweils mit der halben Klasse 4 Std. Vorbereitenden Werkunterricht halten. Das wurde aber bald in die Hände Werkmeistern gelegt.
Wesentliche Änderungen gab es in den 50er Jahren. Es wurde allgemein die Polytechnische Oberschule eingeführt, und etwa von 1956 an hatten alle Schüler der DDR wenigstens die Mittlere Reife. In der Berufsausbildung wurde strikt getrennt: Praktische Ausbildung im Betrieb, theoretische Ausbildung in der Schule. Das wirkte sich z.B. so aus, dass es für Technische Zeichner an der Schule kein Fachzeichnen mehr gab; neu eingeführt wurde dafür vorübergehend das Fach Normenkunde. Die Lehrpläne an den Berufsschulen wurden grundlegend geändert, und es wurde das Fachlehrerprinzip eingeführt. Die Fachkunde wurde entflochten und beschränkte sich rein auf die Metalltechnik. Die Fächer Physik / Elektrotechnik, Chemie und Mathematik wurden neu eingeführt, und dieser Unterricht wurde von Naturwissenschaftlern erteilt. Neu war auch das Fach Betriebsökonomie. An allgemeinbildendem Unterricht gab es Staatsbürgerkunde/Geschichte und Deutsch, ebenfalls von Fachlehrern erteilt. Und auf Anraten der Mediziner wurde der theoretische Unterricht auf täglich höchstens sieben Stunden beschränkt.

Als ich 1971 nach Leonberg kam, fand ich noch die Lehr- und Stundenpläne vor, die mir von 1946 bekannt waren. Es gab aber immerhin schon die Möglichkeit, dass Deutsch, Wirtschaftskunde und Gemeinschaftskunde von einem anderen Lehrer erteilt wurden. Wenige Jahre später wurde auch hier das Fachlehrerprinzip eingeführt. Die Arbeitskunde (Fachkunde) wurde aber nicht entflochten. Allerdings änderten sich bedingt durch die Entwicklung der Technik einige Themen.

Nachdem die Kreisberufsschule Leonberg zum Beruflichen Schulzentrum ausgebaut war, fand dort eine Schulleiterkonferenz statt. Ich war mit dazu eingeteilt, die Herren durch Schulhaus und -gelände zu führen. Als wir zum Konferenzzimmer zurückgingen, sagte ich zu dem alten Papa, der neben mir lief: Es ist natürlich gut, wenn der Ausbau einer Schule nicht an den finanziellen Mitteln scheitert!" "Jaja!" "Man könnte aber auch geistig einmal etwas investieren!" "Jaja!" "Zum Beispiel neue Lehrpläne!" "Na, was wollen Sie denn? Sie unterrichten doch die Grundlagen, daran hat sich ja nichts geändert!"
Für Gymnasien ist es selbstverständlich, dass ein Studienrat höchstens in zwei Fächern unterrichtet, z.B. Französisch und Geographie. Nur so kann ein qualifizierter Unterricht gehalten werden. Man frage sich, was ändert sich im Laufe eines Lehrerlebens am Französisch, was in der Geographie? Was aber ändert sich im Laufe des Lebens eines Berufsschullehrers in der Technik?
Schneidkeramik, Wachsausschmelzverfahren, automatische Steuerung von Werkzeugmaschinen zunächst mechanisch, dann elektrisch, schließlich computergesteuert elektronisch, hydraulische oder pneumatische Antriebe und Steuerungen sowie Lasertechnik, um nur einige zu nennen, die mir während meiner Tätigkeit begegnet sind. Und da setzt man den Berufsschülern für ihre Ausbildung nach dem Motto - an den Grundlagen hat sich ja doch nichts geändert - das Angebot eines bescheidenen Gemischtwarenladens vor. Damit können Industrie und Wirtschaft logischerweise nicht zufrieden sein.

Der erste Schulleiter, unter dem ich in Chemnitz gearbeitet habe sagte einmal: "Der Lehrer macht, was er gern macht!" Was macht, gleich in welchem Beruf, macht er auch gut. Das kann man nur befürworten. Eine andere Frage ist, ob es notwendig ist. Wenn neue Lehrpläne erarbeitet werden sollen, fordert die oberste Schulbehörde von verschiedenen Schulen erfahrene Lehrkräfte an, die mit dieser Aufgabe betraut werden. Und nach dem Motto: Der Lehrer macht, was er gern macht! besteht durchaus die Gefahr, dass Themen in den Lehrplan hereinrutschen, die man wohl besser zu Gunsten anderer wegließe.

Mitte der 70er Jahre kam der Gedanke auf, die Berufsschulen attraktiver zu machen. Ich habe mir gedacht: Endlich haben sie es begriffen! Jetzt werden die praktischen Berufe anerkannt und aufgewertet! Aber was geschah? Es wurde das Technische und das Wirtschaftsgymnasium eingeführt. Damit wurden noch mehr Studienanwärter herangebildet, aber keine Facharbeiter. Und da am Gymnasium ein anderer Stundenrhythmus herrscht, wurden dadurch die Berufsschulklassen die Doppelstunden zerhackt, es kam mehr Unruhe ins Haus.

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Andere Schulen

Wir wussten in der DDR einiges über die schwedischen Schulen. So hieß es, die Lehrpläne sind bis auf die Stundenpläne so ausgelegt, dass sich der vorgesehene Stoff in 60 % der Unterrichtszeit vermitteln lässt. Die restliche Zeit steht zur Verfügung, um Schülern zu helfen, die den Stoff noch nicht erfasst hatten, oder mit weiteren Beispielen das Wissen zu vertiefen. Ebenso hörten wir zuerst von den Schweden, dass sie Anschauungsobjekte in durchsichtige Plastwerkstoffe eingegossen haben. Dann konnten sie einen Käfer in dem kleinen Block ohne weiteres ihren Schülern in die Hände geben. Der Käfer konnte von allen Seiten betrachtet werden, aber keiner konnte ihm ein Bein ausreißen. Diese Technik war für DDR-Verhältnisse natürlich ein Traum.

Von polnischen Lehrausbildern hörten wir - und da schlüge wohl das Herz manches Lehrers höher - wichtig ist nicht die Unterrichtsvorbereitung. Der Lehrer weiß doch, was er den Schülern will, also soll er es einfach einmal versuchen. Der Unterricht läuft ja doch anders. Wichtig ist die Nachbereitung! Er muss sich notieren, was er das nächste Mal anders und besser machen muss! Es bleibt nur zu befürchten, dass derjenige, der keine Vorbereitung macht, auch die Nachbereitung vergisst.

Wir hatten Verbindung zur 2. Berufsschule in Prag und besuchten sie mit einigen Schülern im Winter. Auf den breiten Fluren gab es "Käfige", wo die Prager Schüler ihre Straßenbekleidung aufhängen und die Schuhe abstellen konnten. Innerhalb des Hauses trugen sie Hausschuhe. Das ist eine Möglichkeit, das Haus sauber zu halten und Geräusche zu dämpfen. Die Schule lag mitten in der Stadt und hatte keinen Pausenhof. Andere Länder, andere Sitten. Wir übernachteten privat hei Schülern und Kollegen. Als wir am nächsten Tag mit einem Bus gemeinsam zum Wintersport nach Spindlermühle fuhren, sagte mir ein Schüler: "Herr Reiche, die Tschechen denken über die Russen genauso wie wir!" Ich brauchte nicht zu fragen: "Wie denken wir denn?" Als Gegenleistung kamen im Sommer Prager Schülerin in unser Zeltlager nach Lychen an der Mecklenburgischen Seenplatte. Eine tschechische Kollegin wollte ihre Nichte mitbringen, die aber nicht diese Berufsschule besuchte, so dass sie eine besondere Einladung brauchte. Der verantwortliche Kollege bat mich, die Nichte einzuladen, ich verstünde doch, das gut zu formulieren. Ich habe das getan, und das Mädchen war dann auch mit in Lychen. Später musste ich mir von der Stasi vorhalten lassen, dass ich doch immer so ungesetzliche Handlungen begehe!
Vielleicht war in der DDR der Drang größer, etwas aus dem Ausland zu erfahren. Der persönliche Aktionsradius war ja auch beschränkt.

Ähnlich ging es wohl der Delegation von Funktionären der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol aus Moskau, die uns im Jahre 1965 besuchte. Fünf junge Leute aus dieser Gruppe hospitierten überraschend eine Stunde bei mir im Fach Betriebsökonomie. Dolmetscher war ein polnischer Student, der an der Forstakademie Tharandt bei Dresden Ökologie studierte. Er bedankte sich am Ende der Stunde und titulierte mich dabei als Professor. Meine Schüler haben mit einiger Mühe das Lachen unterdrückt. Ich hatte vorher keine Möglichkeit, meine Schüler aufmerksam zu machen, dass in manchen Ländern Lehrer, die Schüler unterrichten, welche älter sind als vierzehn Jahre, also für ihren Beruf (ihre Profession) ausgebildet werden, mit Professor angesprochen werden. Bei uns gehört ein Professor bekanntlich an eine Hochschule.
Mit dem polnischen Studenten habe ich mich anschließend noch unterhalten. Ich habe ihm gesagt, dass ich es gut finde, wenn man jetzt schon daran denkt und damit anfängt, Fachkräfte für Ökologie auszubilden, damit uns später in der Umweltbelastung und im Umweltschutz nichts ans Bein läuft. Seine Antwort: "Wenn es nicht schon zu spät ist!" Das war im Jahre 1965! Heute haben wir das Jahr 2001. Und wie viel Zeit davon haben wir fast tatenlos verstreichen lassen?

Abends war ein geselliges Beisammensein mit Tanz, das der gastgebende Großbetrieb organisiert hatte. Als ich mit der russischen Deutschlehrerin tanzte, habe ich sie gefragt, ob sie in Deutschland das vorgefunden hätte, was sie sich vorgestellt hatte. Ihre Antwort war ein klares Nein. Vor allem hatte sie auf den Straßen mehr Autoverkehr erwartet. Ich habe ihr gesagt, da müssen sie 200 km weiter nach Westen fahren!

Durch die Städtepartnerschaft Leonberg - Belfort hatten wir Kontakt zur dortigen Berufsschule. Dass ich der erste Leonberger Berufsschullehrer war, der mit einer Klasse zunächst das Europaparlament in Straßburg und dann die Berufsschule in Belfort besuchte, sei abschließend nur am Rande bemerkt.

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Wechsel in die Bundesrepublik

In den 60er Jahren hatte ich eine technische Zeichnerin, verständlich mit Mittlerer Reife. Sie war ein Jahr lang im Zeichenlehrbüro eines Großbetriebes mit den Grundlagen und Fertigkeiten des technischen Zeichnens vertraut gemacht worden. Danach hatte sie vier Monate an ihrem späteren Arbeitsplatz im Konstruktionsbüro gestanden. Die Ausbildungszeit für Zeichner betrug zwei Jahre.
Um diese Zeit kamen die Eltern dieses Mädchens, die sich etwas eher in die Bundesrepublik abgesetzt hatten um im Raum Nürnberg eine neue Existenz aufzubauen. Sie holten Tochter und Sohn, die bisher bei den Großeltern aufgewachsen waren. Das Mädchen konnte in Bayern (Ausbildungszeit 3 Jahre?) ihre Ausbildung fortsetzen. Sie schrieb an ihre Freundin: "Ich habe hier nichts mehr zu lernen!"

Als ich 1971 in Leonberg in den Schuldienst eingestellt wurde, tönte der Schulleiter: "Ja, da bekommen Sie die Berufsfachschule!" Ich dachte, das müssten doch so halbe Ingenieure sein. Wirst du denn dieser Aufgabe gewachsen sein? Natürlich wusste ich noch nicht, dass die Entwicklung in der Bundesrepublik anders als im "Arbeiter- und Bauernstaat" zum Gymnasium geht.
Und wer das trotz eifriger Nachhilfe nicht schafft, versucht es zumindest mit der Realschule.
Wer auch das nicht schafft, bleibt übrig für die Ausbildung in einem praktischen Beruf, abgesehen von den wenigen, die sich das vorgenommen hatten.
Und dann bewirbt man sich zunächst bei den angesehenen Großbetrieben der Gegend. Die suchen sich auf Grund der Schulzeugnisse die Besten aus.
Als nächstes kommen die mittelständigen Betriebe, dann die Kleinbetriebe und schließlich das Handwerk.
Und wer all da nicht unterkommt, der landet in der Berufsfachschule. Für diese Gruppe von Schülern war mir der Ausdruck Hilfsarbeiter bekannt. Das können durchaus sehr arbeitswillige junge Leute mit ansprechenden handwerklichen Fertigkeiten sein, aber bitte verlangt von ihnen nicht, sich damit zu quälen auszurechnen, wie viel 3% von 50,- DM sind. Meine Befürchtung, der mir gestellten Aufgabe nicht gewachsen in sein, hat sich also bald zerschlagen.

Neben dieser Klasse bekam ich u.a. eine Klasse mit Werkzeugmachern, Mechanikern (in Sachsen Maschinenschlosser), und technischen Zeichnern, unter den gegebenen Umständen also eine Art Elite-Klasse. Ich hatte Bedenken, dass es womöglich böses Blut gibt, wenn ich dem Kollegen seine technischen Zeichner wegnehme. Bald stellte sich jedoch heraus, dass er froh war, diese Berufsgruppe losgeworden zu sein. Bei seiner Ausbildung: Abitur - Berufsschullehrerstudium und ab in den Schuldienst, musste er sich das erforderliche Wissen mühevoll erarbeiten. Und das ist für diesen Bereich nicht einfach, zumal ihm ja auch jegliche praktische Erfahrung fehlte. Bevor ich meinen Dienst antrat bat ich den Schulleiter, vorher bei dem einen oder anderen Kollegen hospitieren zu dürfen. Dieser Bitte wurde entsprochen. Zunächst fiel mir auf, wie laut der Lehrer sprach. Diese Lautstärke war mir fremd; denn für mich ging es nie darum, irgendwelche Privatgespräche der Schüler zu übertönen, sondern sie zur Ruhe und Aufmerksamkeit zu veranlassen. Und das ist mir immer gelungen, wenn es auch in meinen letzten Leonberger Jahren etwas mehr Mühe gekostet hat. Ein Schüler hatte seine Füße unter den Tisch in das Fach gesteckt, wo am nächsten Tag ein anderer seine Bücher oder sein Frühstück ablegt, und kippelte die gesamte Stunde lässig mit dem Stuhl. Und wenn der Lehrer ein Problem aufwarf, antwortete dieser Schüler ungefragt vor allen anderen. Nach dem Unterricht habe ich den Kollegen gefragt, ob er nicht beobachtet hat, wie der Schüler dasitzt, und ob ihm nicht aufgefallen sei, dass er ständig ungefragt geantwortet hat. "Ach, das ist deren Demokratie, die denken, das ist Demokratie, da rede ich doch gar nicht hinein!"

Als ich dann in Leonberg begann zu unterrichten, habe ich von meinen Schülern verlangt, dass sie am Morgen, wenn ich das erste Mal das Klassenzimmer betrete, zum Gruß aufstehen, und ebenso am Nachmittag, wenn ich mich am Unterrichtsende verabschiede, Das war ich so gewöhnt. An dieser Schule war ich mit diesem Ansinnen der einzige Lehrer. Dann kam eine mir peinliche Begebenheit. In einer meiner Klassen hatte ich erst zur dritten Stunde Unterricht, war aber schon vorher in der Schule. Mein Schulleiter wollte etwas von dem Kollegen, der zu dieser Zeit in der Klasse unterrichtete. Wir gingen gemeinsam zu dem Zimmer. Kurz vor der Tür gab mir der Schulleiter noch den Auftrag, etwas zu holen. So hielt ich ihm zunächst die Tür auf und beobachtete, dass es die Klasse gelassen und ohne Reaktion hinnahm, als er das Zimmer betrat. Nach zwei Minuten komme ich ins Zimmer. Und die Klasse steht auf! Ich habe sofort mit beiden Händen gewunken, damit sich die Schüler wieder setzten. Bei den Klassen, die ich später hatte, habe ich das Aufstehen nicht mehr verlangt. So passt man sich an.
Übrigens galt in Chemnitz die Unterrichtsstunde als heilig, da hätte sich nicht einmal der Schulleiter gewagt zu stören, sondern bis zur Pause gewartet.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind die meisten Steuern in die Kassen des Deutschen Reiches aus dem Industriegebiet um Chemnitz geflossen. So nimmt es auch nicht wunder, wenn im Jahre 1928 mit der Industrieschule Chemnitz die modernste Berufsschule der damaligen Zeit eröffnet wurde. Jedes Zimmer war mit einem Bildwerfer ausgerüstet. Damals noch für Glasplatten von etwa 8 x 10 cm. An der Zimmerrückwand war ein Klapptisch für den Bildwerfer installiert. Alle Fenster hatten in Schienen geführte lichtdichte Verdunkelungsrollos. Die Schule besaß drei große Sammlungen. Die Physikalische Sammlung wurde von einem Elektromeister betreut. Die Maschinenbausammlung in der Größe von zwei Klassenzimmern mit vielen Anschauungstafeln, zahlreichen technologischen Sammlungen, Funktionsmodellen, Schnittmodellen, Klassensätzen von Zeichenmodellen und Fachbüchern wurde von einem Mechanikermeister verwaltet. In der kaufmännischen Abteilung gab es einen Schreibmaschinensaal mit danebenliegender Werkstatt für den Schreibmaschinenmechanikermeister. Die beiden erstgenannten Sammlungen wurden ständig erweitert und auf dem laufenden gehalten. (Die Kaufleute wurden nach dem Kriege abgezogen.) Wer aus einer derartig hervorragend ausgerüsteten Schule an die bescheidene Kreisberufsschule Leonberg kommt, der stellt sich schon mal die Frage: An was für eine vergammelte Dorfschule hat es dich denn jetzt verschlagen? Inzwischen ist Leonberg natürlich längst ein ebenfalls recht gut ausgerüstetes Berufliches Schulzentrum. Über zehn Jahre lang hatte ich in Chemnitz nur Berufsschüler unterrichtet, die alle die Mittlere Reife hatten und über entsprechende naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügten.

Wenn man dann in Leonberg Schüler vor sich hat, die keine Ahnung haben von den Winkelfunktionen im rechtwinkligen Dreieck, die keine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen und auch nicht logarithmisch rechnen können, stellt man sich schon mal die Frage: Hast du denn hier Analphabeten vor dir? Das war für mich schon eine Umstellung. Und die Behauptung meiner früheren Schülerin an ihre Freundin in der DDR: "Ich habe hier nichts mehr zu lernen!" fand ich bestätigt.

Nach einem Jahr wollte ich wissen, wo ich mit meiner Arbeit stehe? Deshalb habe ich mir aus dem Sekretariat die Karteikarten meiner und die einiger anderer Klassen geholt, von denen ich annahm, dass sie vergleichbar sind. Dann habe ich in einer Strichliste festgehalten, wie oft in den Fächern Arbeitskunde, Fachrechnen, Fachzeichnen und Wirtschaftskunde die einzelnen Noten von 1 bis 6 erteilt worden sind. Als Vergleich zur Arbeitskunde zog ich noch die Noten der Praktischen Fachkunde heran. Die unterrichtete ich zwar nicht, aber das Ergebnis musste ja ähnlich sein. Ich hätte mir die Mühe sparen können; denn ich lag im allgemeinen Durchschnitt. Allerdings gab es zwei Auffälligkeiten. In zwei Klassen (bei ein und dem selben Lehrer) gab es sowohl in Arbeitskunde als auch im Fachrechnen nur zwei Noten: Die 1 oder die 2. Ich kannte die Klassen nicht und konnte mir kein Urteil erlauben. Ähnliches stellte ich in einem anderen Fach fest. Mir war bekannt, dass die Schüler nicht gern zur Praktischen Fachkunde gingen, obgleich es doch das Fach war, das sie am meisten interessieren sollte. Dort gab es aber im wesentlichen auch nur zwei Noten: die 3 und die 4! Und was soll ein Schüler in einer Werkstatt, wo er trotz fleißiger Bemühung keine gute Note bekommt?

Weder der Schulleitung noch meinen Kollegen habe ich etwas von meiner Analyse gesagt. Letztere wären wohl vor Empörung schier explodiert, was mir da eingefallen wäre, sie zu kontrollieren. Das war ja aber überhaupt nicht meine Absicht.

Aus Chemnitz weiß ich, Analysen haben nur dann einen Sinn, wenn sie überraschend gemacht werden. Sind sie vorher bekannt, kann man darauf hinarbeiten. Und je mehr Klassen und Fächer man einbezieht, umso sicherer nähert man sich der Durchschnittsnote 3.

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Schulgröße

In der DDR galt diejenige Schule als groß, die dadurch ein hohes Ansehen hatte, dass sie sich auf eine oder sehr wenige Berufsgruppen konzentriert hatte. Ihre Lehrer hatten sich intensiv in das Fachgebiet eingearbeitet. Die Ausrüstung der Schule wurde ständig - auch durch Selbstbau von Lehrmitteln - erweitert.

In Baden-Württemberg nimmt man das mit der großen Schule wörtlich. So ähnlich wie die Banken ihren Reichtum durch protzige Paläste demonstrieren, klotzt man ausgedehnte Schulzentren hin und wirft sich mit seinem Bildungseifer stolz in die Brust. Diese Zentren fassen mehrere Schulsysteme und eine Vielzahl von Berufen zusammen. Und da kommt es auch nicht darauf an, welche. Als man die Friseure bei uns abgezogen hatte, war allen Ernstes im Gespräch, statt derer die Schornsteinfeger herzuholen. Ich habe mir an den Kopf gegriffen und mich gefragt: Was ist das für eine Überheblichkeit nach dem Motto: "Was der dumme Prolet braucht, schüttelt der Lehrer doch aus dem linken Handgelenk?" Wir bekamen dann nicht die Schornsteinfeger, sondern die Optiker. Die Fachlehrer dafür kamen mit. Dennoch habe ich als Metaller sowohl Gipser als auch Optiker unterrichten müssen. Glücklicherweise hat kein Schuler eine ausgesprochene Fachfrage gestellt. Ich hätte alt ausgesehen.

Schulzentren sind ein Sammelsurium, das an ein Warenhaus oder eine Bildungsfabrik erinnert. Das geht schon aus dem Briefkopf hervor:
Berufliches Schulzentrum Leonberg
Berufsschulen gewerblich, hauswirtschaftlich, kaufmännisch
Berufsvorbereitungsjahr (gewerbl. u. hausw. Richtung)
Einjährige Berufsfachschulen gewerblich (Metall, Elektrotechnik)
Zweijährige Berufsfachschulen gewerblich-technisch
hauswirtschaftlich-sozialpädagogisch,
Gesundheit und Pflege kaufmännisch (Wirtschaftsschule)
Bürotechnik (ohne Fachschulreife)
Berufskolleg I
Kaufmännisch
Einjähriges Berufskolleg
Zur Erlangung der Fachhochschulreife
Gewerbliche und kaufmännische Richtung
Berufliche Gymnasien
Technisches Gymnasium, Wirtschaftsgymnasium
Berufsoberschule - Telekolleg 1 + II
gewerblich-technisch, kaufmännisch, hauswirtschaftlich-pflegerisch
Fachschulen
Meisterschule für Büroinformationselektroniker
Fachschule für Technik, Fachrichtung Bautechnik, Schwerpunkt Ausbau

Jeder Ingenieur weiß, dass schon Henry Ford erkannt hat: Kein Betrieb ist groß genug, um mehr als einen Gegenstand herzustellen.
Bis zu den Schulfunktionären hat sich diese Erkenntnis noch nicht herumgesprochen. Wo also soll da Qualität herkommen?

Im Kollegium tummeln sich 150 und mehr Stundenhalter, die sich bedingt durch manchen Wechsel gegenseitig nicht alle kennen können. Ein gewachsenes, überschaubares Kollegium, das in allen Lagen zusammenhält und sich gegenseitig ergänzt, kann da nicht entstehen. Die Schülerzahl geht in die Tausende. Jeder Schüler ist nicht mehr als eine Schraube in einer Schraubenfabrik, bestenfalls galvanisiert mit dem Glanz "Berufsfachschüler" oder ähnlich.

Aber was soll es? Die Berufsschule ist ja ohnehin die Stelle, wo das gesamte pädagogische Strandgut angeschwemmt wird. (DDR- Jargon).

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Unterrichtsbeginn

Wenn ich in eine Klasse gegangen bin, habe ich mich immer bemüht, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Das ist mir nie schwer gefallen; denn ich bin gern zu meinen Schülern gegangen. Ich wollte ja mit den Schülern zusammenarbeiten, und die sehen lieber einen gutgelaunten Lehrer. Wenn sie sich beim ersten Anblick des Lehrers fragen müssen: Was kommt denn da für ein Muffkopf? Oder: Mensch, was hat denn der heute für eine Laune? Da ist doch ein ungünstiger Unterrichtsverlauf gleich vorprogrammiert.

Ein Kollege mit stattlicher Figur, um nicht zu sagen mit beträchtlichem Leibesumfang, betrat das Zimmer mit einem knöchellangen Berufsmantel, und das zu einer Zeit, als schon die Mäntel Mode waren, die eine handbreit über dem Knie endeten. Logisch, wenn sich die Schüler fragen: Was kommt denn jetzt für ein Weihnachtsmann? Der Lehrer sollte also auch etwas auf sein Erscheinungsbild achten. Es ist aber andererseits auch nicht angebracht, wenn eine junge Lehrerin mit ihrem schönen neuen Kleid kokettiert und die Schüler fragt, wie sie ihnen darin gefalle.

In der Schule gab es kleine Tafelwagen, mit denen man Anschauungsmittel bequem ins Klassenzimmer bringen konnte. Einmal beobachtete ich, wie ein Kollege rückwärtsgehend den Wagen ins Klassenzimmer zog, dabei war er leicht über den Wagen gebeugt, zeigte also seinen Schülern sein Hinterteil und sagte: "Guten Morgen!" So sollte man seinen Unterricht auch nicht gerade beginnen.

Ein junger Kollege gestand mir: "Ich habe meinen Schülern gleich gesagt, dass ich keine Lust habe, dieses Fach zu unterrichten!" Ich habe ihn aufmerksam gemacht, dass das äußerst ungeschickt ist; denn wenn er selbst schon keine Lust hat, woher sollen sie dann die Schüler nehmen? Und wie kann, der Unterricht verlaufen?

Eine meiner Chemnitzer Klassen hatte im 1. Ausbildungsjahr das Fach Staatsbürgerkunde beim Parteisekretär der Schule, der den Stoff mit Überzeugung und Begeisterung vortrug.
Im 2. Jahr hielt ein anderer Kollege, der den Schülern menschlich sympathisch war, den Unterricht, aber eben nur pflichtgemäß.
Geglaubt haben sie keinem von beiden das Zeug, das die erzählen mussten. Dennoch war ihnen der Erste rein unterrichtsmäßig lieber, weil sie das Vorgetragene besser aufnehmen konnten. Und am Ende erhielten sie ja Wissensnoten, keine Überzeugungsnoten. Und gute Noten wollten sie haben.

In einem kleinen Kreis äußerte einmal ein Schüler leicht belustigt zum Ergebnis seiner Arbeit im Fach Staatsbürgerkunde und Geschichte: "Ich habe einen Mist hingeschrieben, ich habe eine 1 gekriegt!" Man könnte darüber auch mitschmunzeln, wenn es nicht bedrückend wäre, wie die Schüler sich gezwungen sahen, mit zwei Gesichtern leben zu müssen.

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Charaktere

Zwei Gesichter zu haben, machte auch manchem Kollegen nichts aus. So kannte ich einen Kollegen einer anderen Schule, der zur NS-Zeit HJ-Stammführer war, also immerhin Führer von 600 jungen Männern. Im Krieg war er Wehrmachtsoffizier, danach als Neulehrer Mitglied der CDU. Eines Tages begegne ich ihm, und er trägt das Parteiabzeichen der SED. Meine Frage: "Hast Du wieder einmal um 180° kehrt gemacht?" "Wieso denn?" "Ich dachte, du bist Mitglied der CDU?" "Ich habe mich entwickelt. Wir entwickeln uns doch alle!" Später ging er vorübergehend zur Nationalen Volksarmee als Offizier. Schließlich landete er als Dozent für Russisch an einer Fachschule. So entwickelt man sich.

Der Leiter einer Polytechnischen Oberschule, ein anerkannter Fachmann auf seinem speziellen Unterrichtsgebiet, und eigentlich viel zu intelligent, um Mitglied der SED zu sein, handelte nach dem Motto: Ich reite das Pferd, das gesattelt ist!

Ein Berufsschulinspizient, gewissermaßen Schulrat der Berufsschulen, ebenfalls sowohl einmal Wehrmachts- als auch NVAOffizier, vertrat den Standpunkt: Entweder ganz oben oder gar nicht!

Im Urlaub sprach ich mit einem stellvertretenden Schulrat, einem überzeugten Kommunisten. Er meinte, man solle seine Arbeitskraft so teuer wie möglich verkaufen. Ich wandte ein: "Das gilt aber doch wohl für den Kapitalismus?" Er belehrte mich: "Davon hat Lenin nichts gesagt!" Meines Erachtens hat das schon Karl Marx gesagt, doch bis zur Auslegung von Lenin bin ich auf meinem sozialistischen Bildungsweg nicht vorangeschritten.

Und eine Kollegin äußerte einmal: "Wenn mein Mann in Westdeutschland lebte, er spräche genauso für die Amerikaner wie hier für ´die´!"
Ein Gegenbeispiel: Einer meiner Kollegen absolvierte an der TU Dresden ein Fernstudium. Auf Grund seiner Leistung wurde er danach Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU. Nach geraumer Zeit fragte ihn sein Professor, ob er Mitglied der SED sei. Als er das verneinte, bemerkte der Professor: "Wie konnte ich fragen? Sie sind doch Naturwissenschaftler, Sie können ja logisch denken!"

Als ich einem jüngeren Leonberger Kollegen sagte, dass man als Mitglied in der SED in der DDR ganz gut zurecht- und beruflich vorwärtskommen konnte, meinte er als bewusster Demokrat: "Na, da wäre ich doch rein in die Partei!"
Immer die Parteilinie zu verfechten, manchen Parteiauftrag auszuführen, wie z.B. eine Haus- oder Wohngebietsversammlung zu einem unangenehmen politischen Thema zu leiten und seine unmittelbaren Nachbarn zu belehren, wäre natürlich auch nicht leicht gefallen.

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Aufsicht

An der einen meiner beiden Schulen war mit Beginn des neuen Schuljahres auch der Pausenaufsichtsplan erarbeitet. Für jeden Aufsichtsbereich waren zunächst zwei Kollegen benannt. Sie kommen von Anfang an die Schüler darauf hinweisen, was an der Schule üblich und gestattet ist und was nicht erlaubt war. Nach ein paar Wochen wurde die zweite Aufsichtskraft zurückgezogen; denn der Pausenbetrieb lief ja dann.

An der anderen Schule ließ man in aller Ruhe erst einmal den Unterricht anlaufen und beobachtete, ob alles klappte. So etwa in der siebenten Woche gab es dann auch einen Aufsichtsplan. Wenn man dann in seinen Aufsichtsbereich kam und sagte einem Schüler, er solle ein paar Schritte weiter weg gehen, weil hier das Rauchen nicht erlaubt ist, war das wenigste, was man hörte: "Ich rauche hier seit sechs Wochen, da hat noch keiner was gesagt!" Die Antwort konnte natürlich auch wesentlich grober ausfallen. Und bevor sich mancher Lehrer eine ungebührliche Antwort von einem Schüler einhandelte, sagte er lieber nichts, oder noch einfacher, er verzichtete darauf, seiner Aufsichtspflicht nachzukommen. Es wird schon nichts passieren.

Als ich einmal in der Mittagspause in meinen Aufsichtsbereich kam - ich hatte zu kontrollieren, ob alle Räume verschlossen sind - saß in einem Zimmer noch ein junger Kollege am Pult, und es waren zwei Schüler im Zimmer. Der Kollege fragte mich ganz erstaunt, ob ich Aufsicht hätte; Als ich das bejahte, meinte er: "Und das machen Sie? Und das machen Sie?? - Das mach ich doch nicht! Das ist doch meine Freizeit!" Ich hielt ihm entgegen: "Wenn nicht abgeschlossen ist, und es wird etwas gestohlen, oder zwei Schüler geraten in Streit und verletzen sich, was ist dann?", "Ja, das ist dann meine Sache, das ist meine Sache!" Irgendwelche Bedenken oder einen Hauch von Pflichtgefühl konnte ich bei ihm nicht erkennen. Die Aufsichtspflicht beschränkt sich nicht nur auf die Anwesenheit im Aufsichtsbereich. Wenn nötig, muss der Lehrer auch einschreiten, aber das fällt manchem schwer.

Von einer (West-)Berliner Lehrerin weiß ich: Sie hatte im Winter Aufsicht an der Tür zum Pausenhof. Ein Schüler der 6. Klasse wirft Schnee ins Schulhaus. Sie hat sich den Burschen geschnappt, ihm gesagt, dass der Schnee im Laufe der Pause schmilzt, und wenn die kleinen Klassen dann wieder ins Schulhaus stürmen, rutschen sie aus und stürzen. Also hat sie ihn zum Hausmeister geschickt, einen Lappen zu holen und die Pfütze aufzuwischen. So musste er die Gefahrenquelle, die er heraufbeschworen hat, selbst beseitigen. Und er wird nie wieder Schnee ins Schulhaus werfen. Man muss sich als Lehrer eben etwas einfallen lassen! Weshalb zählt man sonst zur Intelligenz?

Ein Junge wird eingeschult und kommt am ersten Tag freudestrahlend nach Hause: Es wäre ganz arg schön gewesen! In den folgenden Tagen trübt sich seine Begeisterung sichtlich, und er kommt verstört nach Haus. Die Eltern unterhalten sich mit ihm. Vorausgeschickt werden muss, dass der Junge mit seinen sechs Jahren körperlich gut entwickelt ist und sich durchsetzen kann. Deshalb hatte ihm die Mutter eingeschärft: "Du schlägst in der Schule niemand!" Nun will es der Zufall, dass in der Klasse ein achtjähriger Junge eingeschult worden ist, der für die Schule noch nicht reif war und deshalb zwei Jahre in einer Sonderschule betreut worden ist. Und dieser Junge hat den sechsjährigen "Rivalen" drangsaliert, der sich aber laut Anweisung seiner Mutter nicht gewehrt hat. Schließlich ist seine Oma in die Nähe der Schule gegangen und hat gewissermaßen aus der Deckung heraus beobachtet, was dort auf dem Pausenhof geschieht. Einige Schüler hatten Sprungseile, die ihnen wohl eine Lehrerin oder Lehrer gegeben hatte, damit sie sich nach dem langen Sitzen etwas mehr bewegen können. Der Achtjährige fasst das Seil an einem Ende, lässt es wie ein Lasso über dem Kopf kreisen und nimmt es dann herunter, so dass es sich bei einem Schüler um den Hals schlingt, dann zieht er es an. Eine aufsichtführende Person war nicht auf dem Schulhof.
Also ist die Oma auf den Hof und hat sich den Achtjährigen vorgenommen. Sie hat ihm gesagt, wozu ein Sprungseil da ist und wozu nicht. Und wenn er das Seil anzieht, nachdem es ein Mitschüler um den Hals hat, könnte er ihn ja erwürgen. Und weiter wörtlich: "Wenn du das noch einmal tust, sage ich es deiner Mutter! Mario!" (Name geändert). Der Junge war ziemlich verblüfft, dass er von einer unbekannten Frau beim Namen genannt wurde.

Seit der Zeit ist (zumindest vorübergehend) Ruhe: Wenn Schulleitung und Lehrer ihre Aufsichtspflicht schon von Anfang an derartig vernachlässigen, braucht man sich über Gewalt an Schulen nicht zu wundern. Und das geschieht im Jahre 2000!

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Kranksein

In einem Gespräch beklagte sich ein Kollege, dass er neben anderen des öfteren einen noch verhältnismäßig jungen "kranken" Kollegen vertreten musste, dessen Kranksein sie stark bezweifelten. Selbst wenn ihnen der Mehrunterricht bezahlt wurde, bedeutete das doch eine starke Beeinträchtigung für den eigenen Unterrichts- und Lebensrhythmus. Aber der "kranke" Kollege war ja Beamter auf Lebenszeit, ihm konnte ja nichts passieren! Glücklicherweise ließ er sich bald an eine andere Schule versetzen.

Eines Tages, ich hatte vormittags nur vier Stunden Unterricht, ging ich in der anschließenden Pause zu meinem Abteilungsleiter. Er bedauerte mir gegenüber den armen Kollegen, der laut ihm übermittelten Anruf in seinem renovierten älteren Haus die steile Treppe herunter gefallen war. Dabei hatte er sich so arg verletzt, dass er den Arm in der Binde tragen musste und leider nicht zum Unterricht kommen konnte. Ich ging anschließend in die Altstadt, die Luftlinie 500 m von der Schule entfernt ist. Dort kommt mir forschen Schrittes, mit durchschwingenden Armen und putzmunter ein Mann entgegen: "Grüß Gott, Herr Reiche!" Im Vorbeigehen habe ich den Gruß erwidert, war aber doch ziemlich verblüfft. Es war der arme Kollege, den mein Abteilungsleiter kurz zuvor wegen seines schlimmen Treppensturzes bedauert hatte.
Bei soviel Dreistigkeit verschlägt es mir die Sprache. Meinen Abteilungsleiter habe ich bei der nächsten Gelegenheit auf meine Beobachtung aufmerksam gemacht. Ob und wie er darauf reagiert hat, weiß ich nicht. Das geht mich auch nichts an.

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Sauberkeit

An der Schule gab es eine Verkaufsstelle, wo sich die Schiller in der großen Pause etwas holen konnten. Nach der Pause sah es in der Umgebung dieser Stelle so wüst aus, dass darüber in einer Konferenz diskutiert wurde. Ich war erst wenige Wochen an der Schule, aber ich habe mich für meine Kollegen geschämt, denen es nicht darum ging, dese Stelle sauber zu bekommen, sondern darum zu verhindern, dass sie sich in diesem Zusammenhang irgendeine Arbeit (Aufsichtspflicht) aufhalsen.

Wenn man zur Leipziger Frühjahrsmesse gegen Abend an einem Verpflegungskiosk vorbeikam, konnte man dort nicht feststellen, ob der Fußboden im Umkreis dieses Kioskes asphaltiert, geschottert oder mit Platten belegt war; er war von Abfall überdeckt.

Einmal bin ich in Brno (Brünn, heutige Slowakei) zur Messe gewesen. Dort habe ich im gesamten Messegelände am Abend ein kleines Papierknäuel gesehen. Es waren so viele Müllkübel aufgestellt, man kam nicht in Verlegenheit suchen zu müssen: Wohin mit dem Abfall? Die Kübel waren entweder in Waschbetongefäße eingelassen oder hingen in einem Stahlrohrgestell, das mit Stoff bespannt war. Das sah ganz ordentlich aus. Und ich gewann die Erkenntnis: Sauberkeit kann auch eine Frage der Organisation sein.

Es gab später noch einmal eine Diskussion über die Sauberkeit im Schulhaus. Da habe ich vorgeschlagen, ein paar Papierkörbe mehr aufzustellen. Dagegen argumentierte der stellvertretende Schulleiter: "Wir können doch unser schönes Schulhaus nicht durch das Aufstellen von Papierkörben verschandeln!" So kann man auch eine Diskussion abwürgen. Und achtlos weggeworfene Pappteller, Tüten, Getränkekartons und ähnliches verschandeln das Schulhaus wohl nicht?

Einmal kam ich zur dritten Unterrichtsstunde in ein Zimmer, da sah es aus wie Sodom und Gomorrha. Ich habe gestutzt, und die Schüler versicherten mir sofort, dass sie das nicht gewesen seien. Am Vortage war eine Klasse Jungarbeiter in dem Zimmer gewesen, und die Putzfrauen hatten sich geweigert, deren Stall des Augias auszumisten. Obgleich mein Vorgänger dort zwei Stunden unterrichtet hatte, habe ich meinen Schülern gesagt: "So gefällt es uns aber nicht! Jeder schnappt sich drei Brocken und bringt sie zum Papierkorb!" Danach sah es einigermaßen ordentlich aus, ich hätte aber nicht drei, sondern fünf Brocken sagen müssen. Und das bei 28 Schülern!

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Verhalten der Schüler

In meinem Unterricht habe Ich nicht geduldet. dass die Schüler Kaugummi kauen. Meine Gründe dafür: Ich unterrichte keine Wiederkäuer! Oder: ich habe nichts dagegen, wenn jemand etwas für seine Zähne tut, aber Ich habe etwas dagegen, wenn er es in meinem Unterricht tut. Und damit habe ich mich immer gesetzt. Man muss als Lehrer Forderungen stellen! Dadurch wird man bei den Schülern auch anerkannt. Von einer Flasche, die aus Bequemlichkeit alles durchgehen lässt halten die Schüler nichts. Freilich gibt es heute irgendwelche sogenannte wissenschaftlichen Untersuchungen die jeder Unart noch eine positive Seite abgewinnen. So hat man angeblich festgestellt, dass Kaugummikauen das Denken anregt. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen jener Lehrer, denen es sowieso völlig gleichgültig ist, wie ihre Schüler während des Unterrichtes herumhampeln. Ich will die Wirkung des Kaugummikauens nicht in Abrede stellen, aber groß kann sie nicht sein. Da müssten ja die größten Denker unserer Zeit zwischen den Pfosten von Fußballtoren stehen.

Eine andere "Erkenntnis" besagt: Wenn ein Kinderzimmer nicht aufgeräumt ist und alles durcheinander liegt, so regt das die Phantasie an. Mal sehen, welche genialen Schöpfergestalten uns in nächster Zeit beglücken werden.

Wenn ein Schüler beide Unterarme auf den Tisch gelegt und darauf seinen Kopf gebettet hat, habe ich den nur angesehen und meinen Kopf kurz nach oben hinten gezogen. Dieses Signal hat der verstanden, sich prompt aufgerichtet und ordentlich hingesetzt. Die Schüler sind doch anständige Kerle und wissen, was sich gehört. Wenn aber ein Signal vom Lehrer ausbleibt, dauert es nicht lange, bis weitere Schüler sich auf die Tischplatten lümmeln.

In 23 Jahren Lehrertätigkeit in Chemnitz ist mir eine Linkshänderin bekannt geworden. Ich habe sie gefragt, wie sie das am Reißbrett macht. Und sie sagte mir: "Ich greife über!" Also rechte Hand nach links an den Zeichenkopf und mit der linken über die rechte hinweg zum Lineal. Worauf ich natürlich geflachst habe: "Häng Dich doch von oben über das Reißbrett, da hast Du alles in der richtigen Lage!" Selbstverständlich gibt es Zeichenmaschinen für Linkshänder, die anders angeschlagen sind. Das hat sich ihr Betrieb wegen ihr aber wohl nicht geleistet.

In Leonberg ist mir aufgefallen, dass ungefähr 10 % der Schüler links schreiben. Ich habe sie gefragt, warum? Die häufigste Antwort: "Ach, ich könnte das sicher auch rechts, aber es hat ja niemand von mir verlangt!" In meinem letzten aktiven Schuljahr habe ich einen Schüler im dritten Ausbildungsjahr, also einen Achtzehnjährigen, gefragt, wie er denn seinen Griffel anfasst? Und er antwortete mir, dass er bisher links geschrieben habe und wolle es sich jetzt rechts angewöhnen!

Mir ist klar, wenn der erste Lehrer einen Prozess am Halse hatte, weil er ein linkshändiges Genie mit der Forderung, rechts zu schreiben, vergewaltigt hat, spricht sich das unter Lehrern schnell herum. Und die sagen sich dann mit Recht, dass es ihnen völlig wurscht ist, ob ein Schüler rechts oder links schreibt, die Hauptsache ist, er schreibt!

Eine Zeitlang - ein oder höchstens zwei Jahre - wurden den Berufsschülern in Leonberg zehn Stunden Religionsunterricht angeboten. Die Teilnahme war freigestellt. So musste ich, der ich die meiste Zeit in der Klasse war, über zehn Wochen eine Stunde meines Unterrichtes an den Religionslehrer abgeben. Und prompt kam eine Schülerin, die als aufsässig bekannt war, zu mir, und meinte sehr energisch, das sei doch freiwillig, da brauche sie ja nicht hinzugehen. Ich habe ihr bestätigt, dass die Teilnahme freiwillig ist, ihr aber empfohlen, sich erst einmal anzuhören, was der Mann zu sagen hat. Und wenn ihr das nicht behagt, solle sie mir das melden, und sie bekäme dann von mir für diese Zeit eine andere Aufgabe. Sie ist nicht wieder zu mir gekommen. Und ich habe erfahren, dass sie zu denen gehörte, die sich in diesem Fach sehr rege am Unterrichtsgespräch beteiligt haben. (Manche muss man wohl zu ihrem Glücke zwingen!) Es war ja auch nicht so, dass da Bibelsprüche gelernt wurden. Es war überkonfessioneller religionsethischer Unterricht. Soweit ich mich entsinne, standen im Tagebuch Themen wie "Schuld und Sühne", "Rache und Vergebung", "Die Stellung der Frau in der Gesellschaft" und " §218".
Zur gleichen Zeit haben sich in einer anderen Klasse, in der ich nicht unterrichtete, alle Schüler geweigert, am Religionsunterricht teilzunehmen. Die haben zehn Wochen lang je eine Stunde am Vormittag in der Schule herumgehangen und sich höchstens darüber geärgert, dass die Religion nicht in der ersten oder letzten Unterrichtsstunde angesetzt war. Was der Fachlehrer und der Religionslehrer in diesen Stunden gemacht haben, weiß ich nicht.

Einmal, den Anlass weiß ich nicht mehr, habe ich meinen Schülern gesagt: "Geht hinaus in den Kammerforst, bindet Euch ein paar Farnblätter um den Leib, baut Euch eine Laubhütte, ernährt Euch von Waldfrüchten und Baumrinde und trinkt Quellwasser!
Aber die Jeans tragen, die diese Gesellschaft produziert, die Diskos besuchen, die diese Gesellschaft bietet, die Zigaretten rauchen, die diese Gesellschaft produziert, das Bier trinken, das diese Gesellschaft produziert, und sich dann hinstellen und sagen: "Ich scheiße auf diese Gesellschaft!" diese Rechnung geht nicht auf!

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Situationen

Jungarbeiter oder Hilfsarbeiter sind ein eigenes Völkchen von Schülern. Es fällt ihnen schwer, sich mit der Deutschen Rechtschreibung oder mit den Grundrechnungsarten herumzuquälen. Sie leisten lieber körperliche, auch schwere körperliche Arbeit. Dennoch sind sie verpflichtet, die Berufsschule zu besuchen. Und so fällt es dem Lehrer auch nicht leicht, um Ruhe und Ordnung im Klassenzimmer besorgt zu sein. Zu Beginn des Unterrichtes musste ich ziemlich lange warten, bis die erforderliche Aufmerksamkeit gegeben war. Gerade wollte ich anfangen zu sprechen, als ein Schüler einen kräftig donnernd fahren ließ. Natürlich gab das ein großes Gelächter in der Klasse. Ich selbst habe dabei keine Miene verzogen; denn für derartige Situationen hatte ich mir zurechtgelegt: In Südamerika hat den keiner gehört! Nun dauerte es erneut zwei oder drei Minuten, bis einigermaßen wieder Ruhe herrschte. Und als ich den Mund erneut aufmachen wollte, platzte ein Schüler in die Stille hinein: "Mensch, der B., das Schwein scheißt!" Jetzt war das Gelächter noch größer, und ich muss gestehen: Ich war aus Südamerika zurück.

Eines Tages wurde ich zum Schulleiter zitiert. Ich hätte zu einer Schülerin "Schwein" gesagt. Es stellte sich heraus: In der ersten Doppelstunde hatte ich beide Tafeln gebraucht. Die Schülerin, die für das Löschen des Tafelanschriebs zuständig war, hatte den feuchten Schwamm genommen und war damit über die Tafeln gefahren. Solange die Fläche noch nass war, sah das ganz gut aus. Bis ich nach Ende der Pause wieder ins Zimmer kam, war die inzwischen trockene Tafel grau. Noch auf dem Weg zum Pult habe ich spontan gefragt: "Welches Schwein hat Tafelordnung?" Prompt kam eine Schülerin geflitzt und hat die Tafeln sauber gewaschen. (Der Vater dieser Schülerin kannte meinen Schulleiter.) Falls es wieder einmal vorgekommen wäre, hatte ich mir die Formulierung: "Welches süße Spanferkelchen hat Tafelordnung?" vorgemerkt.

In einer Klasse Kraftfahrzeugmechaniker steckte ein Schüler den Zeigefinger in den Mund und umschloss ihn dicht mit den Lippen. Dann drückte er ihn gegen die Wange und ließ ihn aus dem Munde herausschnappen. Das gab ein Geräusch, als ob jemand eine Flasche entkorkte. Natürlich lachten einige Schüler darüber. Ich habe gleich entgegnet: "Ja, so klingt das bei einer richtigen Flasche!" Und dann haben die Schüler über diese Flasche gelacht! Es ist aber nicht einfach, immer die passende Antwort bereit zu haben. Die beste Vorbereitung darauf ist, wenn die Lehrer gegenseitig ihre Erfahrungen austauschen.

Einmal habe ich einen Kollegen aufmerksam gemacht, dass ich es gern habe, wenn die Schüler mit ihren Tischen, die nicht fest im Boden verankert sind, nicht bis ans Pult vorrücken, sondern ungefähr einen Meter Abstand halten. "Nein, das mache ich nicht! Die sollen bis ans Pult vorrücken, da ist alles weiter aufgelockert, da habe ich die Klasse besser im Blick. Das mache ich nicht!" Bei so spontaner und entschiedener Gegenwehr habe ich darauf verzichtet, ihm zu sagen warum. An das Pult war angeschrieben:

Wir brauchen keinen Höness,
nicht Müller oder Held,
wir haben ja den (Namen dieses Lehrers),
den dümmsten von der Welt.

Und das liest ja nicht nur derjenige, der es geschrieben hat, sondern auch seine beiden Nebensitzer. Da in diesem Zimmer an fünf Tagen der Woche fünf verschiedene Klassen unterrichtet wurden, sind das wenigstens fünfzehn Schüler, die im gesamten Einzugbereich der Schule verbreiten, wer der Dümmste von der Welt ist. Und dann wundert sich dieser Lehrer, dass die Schüler schon stöhnen, wenn sie erfahren, dass sie bei ihm Unterricht haben? Selbstverständlich habe ich diesen Spruch entfernt, wie manchen anderen Vers auf den Schülertischen auch. Gelegentlich bin ich durch mein Klassenzimmer gegangen, wenn keine Schüler drin waren. Mit Radiergummi, Wasser und Seife, dem Spiritus der anfangs noch üblichen Vervielfältigungsmaschinen oder Möbelpolitur ließ sich manche Schmiererei entfernen. Mir ist unter mehr als hundert Kollegen nur einer bekannt gewesen, der täglich sein (Physik-)Zimmer kontrollierte.

In einer Klasse hatten sich zwei Schüler hinten in die letzte Reihe gesetzt und unterhielten sich fleißig. Da mehrere Ermahnungen nicht halfen, habe ich den einen der beiden vor in die erste Reihe geholt mit den Auflagen, dass dieser Platzwechsel auch für den Unterricht bei ihrem Klassenlehrer und vorerst bis zu den Winterferien gilt. Als ich den Klassenlehrer informierte, lehnte er diese Maßnahme ab. Er wüsste, dass die Schüler ständig miteinander schwätzten, und er ermahne sie immer wieder, aber dass er sie umsetze, käme für ihn nicht in Betracht. Um die Autorität meines Kollegen in der Klasse nicht zu untergraben, habe ich meine Anweisung "vergessen".

Einer unserer Schüler hatte zunächst eine kaufmännische Ausbildung angestrebt, sie aber schon bald abgebrochen. Da er berufsschulpflichtig war, wurde er einer Jungarbeiterklasse zugewiesen, die freilich nicht seinem Niveau entsprach, so dass er dort den Unterricht schwänzte. Er wurde mehrfach gemahnt, was aber nichts half. So wurden ihm für sieben geschwänzte Stunden Unterricht zu 30,- DM, also 210,- DM Strafe aufgebrummt. Die hat sein Vater lässig bezahlt. Einige Zeit später begann er eine Ausbildung in einem praktischen Beruf. Da er etwas älter war, wurde er in der Fachklasse zum stellvertretenden Klassensprecher gewählt. Diese Klasse hatte montags Unterricht. Der Zufall wollte, dass er nachmittags bei dem Lehrer Unterricht hatte, der nach seiner Meinung für die 210,- DM Strafe verantwortlich war, die er einst entrichten musste. Nun glaubte er, sich rächen zu können, indem er diesen Lehrer mit dem Erfolg provozierte, dass er mehrmals für den Rest einer Stunde vor die Tür geschickt wurde. Und weil das so einfach ging, provozierten der Klassensprecher und zwei weitere Schüler ebenfalls. Bis sich die Burschen abgesprochen haben: Wenn er heute wieder einen von uns herausstellt, gehen wir alle vier. So gestärkt hat der Stellvertreter provoziert, flog raus, und die anderen drei gingen mit. Das hat mir der Kollege am Dienstag erzählt; denn ich war der Klassenlehrer und den gesamten Montagvormittag in der Klasse.
Was habe ich getan? Ich bin am nächsten Sonntagvormittag - am Sonntagvormittag! - zu zwei Schülern in die Wohnung und habe mit ihnen gesprochen, was ich am Montag früh zu tun gedenke. Bis dahin Stillschweigen zu bewahren, war nicht schwer.
Am Montag habe ich gleich früh Klassensprecher und Stellvertreter wegen der Vorkommnisse bei meinem Kollegen von ihren Posten abgelöst und provisorisch die beiden Schüler eingesetzt, mit denen ich darüber gesprochen hatte. Und in drei oder vier Wochen wird neu gewählt! Das haben die beiden von mir so hingenommen. Nachmittags waren sie schon wieder stark und haben sich bei dem Kollegen beschwert, ich könne sie doch nicht einfach absetzen, sie seien doch demokratisch gewählt. Worauf ihnen der Lehrer geantwortet hat er hatte sie ja nicht abgelöst da müssten sie sich schon mit mir auseinandersetzen. Das hat er mir mitgeteilt.
Prompt meldete sich am nächsten Montag früh gleich die von mir eingesetzte Klassensprecherin, die Klasse wolle mit mir über die undemokratische Maßnahme diskutieren, die ich getroffen hätte. Ich habe gesagt: "Klassensprecher und Stellvertreter gehören zur SMV(?) sie sind als Schüler mitverantwortlich dass ein ordnungsgemäßer Unterricht gehalten werden kann. Wenn es ausgerechnet die sind, die den Unterricht stören, kann ich mir im Interesse der Klasse keine demokratischere Maßnahme vorstellen als die, die ich getroffen habe. Wenn Ihr mit mir darüber diskutieren wollt, stehe ich Euch heute Nachmittag um 15.45 Uhr (nach der letzten Unterrichtsstunde) zur Verfügung. Jetzt haben wir Unterricht; denn Ihr habt ein Recht auf Unterricht!" Da habe ich beobachtet, wie ein Teil der Klasse mit dem Kopf genickt hat, als wollten die Schüler sagen: So ist es richtig! So musst du mit denen reden!

Selbstverständlich war am Nachmittag keiner da, der mit mir diskutieren wollte. Das war aber noch nicht alles: Die von mir eingesetzte Klassensprecherin wurde dann tatsächlich gewählt und blieb es so lange, wie die Klasse an der Schule war.

Ein paar Jahre später kam in der Stadt ein junger Mann auf mich zu: "Grüß Gott, Herr Reiche! Kennen Sie mich noch? Ich bin der A." - Ich kannte ihn noch, es war der von mir abgesetzte Klassensprecher.
Und einige Zeit später kommt im Einkaufszentrum ein Soldat der Bundeswehr auf mich zu: "Grüß Gott, Herr Reiche, kennen Sie mich noch?" Auch den kannte ich noch, es war der Stellvertreter.

Das war für mich eine nochmalige Anerkennung für die Entscheidung, die ich seinerzeit getroffen hatte. Ob sie juristisch einwandfrei war, sei dahingestellt, pädagogisch war sie richtig. Und wenn ich mich damals anders verhalten hätte, wäre keiner von beiden auf mich zugekommen, sie hätten sich abgewendet und dabei gedacht: Das war auch ein so blödes Arschloch.

Einmal hatte ich einen Schüler, der hat sich selbst gelobt, ein Vierteljahr lang keinen Kamm benutzt zu haben. Da wir gerade einen neuen Zeichensaal bekommen hatten, habe ich ihm aus hygienischen Gründen den Zugang zum Zeichensaal verwehrt, wenn er sich nicht die Haare kämmt. (Das war natürlich juristisch auch nicht ganz astrein.) Ich habe ihm gesagt, er könne sich beim Schulleiter beschweren. Prompt ist er hingegangen und hat sich die Antwort geholt: "Kämmen Sie sich die Haare, dann können Sie rein!" Und die Chefsekretärin hat ihn vor einen Spiegel geschoben und einen Kamm in die Hand gedrückt. Und siehe, es ging! Auch dieser Schüler hat mich nach mehr als zwanzig Jahren in der Altstadt angesprochen.

An der Schule gab es eine Cafeteria, die aber selbstverständlich kein Bier anbot. Also fuhren einige Schüler in der Mittagspause in die Stadt, um dort das eine oder andere Bier zu zischen. Kurz nach Beginn des Nachmittagunterrichts stand ein Schüler auf und verließ das Klassenzimmer. Das habe ich mir dreimal angesehen, dann habe ich ihn gefragt, wohin er wollte. Er müsse aufs Klo. Als nächstes habe ich gefragt,, ob er blasenkrank ist? Das hat er mir natürlich sofort bestätigt. Und ich habe ihm daraufhin gesagt: "Das nächste Mal legst Du ein ärztliches Attest vor!" Eine Woche später 13.25 Uhr, man konnte die Uhr danach stellen, stand er wieder auf. Ich habe gleich gefragt: "Wohin?" "Aufs Klo!" "Hast Du das ärztliche Attest?" "Nein!" "Da wo Du bist, ist Dein Platz!" "Ich muss mal ganz dringend!" "Von mir aus mach Dir einen Knoten rein!" (Und das habe ich in Gegenwart von einigen Mädchen gesagt!) Ich habe den Schüler nicht aus dem Zimmer gelassen. Und siehe, es ging. Und er hat nie wieder während des Unterrichts das Zimmer verlassen müssen.
Man erwartet von einem sechsjährigen Kind, dass es seinen Körper soweit beherrscht, dass es eine Stunde durchhält. Das muss man von einem Achtzehnjährigen erst recht verlangen!

Da meine Frau in Teilzeitarbeit im Sekretariat der Schule beschäftigt war, bin ich manchmal auch an dem einen oder anderen Ferientag in der Schule gewesen. So bin ich durch die Klassenräume geschlendert. Im Neubau waren außer hinter dem Pult kleinere Tafeln auf der Gegenseite installiert. Sie wurden von den Schülern genutzt, um dort das zu notieren, was den Lehrern gelegentlich so herausgerutscht ist. Vorwiegend war das in Klassenräumen des TG und des WG zu finden, und zwar mit Datum und Signum des Lehrers. Diese Aussagen waren freilich aus dem Zusammenhang gerissen, und dann klingen sie ganz anders, als sie gemeint waren. Mit dem Signum einer jungen Lehrerin stand da: "Ich habe immer Lust!" Andere Bemerkungen: "Der rot an- gestrichene braune Turm", "Das h ist eine saumäßig kleine Größe", "Hat man keinen, so macht man einen", "Dann sehen wir unsichtbare Kanten" oder "Das Ding heißt Aufgabe". Die schönsten Äußerungen habe ich mir notiert und anschließend die Tafeln geputzt. Und bei dem nächsten geselligen Beisammensein des Kollegiums habe ich vorgetragen, was die Kollegen so alles von sich gegeben haben.

Das schlimmste aber, was ich je gelesen habe, und das stand mit Signum des Lehrers und laut Datum über sechs Unterrichtswochen an der Tafel, lautete: "Wenn ich Sie in der 13 bekomme, schlage ich Sie tot!" Da frage ich mich, was sind das für Lehrer, die sechs Wochen lang diesen Schrieb vor sich haben und es nicht fertig bringen, zum Schwamm zu greifen und ihn zu löschen. Mich wundert es nicht, wenn unter diesen Bedingungen die Schüler ihren Lehrern auf der Nase herumtanzen.

Ein zweites Mal bin ich in anderen Ferien durch die Zimmer gegangen und habe die Tafeln geputzt. Als ich in den dritten Ferien durch die Klassenräume gegangen bin, stand nichts mehr an den Tafeln. So einfach ist das. Es hat ja keinen Reiz, wenn es gelöscht wird.

Eines Morgens, ich hatte in der ersten Stunde noch keinen Unterricht, beobachtete ich einen Schüler, der meines Erachtens absichtlich zu spät zur Schule kam. Er hatte Bart und Haar wie Albrecht Dürer auf seinem Selbstbildnis, trug eine wadenlange nachthemdartige Kutte und kam barfuss. Ich vermutete, er ging zum Religionsunterricht, und fragte mich, was sagst du, wenn ein Schüler so in deinen Unterricht käme? Wahrscheinlich: "Nach Nazareth zweite Querstraße rechts!" Und dann wäre er wieder draußen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass einer meiner Schüler so in meinen Unterricht gekommen wäre.

Früher stand in den Schulordnungen, dass die Schüler sauber und ordentlich gekleidet zum Unterricht zu erscheinen haben. Das hat man natürlich zu Recht längst als eine Beleidigung angesehen und aus der Schulordnung gestrichen. Und so hat man heute keine rechtliche Handhabe mehr dagegen, welche Lappen sich manche Schüler zum Schulbesuch umhängen.
Ein Studienrat erzählte mir freudestrahlend, dass ihm zwei seiner Schülerinnen während seines Unterrichts einen Schal als Geschenk strickten, jede am anderen Ende des Schales. Das ist mir völlig unverständlich.

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Verantwortung

Ein Kfz-Mechaniker aus dem dritten Ausbildungsjahr nimmt sich in der Mittagspause eine technische Zeichnerin als Sozia auf sein Leichtmotorrad. Natürlich will er ihr zeigen, was er kann. Und prompt knallt er gegen einen Lkw. Das Mädchen erleidet dabei eine Halswirbelverletzung und muss als Folge ihren Beruf aufgeben. Ich habe den jungen Mann zur Rede gestellt und ihn gefragt, ob er sich bewusst sei, was er da angerichtet habe? Seine Antwort: "Na, was denn, zahlt doch die Versicherung!" Verantwortung für ihn? Null!

Bei einem Urlaub in Südtirol fanden meine Frau und ich in ungefähr 2000 m Höhe auf einer Alm eine Hütte vor. Dort konnte man etwas zu trinken und zu essen bekommen. In dem Hochtal und auf dem gegenüber liegenden Hang weideten 56 Stück Großvieh. Verantwortlich für die Tiere und für die Betreuung möglicher Gäste waren tagsüber zwei Jungen im Alter von zehn und zwölf Jahren! Diese Jungen wurden also bei Zeiten in die Pflicht genommen. Und wie sieht es in vielen deutschen Familien aus? Da werden die Kinder gegen jede Arbeit und damit gegen jede Verantwortung abgeschirmt. Da heißt es: Ihr müsst lernen, lernen, lernen, damit ihr ein gutes Abitur machen könnt. So werden sie halt mit formalem theoretischen Wissen vollgepumpt; denn nur das zählt. Schon Rudolf Diesel, der Erfinder des Dieselmotors, schreibt in seinem philosophischen Nachlass: "Der Deutsche achtet Titel und Orden - nicht Menschen." Und wer heute ein l er Abitur hat, darf auch Medizin studieren. Als ob einer mit einem 3er Abitur kein guter Arzt werden könnte! Rechnet man noch hinzu, gegen was wir heute alles versichert oder abgesichert sind, wodurch man sich keine Sorgen um die Folgen seines Tuns zu machen braucht. Das reicht bis hin zur Pille, wenn man zusammen schläft. So ist es logisch: Verantwortung zu tragen, hat keiner gelernt. Und diese jungen Leute bekommen dann u.U. auf Grund ihrer Titel und Orden (Zeugnisse) gut bezahlte und verantwortungsvolle Stellungen in Betrieben, obgleich "Verantwortung" für sie ein Fremdwort ist. Sie haben ja nie gelernt, damit umzugehen.

Unlängst liefen vier Erstklässler vor mir her, drei Mädchen und ein Junge. Als sie an einer Fußgängerampel vorbeikamen, riss der Junge beide Arme nach oben hinten, so dass er mit der rechten Hand den Schalter betätigte, obgleich sie die Straße nicht überqueren wollten. Ich habe beobachtet, dass daraufhin zwei Autos anhalten mussten. Als sich der Junge umdrehte, habe ich ihn zur Rede gestellt und darauf hingewiesen, dass durch sein Tun zwei Autos anhalten mussten. "Das kostet beim Wiederanfahren Benzin und es kommt mehr Abgas in die Umwelt. Das machst Du nicht wieder!" Nun werden viele Leute sagen: Lass doch dem Jungen seinen Spaß, er ist ja noch ein Kind. Ich meine aber, wer weiß, wie eine Ampel eingeschaltet wird, ist alt genug, um dafür die Verantwortung zu übernehmen. Man kann nicht früh genug damit anfangen, zur Verantwortung zu erziehen. Deshalb mache ich lieber ein Kind auf sein Fehlverhalten aufmerksam, als dass ich mit einer Kerze in der Hand gegen Rechtsextremismus demonstriere. Wehret den Anfängen!

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Anforderungen

Mir ist eine Unterrichtssituation in Erinnerung aus der Zeit, wo ich Anfang 30 war, also in einem Alter, wo man noch über hohe Spannkraft und Konzentration verfügt. Ich hatte eine Klasse von 40 technischen Zeichnerinnen, und zusätzlich waren acht Studenten des Instituts für Berufsschullehrerausbildung im Zimmer. Jeder Student hatte eine Beobachtungsaufgabe wie den Aufbau der Lektion, die Tafelarbeit, die Fragetechnik, die Mitarbeit der Schüler, den Einsatz der Lehrmittel, das Lehrerecho usw. Nach vier Unterrichtsstunden sagte mir der Student, der die Mitarbeit der Schüler zu registrieren hatte: "Die Ortrud haben sie nicht drangenommen und die Hannelore!" Und ich habe ihm entgegnet, mit welchem Problem ich die Ortrud in Fachkunde konfrontiert hatte und welchen Teil welcher Aufgabe die Hannelore im Fachrechnen erledigt hat. Worauf er nur kurz antwortete: "Na, da waren sie alle dran!" Ich schreibe das hier nicht, um damit anzugeben, was für ein toller Hecht ich war. Es geht mir darum, den Leuten, die keine Ahnung vom Lehrerberuf haben, zu sagen, was ein Lehrer alles zu berücksichtigen hat, um einen ordentlichen Unterricht zu halten. Und dem Lehrer, der das tut, sollte man auch die vielen Ferien einräumen die er zur Regeneration seiner Kräfte braucht.

Ich habe mich immer bemüht, nach dem Motto zu handeln: Der Schüler muss wissen, weshalb er zur Schule kommt! Jeder Schüler muss einmal persönlich aufgefordert werden, einen Beitrag zum Unterricht zu leisten. Das ist für einen Berufsschullehrer leicht möglich, weil er mehrere Stunden am Tage in einer Klasse ist Für Einzelstundenlehrer ist das schwieriger, aber dann sollte jeder Schüler wenigstens einmal in der Woche zur Mitarbeit herangezogen werden. Wenn ein Lehrer nur in die Klasse kommt, um sein Wissen dort auszukübein, weiß der Schüler nicht, weshalb er zur Schule kommt; denn das kann er auch im Buch lesen oder moderne Medien nutzen.

Manchmal habe ich meine Schwester und meinen Vetter etwas beneidet. Sie konnten am Freitag Nachmittag ihren Schreibtisch abschließen und sich sagen: So Betrieb, nun rutsch mir den Buckel runter bis zum Montag früh! Ich aber hatte zu korrigieren und musste mich vorbereiten auf den Unterricht. Das kostet Zeit, auch am Wochenende und am Sonntag.

An Berufsschulen ist es möglich und üblich, es so einzurichten, dass die Lehrer in der Woche einen unterrichtsfreien Tag haben. Er lässt sich für Betriebsbesuche und zur Weiterbildung nutzen. Ich habe dafür, wenn ich Einfluss darauf hatte, den Donnerstag gewählt. Einige Feiertage fallen auf Donnerstag. Berufsschüler haben nur an einem Tag in der Woche theoretischen Unterricht. Wenn der mehrmals im Jahre ausfällt, ist es schwierig, den Lehrplan zu erfüllen und das sowohl für die Schüler als auch für den Lehrer. Soweit ich weiß, war ich der einzige Lehrer, der den Donnerstag als unterrichtsfreien Tag genommen hat.

Meine Frau und ich wollten gern einmal nach Israel. In den Sommerferien bot sich das wegen der Temperaturen nicht an. Die Osterferien waren uns dafür zu kurz; denn raus aus der Schule und rein in den Flieger und am letzten Sonntag zurück aus Israel und am Montag wieder rein in den Unterricht, das habe ich mir im Interesse meiner Schüler nicht geleistet. Wir haben diese Reise unternommen, als wir Rentner waren. Allerdings kenne ich Kollegen, denen hat dieser Zeitdruck nichts ausgemacht.

In einer Diskussion in kleinem Kreis fiel die Bemerkung, man brauche sich nur umzusehen, wessen Wohnmobil am letzten Schultag vor den Ferien schon fertig gepackt auf dem Lehrerparkplatz steht. Ob man daraus wirklich Schlüsse ziehen kann, überlasse ich jedem selbst. Lange Zeit fand am letzten Tag des Schuljahres eine kurze Abschlusskonferenz mit anschließendem Ferienschoppen statt. Jetzt ist diese Konferenz mit der Begründung auf den vorletzten Tag vorgezogen worden, dass die Kinder der Lehrer am letzten Tag ihre Zeugnisse bekommen, und da müssten die Eltern zu Hause sein. Siehe Wohnmobil!

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Konferenz

In Chemnitz wurden wir Lehrer weitaus mehr mit Konferenzen beschäftigt als in Leonberg. So war grundsätzlich an jedem Mittwochnachmittag eine Veranstaltung. Da bei sieben Stunden theoretischem Unterricht je Tag die letzte Stunde um 14.05 Uhr endete, begann die Zusammenkunft um 14.30 oder um 15 Uhr. Eine war die Informationskonferenz, wo die Schulleitung bekanntgab, was die Lehrer wissen sollten. Anfragen oder Diskussionen gab es bei dieser Konferenz nicht. Am zweiten Mittwoch war Gewerkschaftsversammlung, da wurde man mit allen möglichen eingefärbten Tagesthemen konfrontiert. Die dritte Woche diente der sogenannten Vollkonferenz. Da durften sich auch die Lehrer äußern. Und bekanntlich hören sich ja Lehrer gern reden. Am vierten Mittwoch war Sitzung der methodischen Kommissionen. Dazu kamen die Kollegen in Fachgruppen zusammen. Wir hatten die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Mathematik), die allgemeinbildenden Fächer (Deutsch Staatsbürgerkunde und Geschichte, Sport) und zwei Kommissionen Fachwissenschaften (Kfz Gewerbe und Maschinenbau) Die letzte war die stärkste. Und nur, wenn ein Monat fünf Mittwoche hatte, war an dem fünften keine Veranstaltung.

Wie weit die sozialistische Planwirtschaft reichte, weiß ich nicht. Später habe ich erlebt, dass das Auslieferungslager für Inhaftierte, die in die Bundesrepublik ‚ausreisen durften, in Karl- Marx-Stadt (Chemnitz) war. Der Bus, ein West-Fabrikat mit DDR- Nummer, fuhr Mittwoch Nachmittag von Chemnitz auf der Autobahn Richtung Erfurt. Kein Chemnitzer Berufsschullehrer konnte diesen Bus sehen; sie waren ja um diese Zeit alle in der Schule. Ob die Planung wirklich so perfekt war, bleibt dahingestellt.

Die einzige Mittwochsveranstaltung, die von den Kollegen anerkannt wurde, war die Sitzung der methodischen Kommission. Erster Tagesordnungspunkt waren bei uns pädagogische Probleme, die im vergangenen Monat aufgetreten waren. Und von den elf Kollegen war meist einer in eine Situation gekommen, wo er nicht wusste, ob er sich richtig verhalten hatte. So halfen wir uns gegenseitig und waren auf ähnliche Situationen vorbereitet. Wir hatten einen Verbindungsmann zum Methodischen Bezirkskabinett, einer Einrichtung, wo Lehrer methodisch und fachlich weitergebildet wurden, und einen Verbindungsmann zur Kreisbildstelle. Einige Kollegen waren sehr aktiv und stellten selbstentwickelte Anschauungsmittel oder Arbeitsblätter vor. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

Einmal im Monat war Montag Nachmittag Parteilehrjahr, eigentlich nur für die Genossen. Die Nichtgenossen hätten dann gesondert an einem anderen Tag zusammenkommen müssen, um ebenfalls in diesem Parteichinesisch "belehrt" zu werden. Der Einfachheit halber durften wir Nichtgenossen aber gleich direkt am Parteilehrjahr teilnehmen.

Einmal war eine größere Konferenz, bei der auch der Berufsschulinspizient zugegen war. Er begrüßte das Kollegium mit "Genossen und Kollegen!" Ich habe mich dann zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass es sich um eine Lehrerkonferenz handelt und die Anrede korrekt: "Kollegen (und Genossen)" heißen müsste. Mir wurde entgegnet, dass die Genossen besondere Aufgaben hätten, und deshalb würden sie zuerst genannt. Keiner der Nichtgenossen hat nachgefragt, was das denn für besondere Aufgaben sind. Und ich konnte es auch nicht tun; denn sicher hatte ich mir mit meiner Frage bereits wieder ein Häkchen hinter meinem Namen geholt. Besondere Aufgaben von Genossen waren es, die Nichtgenossen zu überwachen und eventuelle unliebsame Äußerungen zu melden. Ich kannte meinen Beobachter, und andere kannten den ihren ebenfalls. Die Stasi hatte außerdem ihre Leute und das sogar unter den Nichtgenossen!

Einmal konnte ich an einer Konferenz nicht teilnehmen, weil ich auswärts einen Vortrag zu halten hatte. Als ich am nächsten Tag zur Schulleitung kam, teilte mir der Schulleiter mit, alle Kollegen seien gestern der GST (Gesellschaft für Sport und Technik, eine paramilitärische Organisation) beigetreten. Ich könnte in den Funkzirkel. Daran hatte ich aber kein Interesse. Oder in den Schießzirkel. Da habe ich in Gegenwart des Parteisekretärs und eines weiteren Kollegen gesagt: "Die ich zu erschießen habe, treffe ich auch so!" (So füllte sich wohl meine Akte.) Jedenfalls bin ich der GST nicht beigetreten, und es stellte sich bald heraus, dass ich nicht der einzige war.

Im Gegensatz zur DDR hatten Konferenzen in Leonberg Seltenheitswert. Sie waren so selten, dass ich sogar einmal eine vergessen habe. Das hat mir aber der großzügige Schulleiter nicht übel genommen.
Informationskonferenzen gab es in Leonberg nicht. Was die Lehrer wissen sollten, wurde in sogenannten Rundschreiben zusammengefasst. Die Schreiben wurden vervielfältigt und jedem Lehrer in sein Brieffach gelegt. Eine einfache und kluge Lösung. Er konnte es lesen, wann und wenn er es wollte. Das war in Chemnitz rein technisch noch nicht möglich. Man hätte es aber wohl auch kaum gemacht.

Normalerweise geht es in Lehrerkonferenzen um schulische Probleme, um die Zusammenarbeit mit Ausbildungsbetrieben oder um den Ablauf von Prüfungen. Das ist einfach notwendig. Allerdings entsinne ich mich auf eine Konferenz, wo sich 106 Lehrer eine 3/4-Stunde lang eine Diskussion anhören mussten, wer aus welchem Anlass für wen Kaffee kochen sollte. Und sie ging aus wie das berühmte Hornberger Schießen. Verständlicherweise fördert das nicht gerade die Lust auf Konferenzen, bleibt aber in lebhafter Erinnerung.

Der Altbau unserer Schule war ein langgestrecktes Gebäude, das an beiden Enden je einen Eingang hatte. Hinter den Eingängen waren Windfangtüren angeordnet, die meist offen standen. Wenn in der kalten Jahreszeit zufällig an beiden Enden die Türen offen waren, zog es sofort die Wärme aus dem Schulhaus heraus. Deshalb habe ich in einer Konferenz vorgeschlagen, darauf zu achten, dass im Winter die Windfangtüren geschlossen sind. Ich wurde belehrt, dass im Schwäbischen geschlossen gleich verschlossen ist, und da käme ja niemand mehr herein. So kann man auch mit einem Problem fertigwerden.

Natürlich habe ich es dankbar als angenehm empfunden, in Leonberg nur so wenig Konferenzen absitzen zu müssen.

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Zensuren

Über Zensuren wird diskutiert, seit es Schulen gibt, und es wird solange diskutiert werden, wie es Schulen geben wird. Für mich gilt das Sprichwort: Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert! Und der Lohn, den die Schule zahlen kann, ist nun einmal die Zensur.

In der DDR waren die Zensurenbereiche progressiv gestaltet. Die 1 galt für Leistungen über 93 %‚ die 2 über 82 %‚ die 3 über 65 % und die 4 über 43 %‚ soweit ich mich entsinne. Darunter lag mit Note 5 der Bereich ungenügend.
In Baden-Württemberg gab es parallel zwei Systeme. Die Schule hatte ein lineares mit Grenzen bei 90, 70, 50, 30 und 10 %‚ wobei für die beiden unteren Noten 5 (mangelhaft) und 6 (ungenügend) standen.
Die Industrie- und Handelskammer hatte ein progressives System, das dem der DDR glich. Das war logisch; denn wer möchte einem "Fach"-Arbeiter sein Fernsehgerät oder sein Auto anvertrauen, der kaum die Hälfte von dem beherrscht, was er können und wissen muss? Lustig war dabei folgendes: Die theoretische Leistung bei der Facharbeiterprüfung wurde zwar nach dem Punktsystem der Schule bewertet, aber als Zensur in das Prüfungsprotokoll eingetragen. Bei der Zusammenfassung von theoretischer und praktischer Prüfung wurde die Schulnote nach dem Kammerschlüssel in Punkte zurückgerechnet. Als ich meinen Abteilungsleiter auf diese wundersame Punktevermehrung aufmerksam machte, meinte er: "Es ist doch nicht zum Nachteil des Prüflings!" Damit hatte er recht. Etwas später drückte die Kammer von sich aus durch, dass bei der theoretischen Prüfung der progressive Maßstab der Kammer angewendet wurde.

Viele Kollegen zensieren Klassenarbeiten mit Zehntelnoten. Sie verweisen darauf, dass es im Sport ja auch um Zehntel oder gar Hundertstel geht. Hier sollte man wohl einen Unterschied bei den Schülern machen. Wenn ein Gymnasiast die Note 3,6 bekommt, so weiß er, dass das am Ende doch eine 4 ist. Mancher meiner Berufsschüler hätte sich bei dieser Note wohl selbst auf die Schulter geklopft und gesagt: "3,6! Mann, was bin ich gut!" Deshalb habe ich keine Zehntelnoten erteilt, nur gelegentlich ein + oder ein - hinter die Zensur gesetzt, um die Richtung anzudeuten.

An der einen Schule hatten wir keine Tagebücher mehr, wo nur die Anwesenheit der Schüler und die Themen des Unterrichts eingetragen wurden und daneben eine Zensurenliste, sondern Klassenlisten. Das war eine Zusammenfassung beider A4-Hefte. Außer den genannten Daten gab es für jedes Unterrichtsfach eine Doppelseite, um die Leistungen der Schüler festzuhalten. Sowohl die Kopfnoten für jedes einzelne Fach: Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung, als auch die Leistungsnoten von den schriftlichen Klassenarbeiten, die Noten für die mündlichen Leistungen und für die Hausaufgaben wurden dort getrennt eingetragen. So hatte der Klassenlehrer jederzeit einen Überblick über die Leistungen seiner Schüler in allen Fächern. Lehrausbilder konnten bei ihren Hospitationen die Klassenliste einsehen und notieren, welche Lehrlinge in welchen Fächern keine guten Leistungen aufwiesen. Diese konnten dann im Betrieb individuell gefördert werden. Und schließlich hatte auch die Schulleitung die Möglichkeit, die Aktivität ihrer Lehrkräfte zu überprüfen. Wenn das Schuljahr im September begann, und im November stand noch keine einzige Note in der Klassenliste, musste der betroffene Lehrer damit rechnen, dass ihn der Schulleiter danach fragte, was er denn bisher gemacht habe? Einem Lehrer, der seine Arbeit ernst nimmt, passiert das freilich nicht.

An der anderen Schule gab es nur die alten Tagebücher und keine Zensurenliste dazu. Ich kam mir zurückversetzt vor, wenn auch nicht gerade bis in die Steinzeit. So habe ich einen Kollegen gefragt, wohin ich die Zensuren schreiben soll. Antwort: "Die müssen Sie für sich aufschreiben auf ein Blatt, in ein Heft oder einen persönlichen Lehrerkalender. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache!" Da kommt man sich dann vor wie der geheimnisvolle Magier, der zur Zeugnisausgabe plötzlich ein paar Zensuren aus dem Hut zaubert. Andere Länder, andere Sitten.

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Weshalb wird jemand Lehrer?

Bei mir, das hatte ich schon erläutert, war es so, dass ich durch Zufall oder bestimmte Umstände in den Schuldienst gestolpert bin. Und von denen, die ebenso hereingeschlittert sind, hat mancher diesen Beruf bald wieder an den Nagel gehängt, weil er feststellen musste, dass er dafür nicht geeignet ist.

Bei einigen bestimmen es die familiären Verhältnisse. Wenn schon der Großvater und die Eltern Lehrer waren, liegt es nahe, dass man in die gleichen Fußstapfen tritt. Manch einer wird vielleicht Lehrer, weil er möchte, dass seine Kinder einmal genau so gute oder nicht so schlechte Lehrer bekommen, wie er selbst sie gehabt hat. Andere werden Lehrer, weil sie wissen, dass sie dann Beamte auf Lebenszeit werden und rundum gut versorgt sind. Das muss nicht einschließen, dass ihre Schüler mit ihnen auch rundum gut versorgt sind. Manche träumen von den vielen Ferien, die man als Lehrer hat. Dazu habe ich mich schon früher geäußert.

Am schlimmsten, aber auch am seltensten ist die Sorte, die einkalkuliert, dass ein Lehrer sehr schwer zu kontrollieren ist. Seine Leistung spiegelt sich in den Zensuren seiner Schüler wider, und die schreibt ja der Lehrer selbst Bis sich herausstellt dass er kein guter Lehrer war, sind die Schüler längst aus dem Haus!

Bleiben als positiver Abschluss noch die Idealisten, die sich zum Lehrer berufen fühlen und allen Anforderungen gern gerecht werden.

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Formales Wissen

An einer meiner beiden Schulen wurde immer wieder darauf hingewiesen, nicht nur formales Wissen zu vermitteln, sondern wenn möglich auf Anwendungsbeispiele einzugehen. Das Verhalten von Flüssigkeiten in kommunizierenden Röhren können die Schüler zwar beobachten und lernen, aber im Stillen denken sie sich: Was soll der Scheiß? Dabei gibt es in den Mauern größerer Talsperren waagerechte Gänge, in denen in Sichthöhe eine Rohrleitung verlegt ist, aus der in bestimmten Abständen kleine Glasröhren nach oben herausstehen. Die Leitung ist mit Wasser gefüllt, und in Höhe des Wasserspiegels ist an der Wand ein Markierungsstrich. Steht das Wasser über oder unter dem Strich, lässt sich daraus erkennen, ob sich die Mauer gesenkt oder gehoben hat. Man kann also damit die Bewegung der Mauer in der Senkrechten erfassen und weiß bei extremer Abweichung, dass Gefahr besteht.

In der Anfangszeit meiner Lehrertätigkeit hatte ich in meinem Schrank karierte, linierte und unlinierte Schreibhefte für die Schüler übereinander gestapelt. Ich brauchte eines der unteren. Also habe ich die oberen vorn ein Stück hochgedrückt, so dass ich ein gewünschtes erfassen konnte, und mit der Bemerkung: "Auf Grund des Gesetzes von der Trägheit der Massen" es schnell herausgezogen. Der Stapel musste ja stehen bleiben, was er auch tat. Ein Kollege, der in der Nähe stand und das beobachtet hatte, meinte sinngemäß, dass er diesen Vers in dem Zusammenhang auch noch nicht gehört hätte.

An der anderen Schule hatte ich den Eindruck, dass die Schüler in der Erwartung dasaßen: Lehrer, schreib doch endlich etwas an die Tafel, was wir abschreiben und auswendig lernen können! Es ist aber doch viel besser, die Schüler haben aus der Erarbeitung an zwei oder drei Beispielen erkannt, wie man zur Lösung eines Problems kommt, als ihnen zehn Beispiele mit Lösung vorzusetzen, und beim elften sagen sie: Das haben wir nicht behandelt! Alte Erkenntnis: Weniger ist oft mehr! oder: In der Beschränkung zeigt sich der Meister!

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Gründliche Ausbildung

Im "Arbeiter- und Bauernstaat" war man natürlich strikt dagegen, dass die Lehrlinge von ihren Ausbildungsbetrieben ausgebeutet wurden und untergeordnete Arbeiten verrichten mussten. Es hat geraume Zeit gedauert, bis sich das durchgesetzt hat.

Zwei Zeichnerinnen beklagten sich bei mir, dass sie täglich vor der Frühstückspause für die im Zeichenbüro Beschäftigten in der Betriebskantine einkaufen mussten. Das dauerte eine Dreiviertelstunde, und sie durften es nicht ins Berichtsheft einschreiben. Ich habe ihnen gesagt, dass alles, was länger als eine Viertelstunde dauert, ins Berichtsheft eingetragen werden muss. Und der Betrieb muss das gegenzeichnen. Sie haben daraufhin ihre Einkaufstätigkeit mit dem Erfolg im Berichtsheft notiert, dass nach zwei Wochen eine Teilzeitkraft eingestellt wurde, die das Einkaufen besorgte. Von da an konnten sie ihre Lehrzeit voll zur Ausbildung nutzen.

Ein kleinerer Betrieb hatte seine Zeichnerin in der Lichtpauserei beschäftigt. Nun gehört es zur Ausbildung einer Zeichnerin, dass sie auch Lichtpausen anfertigen kann. Nur hatte dieses Mädchen den größten Teil ihrer Ausbildung mit dem Erfolg in der Lichtpauserei verbracht, dass sie am Ende die praktische Prüfung als technische Zeichnerin nicht bestand. Belegt durch die Eintragungen im Berichtsheft wurde der Betrieb verdonnert: 1. die Ausbildung zielgerichtet um ein halbes Jahr zu verlängern und 2. für die Entlohnung in dieser Zeit nicht die recht bescheidene Lehrlingsvergütung (in der Umgangssprache Lehrlingsrente genannt), sondern 90 % des Zeichnergehaltes zu zahlen! Nach diesem zusätzlichen halben Jahr ordentlicher Ausbildung bestand das Mädchen die Prüfung.

Später hatte ich einen Azubi (einen Auszubildenden) aus einem kleinen Betrieb. Als angehender Mechaniker sollte er dort einmal zehn Wellen drehen. Dazu hat er geäußert, eine Welle wolle er drehen, aber bei den anderen neun könnte er ja nichts mehr lernen. Er hat diese Mehrarbeit verweigert. Vom nächsten Tag an war er "krank". Als er nach einer Woche zurückkam, waren die Wellen gedreht. Dabei weiß jeder, der praktisch arbeitet, dass er seine Fertigkeit und Geschicklichkeit in der oder durch die Serie wesentlich steigern kann. Und diese Erkenntnis zu gewinnen, gehört ebenfalls zur Ausbildung.

So gründlich kann gründliche Ausbildung danebengehen.

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Sie - Du

Als ich in den Schuldienst kam, war es üblich, sich im Kollegium mit Sie anzureden. Ich entsinne mich nur auf einen Kollegen, der alle duzte, er kam wohl aus dem Bergbau. Er pflaumte mich eines Tages an: "Hast Du mal Deine Lektion über das Nieten?" Das war ein ungewöhnliches Ansinnen: denn seine Lektionen erarbeitet jeder selbst. Natürlich hatte ich diese Lektion nicht für ihn. Er blieb auch nicht lange im Schuldienst. Im Laufe der Zeit setzte sich in Chemnitz das Du durch. Die meisten Lehrer waren Mitglied der SED und duzten sich als Genossen. Das übertrug sich bald soweit auf das gesamte Kollegium, dass alle selbst mit dem Schulleiter und seinem Stellvertreter per Du waren. Der Vorteil war, dass man sich über Probleme (siehe methodische Kommission) leichter unterhalten konnte. Der Nachteil war eine gewisse Respektlosigkeit, so dass ich einmal wegen einer Unstimmigkeit meinem Schulleiter den Götz zitierte. Das hätte ich per Sie nicht getan.

Laut Gesetz sollen Schüler vom 9. Schuljahr an mit Sie angesprochen werden. Als wir noch die Kaufleute an der Schule hatten, sprach einer der Lehrer seine Schüler mit Fräulein und Sie an. Und er verabschiedete sich nach der letzten Unterrichtsstunde von allen per Handschlag. Es ist durchaus möglich, dass er auf Grund der Achtung, die er seinen Schülerinnen entgegenbrachte, auch von ihnen geachtet wurde. Normalerweise erwirbt sich der Lehrer Achtung durch sein Fachwissen und sein Durchsetzungsvermögen.
In der Werkstatt ist für Lehrlinge die Anrede Du geläufig. Ich hörte in der Bahn einmal ein Gespräch, wo ein Lehrling über die Anrede in der Schule sagte: "Unser Klassenlehrer sagt Du zu uns. Die anderen sagen Sie - das ist vielleicht blöd!"

In Chemnitz gab es gleichzeitig zwei widersprüchliche Anweisungen:
1. Die Berufsschüler sind mit Sie anzureden.
2. Als Gruß ist der Gruß der FDJ (Freie Deutsche Jugend) "Freundschaft" anzuwenden.
Die Schüler haben über dieses "Freundschaft und Sie" nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Und wir haben weiterhin Du zu unseren Schülern gesagt.
Da ich lange Zeit Mädchenklassen hatte, habe ich meine Schülerinnen mit Vornamen und Du angesprochen. Wenn ein oder mehrere Jungen in der Klasse waren, habe ich die selbstverständlich auch mit dem Vornamen angeredet. Und ich bin immer gut damit gefahren.
Wir hatten eine Schülerin mit dem Familiennamen "Hund". Sie hat sich lange Zeit geärgert über: "Hund, kommen Sie an die Tafel! Hund, lesen Sie vor!" Es war ihr eine Erleichterung, bei uns mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden. Dennoch sehnte sie sich nach dem Tag, wo sie heiraten und einen anderen Namen annehmen konnte. Und ich habe ihr gesagt: "Hoffentlich heiratest Du nicht einen Herrn Katz!"

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Selbstverständlichkeiten breittreten

Man sagt: Es ist die Aufgabe der Lehrer, Selbstverständlichkeiten breitzutreten. Zwar kann man seinen Schülern zeigen, wie die griechischen Buchstaben geschrieben werden und ihnen sagen, wie sie heißen. Aber dennoch werden es für manche sonderbare Hieroglyphen bleiben und blöde Bezeichnungen obendrein, wenn man den Schülern die Scheu davor nicht nimmt. Deshalb sollte man ihnen nicht nur die Schreibweise des alpha zeigen, sondern sollte es ein zweites Mal hinschreiben und mit einem Aufstrich versehen. So werden sie erkennen, dass es sich von unserem a kaum unterscheidet. Die alten Griechen haben die Buchstaben nebeneinander gesetzt wie wir es heute auf technischen Zeichnungen in der dafür vorgesehenen Normschrift tun. Sonst schreiben wir ja ebenfalls nach Norm kursiv. Wenn der Lehrer den Aufstrich noch beim beta und beim delta zeigt und beim gamma einen kleinen Kreis zeichnet, wird manchem Schüler das bekannte Licht aufgehen. Für das 0-mikron o müssen wir sagen, dass es das kurze, das kleine (mikro) o ist. Das andere ist das große, das lange oo, wie wir es bei Boot oder Zoo haben, das 0-mega. Und geschrieben wird es wie unser kleines w oder besser wie zwei oo aneinandergefügt und oben offen.

Für mich selbst habe ich heute noch eine faule Ausrede, warum ich nicht Klavier spielen gelernt habe. Ich hatte nicht begriffen, dass zu jedem Ton der Melodie, den ich mit der rechten Hand angeschlagen habe, ein bestimmter Akkord mit der linken gehört. Da habe ich jedes Mal erst genau nach den Noten geguckt. Und das dauert natürlich zu lange. Mein Klavierlehrer hat vor mir nach dem Motto: das weiß man doch einfach - diese Selbstverständlichkeit nicht breitgetreten.

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West-Ost-Gefälle

So ähnlich wie man etwas überheblich von einem Nord-Süd-Gefälle gesprochen hat, gibt es auch ein West-Ost-Gefälle. Dabei sieht man von östlicher Seite jeweils den westlichen Nachbarn als großes Vorbild und gutes Beispiel. Innerhalb der früheren Ostblockländer haben alle auf die DDR gestarrt. Diese Deutschen hatten den Krieg verloren, und dennoch hatten sie den höchsten Lebensstandard in dieser Staatengruppe. Also mussten sie und alles, was von ihnen kam, gut sein. Bei einem Besuch in der Porzellanfabrik Colditz habe ich dort beschäftigte Frauen gefragt, ob sie sich das, was sie produzieren, auch selbst kaufen? "Kein Stück, weder von der Form, noch vom Dekor her!" Bei der abschließenden Besprechung habe ich darauf aufmerksam gemacht, sich doch einmal an die Hochschule für angewandte Kunst auf Burg Giebichenstein bei Halle zu wenden. Ich erhielt zur Antwort: "Ach, die Kerle haben wir doch hier gehabt. Was die vorgeschlagen haben, will doch keiner kaufen. Was wir produzieren, wird exportiert, das geht in die Sowjetunion, das geht nach Ungarn!" Erkenntnis: Siehe oben!

Was aus Deutschland (aus dem Westen kommt) muss gut sein. Und zum anderen hat sich die DDR damit in ihrer Weiterentwicklung selbst blockiert. Die DDR-Bürger haben nach dem Westen geglotzt und sich über das Fernsehen "informiert", blenden und einlullen lassen und von jedem Erzeugnis geschwärmt, das dort angeboten wurde. Und bei der Wiedervereinigung haben sie alles liegengelassen, was in Mitteldeutschland hergestellt worden war. Das führte die Leiterin einer Chemnitzer Kaufhalle zu der Entscheidung: Ich nehme nur noch Westware! So haben sie sich selbst abgewürgt.

In den Schulen war es ähnlich. Das recht gute Schulsystem der DDR hat man weggeworfen, um das westdeutsche Schulsystem zu übernehmen. Und das in Unkenntnis der Tatsache, dass es überhaupt kein einheitliches westdeutsches Schulsystem gibt, denn die Schulhoheit obliegt den Ländern, und da macht jedes Bundesland, was es will.
Als ich nach Baden-Württemberg kam, habe ich zunächst ein paar Monate in einem Betrieb gearbeitet. Der Ingenieur, der mich einarbeitete, war aus Niedersachsen gekommen. Seine Frau als Lehrerin hat zwei Jahre gestrampelt, bis man in Baden-Württemberg ihre niedersächsische Lehrer- Zeugnisse anerkannt hat. Aber dieselben Leute hoffen darauf, dass ihre Zeugnisse international anerkannt werden. Unter westdeutschen Lehrern galt es als Geheimtip, Fachbücher aus der DDR zu haben. Und da wirft man in Mitteldeutschland die Fachbücher weg und kauft westliche.

Und dann gibt es noch etwas zum Schmunzeln. Seit dem letzten Schuljahr bieten die Hauptschulen in Baden-Württemberg ihren Schülern ein zehntes "werkbezogenes" Schuljahr an, um auch ihnen die Mittlere Reife zu ermöglichen. Das ist sinngemäß die Einführung der Polytechnischen Oberschule der DDR durch die Hintertür. Aber das gibt natürlich niemand zu.

Der Vollständigkeit halber muss ich noch erwähnen, dass das West-Ost-Gefälle weiter reicht. Die Bundesbürger gaffen nach Amerika und äffen oft genug wider besseres Wissen alles nach, was aus den Staaten kommt. Letztes Beispiel sind die schweren vierschrötigen Geländewagen mit der aerodynamischen Gestalt eines Wohnzimmerschrankes und einem hohen Kraftstoffverbrauch. Den letzten Schrei bildet da ein deutsches Fahrzeug mit einem Kraftstoffverbrauch von 18 bis 25 Litern auf 100 km. Und wenn man den stolzen Besitzer auf den unnötigen Schadstoffausstoß aufmerksam macht, bekommt man zur Antwort: "Na was denn, ich bezahle es doch!"

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Abwege

Wenn man auch anerkennen muss, dass es in der DDR jedem Jugendlichen möglich war, die Mittlere Reife zu erlangen, gab es für manchen doch Hindernisse auf dem Berufsweg, die nicht hätten sein müssen.

Verwandte hatten einen sehr begabten Sohn. Weder für die Lehrer der Grundschule noch für die Eltern bestand ein Zweifel daran, dass der Junge mit 14 Jahren auf die Erweiterte Oberschule (EOS, sinngemäß Gymnasium) überwechselt. Das war ein Ausbildungsweg, der nur wenigen Schülern vorbehalten blieb. Der Junge kam aber nicht auf die EOS. Als sich meine Verwandten erkundigten, warum, wurden sie in der üblichen oberlehrerhaften Art aufgefordert, einmal darüber nachzudenken, welchen Fehler sie gemacht hätten. Nach einigen Umfragen im Bekanntenkreis stellten sie dann ihren "Fehler" fest. Sie hatten ihren Sohn nicht zur Jugendweihe geschickt, sondern ihn konfirmieren lassen. Die staatliche Jugendweihe war eine Konkurrenzveranstaltung zu Konfirmation oder Kommunion im Kampf der Partei gegen die Kirchen.
Ähnliches widerfuhr vielen Jugendlichen bei der Suche nach einer Lehrstelle. Ohne Jugendweihe stellte sie kein Volkseigener Betrieb ein, geschweige denn eine Behörde. Die Kirche blieb in ihrer Haltung eine Zeit lang konsequent: entweder Konfirmation oder Jugendweihe! Erst als sie merkte, dass sie den Jugendlichen schadete, fand sie nach ein paar Jahren die Lösung, im Jahre nach der Jugendweihe zu konfirmieren. Da konnten sich die Jugendlichen inzwischen anders entwickelt haben.
Es ist nicht angebracht, heute aus sicherer Entfernung heraus der Kirche vorzuwerfen, sie hätte dem Staate leichtfertig nachgegeben und zu wenig getan.

Es gibt einen Aphorismus, der sinngemäß lautet: "Mut und Tapferkeit wachsen mit der Entfernung vom Problem." Darauf darf man alle hinweisen, die sich heute anmaßen, ihre Väter und Großväter zu kritisieren; denn in dreißig Jahren werden sie selbst sich von der nächsten Generation einiges fragen lassen müssen: "Warum seid Ihr mit so großen kraftstofffressenden Wagen gefahren? Warum seid Ihr auf der Autobahn mehr gerast, als notwendig war? Warum habt Ihr unnötig weite Flugreisen unternommen und damit die Erdatmosphäre enorm aufgeheizt? Warum habt Ihr. Euch Häuser für eine halbe Million DM gebaut, aber die 6.000,- DM für eine Anlage zur Erwärmung des Brauchwassers mit Sonnenenergie auf dem Dach gespart? Warum habt Ihr keine Regenwasserzisterne errichtet, um Wasser zur Klospülung und zum Gießen im Hausbereich zu haben? So hättet Ihr auch verhindert, dass alles Wasser eines Gewittergusses sofort die Bäche hinunterschießt. Stattdessen habt Ihr wertvolles Trinkwasser vergeudet! Wo sind Eure Solarzellen zur Stromerzeugung auf den Dächern? Das war doch alles bekannt und vorhanden. Warum habt Ihr es nicht genutzt?"
Und diejenigen, die sich dahinter verschanzen, der Staat hätte es ja nicht gefordert, also brauchten sie es auch nicht zu tun, sind dieselben, die von sich behaupten, sie seien mündige und intelligente Bürger, wüssten selbst, was sie zu tun hätten, und brauchten nicht soviel Staat. Wo sind die Lehrer, wo sind die Lehrpläne, die verhindern, dass dieses deutsche Spaltungsirresein weiterhin derartige Blüten treibt? Und die Frage: Atom-Energie ja oder nein, wird man in dreißig Jahren wohl auch besser beantworten (können) als heute.

Ein verwandtes, auf dem Lande lebendes Ehepaar hatte drei Söhne. Der jüngste war sehr intelligent und hatte großes Interesse an und Gespür für Tiere. Er kam auf die EOS und strebte als Berufsziel Tierarzt an. Da passierte ihm das Missgeschick, dass sich seine beiden Brüder (Zimmermann und Landmaschinenschlosser) in die Bundesrepublik absetzten. Dafür wurde er in der 11. Klasse von der EOS verbannt. Er wurde nicht Tierarzt, sondern Busfahrer.

Von der benachbarten EOS hatten wir für den Bildungsweg "Abitur mit Berufsausbildung" einige Schüler zum theoretischen Unterricht, die jede zweite Woche an zwei Tagen praktische Ausbildung in einer Gießerei hatten.
Eines Tages fuhr ein Schüler dieser Klasse mit mir in der Bahn nach Hause. Er sagte mir: "Der L. hat in der Praxis eine *5* gebaut!" Ich antwortete, dass dieser Schüler bei mir auch nicht gerade gute Leistungen zeige und fragte: "Wie ist er denn bei Euch?" "Da ist er auch nicht besonders!" "Was kann er denn?" Und da kam wie aus der Pistole geschossen: "Klavier spielen!" Ich habe mich gefragt "Was für ein Unsinn? Wie soll denn aus diesem Jungen ein guter Klavierspieler, vielleicht sogar Virtuose werden, wenn er sich in der Gießerei mit schweren Gießkästen und Gussstücken immer wieder seine Hände ruiniert?" Den hätte man in dieser Zeit besser zu einem Konzertmeister geschickt.

Eine Zeit lang hatten wir, es war eine Übergangslösung, Apothekenhelferinnen bei uns. In einer Konferenz war der Leiter der benachbarten EOS bei uns. Er wurde gefragt, wie das mit dem Pharmaziestudium sei? Dazu meinte er, auf einen Studienplatz kämen sieben Bewerber, und wer kein gutes Abitur vorzuweisen hätte, käme dort nicht unter. Darauf wurde ihm gesagt, dass wir eine Schülerin hätten mit einem Einser-Abitur, die nicht angekommen ist. Das konnte er sich nicht vorstellen. Als er dann hörte, dass dieses Mädchen sogar von seiner Schule kam, fragte er erstaunt, wer das sein soll? Und als er den Namen hörte, sagte er: "Ach diiie, na, die war doch wohl religiös etwas behämmert!" Die Schülerin war Mitglied der Jungen Gemeinde, trug das kleine Kreuz an ihrer Kleidung und bekannte sich offen zu ihrem Glauben. Und dafür wird von einer sozialistisch verirrten Schule eine Beurteilung an die Uni geschickt, dass diese sich sagt: Diese Bewerberin können wir nicht immatrikulieren.

Eine meiner technischen Zeichnerinnen, ein Flüchtlingskind, das bei Pflegeeltern aufwuchs, kam mit ihren Zeichnungen über die Note "3" eigentlich nicht hinaus. Wenn es irgend ging, habe ich ihr auch einmal eine *2* auf eine Zeichnung geschrieben selbst auf die Gefahr hin, dass andere fragten: "Und dafür geben Sie eine *2*?" Aber ich musste ihr ja Mut machen. Zufällig entdeckte ich bei ihr einmal ein paar Skizzen. Ausgezeichnete Entwürfe für Theaterkostüme! Wahrscheinlich hatte man an ihrer Schule erkannt, was für eine begnadete Zeichnerin sie ist, und sie deshalb zur technischen Zeichnerin vorgeschlagen. Das war aber so ungefähr das Ungeschickteste, was man ihr antun konnte. Im technischen Zeichnen ist jede Linie in ihrer Art und Stärke geformt, jeder Buchstabe, jede Zahl ist in Größe und Form vorgeschrieben. Da ist keinerlei Raum für freie Gestaltung. Das Mädchen hatte absolut den falschen Beruf erwischt. Sie hat dennoch ihre Prüfung bestanden und, soweit ich mich entsinne, sogar recht gut. Ich kann nur hoffen, dass sie später ihr wahres Talent noch hat entfalten können.

Erkenntnis: Berufsberatung ist mehr als nur statistische Stellenvermittlung!

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Erfolge?

Lange Zeit mussten die Berufsschüler im Herbst bei der Kartoffelernte helfen. Sie wurden am Schultag zu einer LPG (Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft) gebracht. Je Korb Kartoffeln, den sie am Hänger ablieferten, bekamen sie eine Marke. Am Ende des Tages wurden sie ihren Marken entsprechend entlohnt. Da manche Körbe mehr Kartoffeln enthielten als dem geschätzten Gewicht entsprach, war nach den Einsätzen noch etwas Geld (Lohn) übrig. In der Sitzung der erweiterten Schulleitung wurde vorgeschlagen, diesen Betrag für "Vietnam" zu spenden. Das ging mir natürlich gegen den Strich. Vorsichtig schlug ich deshalb vor, die Hälfte des Geldes zu verwenden, um die Zelte zu reparieren, die im nächsten Schulzeltlager wieder einsatzfähig sein mussten. Da sprang mir ein Kollege bei und meinte, wir sollten für das Geld doch eine Luftmatratze kaufen. Und dann hätte die LPG unseren Schülern noch eine Luftmatratze geschenkt. Das wurde beschlossen.

Als 1968 die Warschauer Truppen in die CSSR einmarschierten, wurde vom Kollegium natürlich eine Resolution dazu verlangt. Für die Formulierung brauchte man eine Redaktionskommission. Sie bestand aus einem Schriftführer (zufällig ein Genosse), einem Vertreter der Gewerkschaft (zufällig ein Genosse), einem Genossen, einem parteilosen Kollegen und einem Mitglied der LDPD, war also ganz "demokratisch" zusammengesetzt. Der Vertreter der Liberaldemokratischen Partei war ich, zum einen, weil ich eben Mitglied dieser Partei war, zum anderen, weil ich in dem Ruf stand, manchmal - und ich betone manchmal - bei Formulierungen eine glückliche Hand zu haben. Und das konnte man ja brauchen. Ich habe mir zunächst gedacht: Lass die anderen einmal basteln. Das ging so: "Gespannt verfolgen wir in den letzten Monaten und Wochen die Entwicklung in der CSSR." Ich habe eingewendet: Wenn wir die Entwicklung hätten verfolgen wollen, hätten wir dabei sein müssen. Wir können nur schreiben: "Wir verfolgten die Nachrichten über die Entwicklung." Dann folgten ein paar Sätze, die konnte man annehmen. Abschließend sollte es heißen: "Und deshalb begrüßen wir die Maßnahmen der DDR und der Bruderländer und heißen sie gut." Spontan habe ich eingeworfen: Ich und der Esel! Man nennt sich doch nicht selbst zuerst. Ich hatte dabei nur an eine Umstellung gedacht. Vielleicht war der Schriftführer schon etwas erschöpft; er hat die DDR ganz herausgestrichen. Bei den Bruderländern waren wir ja dabei. Weiter habe ich eingewendet, dass begrüßen und gutheißen ja doppelt gemoppelt ist. Schreiben wir doch einfach: verstehen. Und so hieß darin der letzte Satz: Wir verstehen die Maßnahmen der Bruderländer.

Wenn man bedenkt, dass ich mehr als zweiundzwanzig Jahre an der Schule in Chemnitz tätig war und zweimal einen Erfolg verbuchen konnte, ist das fürwahr ein bescheidenes Ergebnis. Aber die meisten Kollegen haben ja den Mund gar nicht erst aufgemacht.

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Lehrerausbildung

Einer meiner Chemnitzer Kollegen, ein guter Genosse (Mitglied der SED), wurde an das Institut für Berufsschullehrerausbildung als Dozent für Didaktik berufen. Ich übernahm eine seiner Klassen. Die Schüler sagten mir: "Herr Reiche, bei dem haben wir nichts begriffen!" Da wundert man sich dann schon über diese Berufung.

Des öfteren hatte ich Studenten, die in meinem Unterricht hospitierten. Einmal verwendete ich im Unterricht ein Funktionsmodell eines Brettfallhammers. Einer der Studenten sagte mir, das Modell hätte ich doch dem des Dozenten X aus dem Institut nachgebaut. Ich konnte ihm sagen: "Nein, umgekehrt, er hat es bei mir gesehen!" Später sagte mir ein anderer Student, das Tafelbild über Zahnradgetriebe hätte ich sicherlich vom Uni-Professor Y. Auch ihn musste ich aufmerksam machen: "Nein, umgekehrt!" Die Studenten waren verpflichtet, die Tafelbilder, die sie beim Hospitieren im Berufsschulunterricht gesehen hatten, ihrem Professor vorzulegen. Und was der Professor dann für gut befunden hat, wurde von ihm selbstverständlich übernommen. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Besser wäre aber ein anderer Weg.

Ein Freund von mir war Schulleiter einer Polytechnischen Oberschule in Thüringen. Er unterrichtete auch im Fach Geographie. Dafür wurden den Schulen eine Zeit lang Ausarbeitungen zugeschickt, die recht ordentlich waren und mit denen man als Lehrer durchaus etwas anfangen konnte. Dann blieben diese Vorlagen zwei Jahre lang aus. Aber die danach kamen, waren wirklich ausgezeichnet, die hatten Hand und Fuß. Was war passiert? Der Herr Dozent oder Professor, oder was er nun war, hatte sich dazu herabgelassen, selbst zwei Jahre lang an Schulen in diesem Fach zu unterrichten. Es ist logisch, dass er danach etwas ganz anderes geboten hat!

In Leonberg fühlte sich ein junger Kollege ziemlich hilflos, als er noch eine Prüfungslektion wegen der festen Anstellung zu halten hatte. Das Thema war "Gewinde". Er wusste bei diesem umfangreichen Gebiet nicht, wo er anfangen und was er auswählen sollte. So gab ich ihm ein Tafelbild, das ich mir erarbeitet hatte. Es war gegliedert in: Zweck - Befestigung/Bewegung, Lage - außen/innen. Benennung - Schraube oder Spindel/Mutter (oder Mutterschloss), Form - spitz/flach, Gangzahl - ein-/mehrgängig und Richtung - rechts-/linksgängig. Es waren bei der Form noch ein paar Skizzen dabei und Hinweise auf metrisches und Zollgewinde. Obgleich dieser Kollege sehr besonnen und ausgeglichen war - ich hatte ihn auch noch niemals erregt gesehen - wurde er, als er dieses Tafelbild sah, doch sehr heftig und sagte wörtlich: "Warum wird einem so etwas an dem PI nicht geboten? Da schreibt der Professor vier Stunden lang aus dem Tabellenbuch Tabellen ab an die Tafel und nennt das Didaktik" Es war wohl auch in diesem Falle so, dass der Lehrstuhl dort eher ein Leerstuhl für einen guten Freund war.

Wie oft kommt es vor, dass sich Professoren einen begabten Studenten nach Abschluss des Studiums als Assistenten an der Uni behalten. Später wird er dann Dozent und selbst Professor. Und trotz hoher Intelligenz ist die praktische Erfahrung = Null. Über das Ergebnis, das seine Absolventen am zukünftigen Arbeitsplatz zeigen, braucht sich niemand zu wundem!

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Weiterbildung

Es hat einige Versuche gegeben, eine Weiterbildung der Lehrer zu organisieren. In der DDR leitete man das damit ein, dass man den Lehrern zunächst einmal erklärte, sie hätten ein Anrecht auf dreißig zusammenhängende Tage Urlaub im Jahr. Und dann schickte man uns zu Beginn der Sommerferien für eine Woche in einen Großbetrieb. Dort wurden wir zunächst vom Werkleiter begrüßt, doch danach wussten die meisten nicht, was sie eigentlich da sollten, und waren nach dem Frühstück bereits wieder verschwunden. Am nächsten Tag ließen sie sich früh zu Arbeitsbeginn einmal sehen. Danach waren sie wieder verschwunden. Und damit war die Weiterbildungswoche gelaufen. Das hat man nie wieder gemacht.

Später gab es dann in jedem Bezirk ein Methodisches Kabinett, das bald in Pädagogisches Bezirkskabinett umbenannt wurde. Seine Aufgaben lagen im didaktischen Bereich. Zum einen wurden Fachvorträge und Musterlektionen gehalten, zum anderen interessante Zusammenstellungen von oder neue Lehrmittel gezeigt. Zu den Veranstaltungen delegierte jede Schule wenigstens einen Kollegen. Dann gab es eine Phase, in der die Kollegien für drei Tage verreisten, meist mit drei Schwerpunkten, fachlich ein Betriebsbesuch mit Führung, gesellschaftlich der Besuch einer Gedenkstätte oder eines Zeitstücks im Theater und allgemeinbildend eine Kunst- oder Gartenbauausstellung. Für diesen Ausflug gab es pro Kopf 12,- M Zuschuss. Durch besondere Umstände hatten wir noch Freifahrt der Reichsbahn. Alles andere mussten die Lehrer selbst bezahlen, schließlich waren von ihrem Gehalt ja 300,- M steuerfrei. Das Niveau der Exkursion hing vom Talent der organisierenden Kollegen ab und konnte recht ordentlich sein. Befriedigend und ausreichend waren diese Möglichkeiten alle nicht.

Da ich durch den Krieg nicht studieren konnte, hatte ich mir vorgenommen, alle meine Schüler einmal am Arbeitsplatz zu besuchen. Das ist mir aber bei keiner Klasse gelungen. Dennoch bin ich auf eigene Kosten im gesamten Einzugsbereich unserer Schule herumgereist, habe dabei viele Betriebe kennen gelernt und viel Fachwissen erwerben können. Oft brachte ich auch Anschauungsmaterial und technologische Sammlungen für die Schule mit.

In Leonberg gab es anfangs in größeren Abständen das Angebot, an einer Weiterbildungsveranstaltung teilzunehmen. Das Interesse daran war aber nicht groß. Meist ging es in einen Großbetrieb, wo uns zwar Vorträge, kaum aber Betriebsbesichtigungen geboten wurden. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem bekannten Betrieb im Großraum Stuttgart. Dort wurden wir zu nächst einmal mit Kaffee und Brezeln empfangen, um uns für die Vorträge am Vormittag zu stärken. Zu Mittag fuhren wir mit einem Bus in ein gutes Höhenrestaurant über dem Neckar, wo uns auf Kosten des Betriebes ein vollständiges Menü geboten wurde mit einem abschließenden Glas Rotwein und einer Tasse Kaffee. Das Thema des Nachmittags war der Zusammenarbeit von Schule und Ausbildung gewidmet. Der Betrieb verkaufte Werkzeugmaschinen u.a. - auch an Schulen und Lehrwerkstätten. Die Vorträge wurden aber nicht zu einer unmittelbaren Werbung genutzt. Nachdem wir verabschiedet wurden, gab es noch ein großes Vesperpaket für den Heimweg.
Und dann füllten wir ein Formular aus, um entsprechend unserer Gehaltsgruppe Tagegeld, Aufwandsentschädigung und Kilometergeld für An- und Abreise zu bekommen. Und das wurde dann bei der nächsten Gehaltszahlung tatsächlich auch überwiesen. Wer die kargen Vergütungen aus der DDR gewohnt war, musste sich da vorkommen wie im Schlaraffenland.

Nachdem ich mich in Leonberg eingearbeitet hatte, habe ich für interessierte Kollegen Betriebsbesuche organisiert. Der erste führte in eine Gießerei im Nachbarort. Mir war bekannt, dass der Betrieb ein besonderes Verfahren anwendet, das etwas widersprüchlich klingt, es nennt sich kastenloser Kastenguss und war mir einen Besuch wert. Wofür sich dann meine Kollegen dort interessiert und welche Fragen sie gestellt haben, hat mich ernüchtert. Die hatten doch noch nie eine Gießerei von innen gesehen. Es ist mir dann gelungen, jedes Jahr eine Exkursion zu organisieren. Dabei stellte ich fest, dass es einige Kollegen gab, die sich immer beteiligten. Sie wussten, wie wertvoll es ist, umfangreich informiert zu sein. Mancher Kollege ging aber nur mit, wenn er glaubte, für seinen engen Bereich in der Schule etwas zu finden. Ich hätte mich gefreut, wenn auch einmal ein Sportlehrer mitgegangen wäre, um zu sehen, welchen einseitigen Belastungen Arbeiter, ihre Schüler, ausgesetzt sind. Dann hätten sie ihren Schülern entsprechende Ausgleichsübungen anbieten können.

Die beste Form der Weiterbildung für Berufsschullehrer ist meines Erachtens, Verbindung zur Praxis, zu den Betrieben zu haften und zu versuchen, immer auf dem Stand der technischen Entwicklung zu sein. Das ist mühevoll, und er muss es selbst tun. Da kann er nicht auf Anweisung von "oben" hoffen.

Einer meiner Chemnitzer Kollegen hatte nach ein paar Jahren im Schuldienst noch an der TU Dresden Soziologie studiert und promoviert. Dort hat er Fragebogen entwickelt, die an ehemalige Studenten versandt wurden, die drei Jahre Betriebserfahrung hinter sich hatten. Es ging darum zu erfassen, wie viel von dem, was ihnen im Studium vermittelt worden ist, für ihre praktische Tätigkeit bedeutend war, und worüber sie in der Ausbildung gern informiert worden wären. Es ist klar, dass kein Institut einen Ingenieur auf einen ganz bestimmten Arbeitsplatz vorbereiten kann, aber es ist nötig, unnötigen Ballast aus dem Studienplan zu entfernen und Notwendiges einzufügen. Diese Studie führte letztlich zu einer Reform der Studienpläne.
Und dann fügte der Kollege noch etwas hinzu. Er habe in seiner Dissertation und bei der Verteidigung die einfachsten Erkenntnisse kompliziert mit Fremdwörtern ausgedrückt. Das ging nach dem Motto: Das Volumen der Knollenfrüchte ist indirekt proportional dem Intellekt des Produzenten. Einfach gesagt: Der dümmste Bauer hat die größten Kartoffeln. Und lachend fügte er hinzu: "Ich habe meinen Doktor summa cum laude (mit dem höchsten Lobe) gemacht. Wenn Du wüsstest, wie Wissenschaft gemacht wird, Du verlörest jeden Respekt!" Diese Meinung teile ich nicht uneingeschränkt. Ich unterscheide da zwischen den exakten (Natur-)Wissenschaften und einigen Gammelwissenschaften. Was dazu zählt, überlasse ich jedem selbst. Das ist ähnlich wie mit der modernen Kunst. Da lob ich mir Ephraim Kishon: Picassos süße Rache. Einer meiner Chemnitzer Schüler fragte, als der Name Picasso fiel: "Der Ziegenkonstrukteur?" Und wer sich selbst gleich Künstler nennt, für den habe ich nur ein müdes Lächeln übrig. Vielleicht ist es auch eine Aufgabe der Schulen, dafür zu sorgen, dass diese Sorte von "Künstlern" nicht so ernst zu nehmen ist, wie sie es in ihrer Einbildung gern hätte.

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Medien

Als die Lichtbilder aufkamen, haben sich manche Pädagogen zu der Vorhersage verstiegen: Der Unterricht der Zukunft wird der Lichtbildervortrag sein! Er ist es nicht geworden. Später kamen Film, Tonband, Fernsehen und Taschenrechner hinzu. Alle haben ihre Berechtigung und werden so eingesetzt, wie es für die jeweilige Lektion zweckmäßig und erforderlich ist. Jetzt sind wir im Zeitalter der Computer und des Internets, und sie werden vor der oder die Schule kann vor ihnen nicht Halt machen. In welchem Maße sie in die Schulen einziehen werden, ist schwer vorherzusagen. Das Fernsehen bietet Unterhaltung auf verschiedenstem Niveau, Informationen und Reklame für den Handel. Und wie viele Sendungen dienen der Bildung? Es bleibt abzuwarten, wie sich die Verhältnisse im Internet entwickeln werden.

Ich entsinne mich, bei dem Bodenreformer Adolf Damaschke Beispiele gelesen zu haben, wie schwierig Vorhersagen sind. So führt er an: Wenn man streng wissenschaftlich über ein Jahr die Gewichtszunahme eines Säuglings erfasst und rechnet das Ergebnis am Ende des ersten Lebensjahres hoch, kann man "wissenschaftlich" zu der Erkenntnis gelangen: Wenn dieses Kind zehn Jahre alt ist, wird es neun Zentner wiegen!

Das andere Beispiel ist das des Hundeschwanzes. Misst man in den ersten Wochen, wie schnell die Rute eines Welpen wächst, und rechnet das hoch, "weiß" man: Wenn der Hund geschlechtsreif ist, wird seine Rute fünf bis sechs Meter lang sein!

Seit ich diese Beispiele kenne, bewundere ich den Mut derjenigen, die Vorhersagen wagen oder machen müssen. Denken wir nur an das Wetter. Selbstverständlich sind Prognosen über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nötig, aber wie viele Unwägbarkeiten gibt es dabei?

Andererseits steht fest, ohne dass jemand lesen gelernt hat, kann er auch mit einem Computer nicht viel anfangen. Und das Lernen von Vokabeln nimmt der Computer auch keinem Schüler ab, die muss er schon selbst büffeln.

Manche schießen in ihren Vorstellungen auch über das Ziel hinaus. Am Pl der Uni Stuttgart war ein Steckbaukasten entwickelt worden, um das räumliche Vorstellungsvermögen zu fördern. Schließlich muss sich der Facharbeiter aus der Zeichnung in der Ebene vorstellen können, wie das Werkstück räumlich aussieht. Dafür muss sein Auge und sein Vorstellungsvermögen geschult werden. Es ging um diese Grundausbildung. Und dann beanstandeten verträumte Superpädagogen, dass im Begleitmaterial keinerlei Hinweis auf die kreative Tätigkeit der Schüler mit diesem System gegeben wurde. Dafür war es weder vorgesehen, noch geeignet.

Das erinnert mich an die Frau, die in ein Handarbeitsgeschäft gekommen ist, um sich Wolle in verschiedenen Farben auszusuchen. Sie wollte sich selbst nach eigenem Entwurf ein tolles Kleid fertigen. Und dann stellte sich heraus, sie konnte nicht einmal einen Topflappen häkeln. Eine meiner Schülerinnen meldete sich zur Fahrschule an. Sie wollte Motorrad fahren lernen. Es stellte sich heraus, dass sie nicht einmal Rad fahren konnte. Wahrscheinlich dachte sie, das Motorrad fährt von selbst gerade aus.

1946 ließen die Russen in Chemnitz eine 350 ccm Rennmaschine mit Lader bauen. Als das Motorrad fertig war, gab es das Problem, wer die Maschine einfahren könnte? Die bekannten deutschen Rennfahrer waren im Kriege gefallen oder lebten nicht in der Sowjetischen Besatzungszone. Also sagte der verantwortliche russische Offizier bei der Besprechung ungehalten: "Dann fahren wir sie eben selbst ein!" Worauf der Chefkonstrukteur konterte: "Dann schicken Sie uns einmal 40 Russen und 10 Särge!"
Man hat dann in Zwickau einen Ingenieur gefunden, der die Maschine eingefahren hat.

Diese Beispiele habe ich angeführt, weil ich befürchte, dass manche Lehrer und manche Schulfunktionäre mehr Träumer sind als Realisten. Das Leben außerhalb der Schulstuben sieht anders aus. Dort könnten sie häufiger zu Gast sein.

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Fehleranalyse

Wenn man mit dem Ergebnis einer Klassenarbeit nicht zufrieden ist, sollte man nach der Ursache suchen. Das kann durch eine Fehleranalyse geschehen. Es fragt sich, ob die Fehlleistungen der Schüler gleichmäßig innerhalb der Arbeit verteilt sind, oder ob sie sich an bestimmten Stellen, bei bestimmten Fragen konzentrieren. Trifft das für bestimmte Fragen zu, muss man die Formulierung dieser Fragen überprüfen und seine Arbeit korrigieren.

Einmal hatte ich eine Arbeit in einer Art Komplexaufgabe um die Leitspindel einer Drehmaschine aufgebaut. Es war nach den Passungen der Lager ebenso gefragt wie nach der Kraftübertragung auf die Spindel, die Belastung der Spindel und selbstverständlich nach dem Gewinde. Insgesamt hatte ich für die richtige Lösung 25 Punkte vorgesehen. Die beste Schülerin erreichte 19 Punkte. So habe ich zur der Festlegung der Zensuren den 20 Punkte-Maßstab angewendet. Über die Arbeit und das Ergebnis habe ich mit meinen Fachkollegen gesprochen und ihnen auch die Aufgabenstellung vorgelegt. Sie meinten, da hätte ich mit meinen Anforderungen an die Schüler doch ziemlich hoch gegriffen. Die gleiche Aufgabe habe ich ein Jahr später der Nachfolgeklasse gestellt. Und da kam die beste Schülerin auf 23 Punkte! Ich erkläre es mir damit, dass ich in der Vorbereitung wohl etwas konzentrierter auf diese spezielle Aufgabenstellung hingearbeitet habe.

Einmal beklagten sich meine Schülerinnen des 1. Ausbildungsjahres, dass es für sie in einer Kontrollarbeit im Zeichenlehrbüro nur die Noten 4 und 5 gegeben habe. Da ich sowieso immer wieder einmal in die Betriebe kam, bin ich also "rein zufällig" ins Zeichenlehrbüro gegangen. Es war nicht schwierig, dort diese Arbeit ins Gespräch zu bringen. Und ich habe einen der Ausbilder gefragt, was sie daraus lernen? "Na, dass die dumm sind!" Daraufhin habe ich mir die Aufgabenstellung zeigen lassen. Damit die Lehrlinge, deren Reißbretter nebeneinander standen, nicht spicken konnten, waren es zwei verschiedene Aufgaben. Beide Aufgaben waren zweideutig. Beide enthielten einen Fachausdruck, der den Lehrlingen in diesem Ausbildungsabschnitt noch nicht bekannt war und ließen außerdem unterschiedliche Auslegung hinsichtlich der Maße zu. Das Ergebnis der Kontrollarbeit war ausschließlich Schuld der Ausbilder.

Über eine Zeichnerin machten sich die Lehrmeister ihres Betriebs lustig, was sie für einen Mist zusammenzeichnet. Ich bin daraufhin in den Betrieb und auch an das Brett dieser Zeichnerin. Nun muss man wissen, um einen Kreis zu zeichnen, legt man zunächst mit dünnen Linien ein Achsenkreuz fest, in das man dann mit dem Zirkel einsticht. Das Mädchen hat aber nicht im Achsenkreuz eingestochen, sondern im Umkreis von 1 mm daneben. Logisch, dass sie dabei "einen Mist zusammenzeichnet". Ich habe sie gefragt, ob sie das denn erkennen kann? Und sie sagte mir: "Früh die erste Stunde, dann nicht mehr!" So habe ich ihr aufgetragen, schleunigst zum Augenarzt zu gehen! Kurze Zeit später kam sie mit Brille; und über ihre Zeichnungen belustigte sich niemand mehr. Hier hatten wohl die Lehrmeister ihren Beruf verfehlt.

In Leonberg sagte mir ein jüngerer Kollege, der Mathematik im TG erteilte, das Ergebnis einer Klassenarbeit läge unterhalb der Note 4. Kein Schüler hätte eine bessere Note als 4. Im Normalfall heißt das, dass diese Arbeit nicht gewertet werden darf. Dabei hatte der Kollege eine Aufgabe in dieser Arbeit, die er vorher genau so mit der Klasse gerechnet hatte. Er hatte nur andere Zahlen, andere Werte eingesetzt. Und wenn die Schüler nur diese Aufgabe gelöst hätten, wären sie schon bei Note 4 gewesen. Ansatzweise noch bei anderen Aufgaben richtige Schritte, hätten zu befriedigender Leistung geführt. Ich habe den Kollegen gefragt, an welcher Stelle innerhalb der Klassenarbeit diese Aufgabe stand. Es war gleich die erste! Daraufhin habe ich ihm gesagt, er sollte diese Arbeit ganz normal werten! Und er hatte den Mut, das auch zu tun.

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Nervenzusammenbruch

In einer Berufsschule ist es innerhalb von wenigen Jahren zweimal passiert, dass der Lehrer für technische Zeichnerinnen einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Dass das ausgerechnet in diesen Klassen geschehen ist, war den meisten Lehrern unverständlich. Ich kann es mir aber erklären. Die Mädchen waren ja nicht mit der Technik aufgewachsen, hatten aber den Ehrgeiz, sich das erforderliche Wissen anzueignen. Und wenn ihnen etwas unklar war, haben sie mit ihrem (Un-)Verständnis der Dinge gefragt. Und diese Fragen klingen dann womöglich so wie die bekannte Scherzfrage nach den Gewichten für die Wasserwaage. Wenn sich der Lehrer dadurch provoziert fühlt und mit einer patzigen Antwort reagiert, hat er sich bei den Mädchen die ersten Minuspunkte eingehandelt. Und wenn das mehrmals passiert, ist das Maß voll. Und dann machen die Schülerinnen dem Lehrer das Unterrichten zur Hölle.

Ich entsinne mich auf einen Unterricht über Zahnräder und Getriebe, wo ich am Anfang die Erkenntnisse der letzten Stunde wiederholen ließ. Dabei stellte mir eine Schülerin eine wirklich doofe Frage. Leider habe ich mir die Formulierung der Frage nicht gemerkt. Ich bin aber ganz sachlich darauf eingegangen und habe das Problem umfassend geklärt. Am Ende des Unterrichtes, es war eine Doppelstunde, kam der 63jährige Lehrausbilder, der an diesem Tage hospitierte, noch ganz aufgebracht zu mir: "Herr Reiche! Das Weib! Diese Frage! Dass Sie da ruhig bleiben können?!" Ich habe ihm gesagt, dass das Mädchen wirklich keine Klarheit in diesem Falle hatte. Worauf er mir antwortete: "Na ja, na ja, ich hab es dann gemerkt!" Er hat es gemerkt, aber er war nach 90 Minuten immer noch auf der Palme. Man muss seine Schüler immer ernst nehmen. Und man merkt schließlich auch, wenn es ein Schüler einmal darauf anlegt, seinen Lehrer zu foppen.

Gegen Ende einer Unterrichtsstunde bei Kraftfahrzeugschlossern über den Vergaser hatte ich noch ein paar Minuten Zeit. So erzählte ich den Schülern (etwa im Jahre 1950), dass es auch möglich ist, den Kraftstoff mit einer Einspritzdüse direkt in den Zylinder einzuspritzen. Und prompt fragte ein Schüler, wo denn die Einspritzdüse bei der Dampfmaschine sitzt? Ich habe ihm geantwortet, dass es bei der Dampfmaschine eine Düse gibt, woraus der Dampfstrahl auf die Turbinenschaufeln trifft. Man nennt sie aber nur Düse und nicht Einspritzdüse. Vielleicht hätte er das verwechselt. Bei der Dampfmaschine gibt es keine Düse. So habe ich ihn mit einer fachlich sachlichen Antwort auch ein wenig bloßgestellt. Das ist die elegante Art, einen Schüler zurechtzuweisen, der seinen Lehrer herausfordern will.

Ungefähr zwanzig Jahre hatte ich schon unterrichtet, auch mehrfach über das Thema Wälzlager (im Volksmund Kugellager), als mich eine Schülerin ungläubig anschaute und sagte: "Das geht doch gar nicht!" Ich war verblüfft und habe sofort das größte Kugellager aus der Sammlung genommen, die vor mir stand. Das habe ich ihr mit den Worten in die Hand gedrückt: "Schau es Dir an!" Sie hat Außenring und Innenring gegeneinander gedreht und nach kurzer Zeit gesagt: "Ist in Ordnung!" Von da an habe ich bei diesem Thema eine Skizze gemacht, die einen Ausschnitt eines Wälzlagers mit dem Wälzkörper zeigt. Mit Pfeilen konnte ich dort die Drehbewegungen einzeichnen, die sich ergeben: die Drehbewegung des Innenrings, die Drehbewegung des Wälzkörpers um seine eigene Achse und die Seitwärtsbewegung des Wälzkörpers im Kreisbogen durch das Abrollen auf dem Außenring. Letztere erfolgt langsamer als die des Innenringes. Das lässt sich durch unterschiedlich lange Pfeile ausdrücken. Es sind also schon miteinander verknüpfte Vorgänge, die der Schüler erst einmal erfassen muss. Und ich habe mich gefragt, wie viele Schüler haben bisher vor dem selben Problem gestanden? Und sie haben es in der Hoffnung verdrängt: Es wird schon in keiner Klassenarbeit danach gefragt werden.

Es ist nicht immer leicht für einen Lehrer, aus der Frage eines Schülers zu erkennen, was er meint und was ihm wirklich unklar ist. So wie es schließlich für einen Arzt auch nicht einfach ist, auf Grund seiner Untersuchung eines Patienten und aus seinen Aussagen über seine Erkrankung die richtige Diagnose zu stellen. So wie der Arzt für seine Patienten muss der Lehrer für seine Schüler da sein, und nicht umgekehrt. Nur bei der Deutschen Bundesbahn hat man gelegentlich den Eindruck, ist das Verhältnis zu ihren Fahrgästen gerade andersherum.

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Nichtwissen

Als ich erst kurze Zeit im Schuldienst war, gab es einmal die Diskussion: Was macht der Lehrer, wenn er etwas nicht weiß? Der einzige "erfahrene" Pädagoge in diesem Kreise meinte: Der Lehrer solle nach seiner Meinung die Antwort geben, die er für richtig hält. Wenn er sich dann sachkundig gemacht hat, kann es sein, dass er recht hatte. Wenn nicht, müsse er versuchen, sich in der nächsten Unterrichtsstunde geschickt zu korrigieren. Das war eine Antwort, die uns nicht befriedigte.
Mir gefiel die Antwort eines 42jährigen Ingenieurs, für mich damals ein alter Mann, besser: Wenn ich etwas nicht weiß, dann mache ich mir gar nichts daraus, den Schülern zu sagen, dass ich überfragt bin und mich selbst erst erkundigen musst Und er fügte hinzu: Die Technik ist so vielfältig, da kann man nicht alles wissen! Dass der Lehrer etwas nicht weiß, darf ihm natürlich nicht jede Stunde dreimal passieren, sondern höchstens in drei Jahren einmal.

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Zum Schmunzeln

Es war kurz nach dem Kriege. Ich kam mit der Bahn zur Schule, aber an diesem Tage hatten die Züge Verspätung. Also kam auch ich zu spät. Einige meiner Schüler hingen im ersten Stock zum Fenster heraus und beobachteten, dass ich mit einer Bekannten kam, deren Weg zur Arbeit an unserer Schule vorbeiführte. Als ich dann ins Zimmer trat, sagte ein Schüler: "Wir wissen, warum Sie zu spät kommen taten. Weil Sie mit dem Fräulein kommen taten!" Heute mit zeitlich großem Abstand kann man über diese Formulierung schmunzeln. Im Grunde war es bedauerlich. Diese Jungen haben während des Krieges vielleicht die Hälfte der Zeit Unterricht gehabt, die vorgesehen war. Ihre Väter waren im Kriege, die Mütter in den Rüstungsbetrieben, die Schulklassen waren überfüllt, und durch Fliegeralarm und Bombennächte waren alle übermüdet und nervös. Wo soll da eine gepflegte Ausdrucksweise herkommen? Diese Verhältnisse darf man sich ruhig wieder einmal ins Gedächtnis rufen, um zu erkennen, wie gut es uns jetzt geht.

Eine meiner Schülerinnen, die aus dem Erzgebirge zum Unterricht kam, schlief mir eines Montags im Unterricht schier ein. Meine flotte Frage: "Wann bist Du denn heute früh ins Bett?" beantwortete sie verschlafen, aber treuherzig in ihrem Dialekt, den sie sonst freilich im Unterricht vermied: "I bi bluss hamm, ha mi umzugn!" (Ich bin bloß heim, hab mich umgezogen.) Wenn der Tanz zwei Dörfer weiter war, die Pärchen dann nach Hause bummelten und noch ein wenig herumknutschten, war es wirklich Zeit, sich umzuziehen und zur Bahn zu gehen.

In einer Zeichnerklasse waren neben den Mädchen auch ein Junge. Dass er mit einer Schülerin dieser Klasse befreundet war, wussten alle. Eines Tages fehlte der Junge, und das Mädchen kam zu spät. Auf meine schon bekannte Frage: "Wann bist Du denn heute früh ins Bett?" antwortete sie ganz empört: "Ja, gestern Abend mit dem Sandmann!" (Das Sandmännchen im Fernsehen kam von 18.50 bis 19 Uhr.) Und ich habe ihr empfohlen: "Geh Du mal lieber ohne Sandmann ins Bett!" Das löste verständlicherweise ein schallendes Gelächter in der Klasse aus.

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Leistungsstand

Im Jahre 1969 wurde ich nach Unterrichtsende aus der Schule von Herrn "Müller", angeblich von der "Nationalen Front" (Deckname der Stasi) zu einem Gespräch abgeholt. Dieses "Gespräch" dauerte für mich 21 Monate. Danach fand ich mich in der Bundesrepublik wieder.

Um diese Zeit hatte die Ausbildung in Chemnitz in bezug auf die Steuerung von Werkzeugmaschinen folgenden Stand: Die Schüler wussten, dass die Stellung des Werkzeuges zum Werkstück optisch über beschichtete Glasplattenlineale oder über runde Glasscheiben erfasst wurde, die von Kugelgewindespindeln angetrieben wurden. Die Schüler kannten das System der elektrischen Schaltung für die Bewegungen bei der Zerspanung: Zustellung, Arbeitsweg, Ausfahren, Rücktransport in die Ausgangsstellung, erneute Zustellung für den zweiten Span usw. Die Schüler wussten, wie es beim Fräsen funktionierte mit einem Taststift an einer Schablone entlang zu fahren und nach dieser ein Werkstück zu formen, und zwar am gesamten Umfang, also an allen vier Seiten! Eine Möglichkeit, das an einer Maschine auszuüben oder zu erlernen, hatten sie nicht. Das soll sich später geändert haben.

In Leonberg fuhr eines Tages eine Lehrmittelfirma vor, die in ihrem Kastenwagen ein kleines Modell einer Fräsmaschine hatte. Dieses Modell konnte ebenfalls mit Hilfe von Taststift und Schablone ein Werkstück auf allen vier Seiten bearbeiten. Ich habe dem Vertreter gesagt: "Dass dieses System funktioniert, können die Schüler sehen. Aber wie funktionierte es denn?" Und er musste gestehen, dass das mit diesem Modell nicht geklärt werden kann. Allerdings konnten die Schüler mit diesem Gerät selbst ein Werkstück fertigen und die Bedienung dieser Maschine üben.

Was letzten Endes besser ist, die Wirkungswiese von Steuerungen zu kennen, aber nicht fähig sein, sie praktisch zu nutzen, oder eine Maschine zu bedienen, ohne zu wissen, wie sie funktioniert, ist eine akademische Frage, die von der Praxis eindeutig beantwortet wird.
Wie viel Millionen Menschen bedienen heute einen Computer, haben aber nicht die geringste Ahnung, was in diesem Kasten vor sich geht? Ich gehöre übrigens auch dazu.

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Verwaltung

An einer meiner Schulen wurde über Jahre monatlich eine umfangreiche Aufstellung über den erteilten oder besser nicht erteilten Unterricht von der vorgesetzten Schulbehörde verlangt. Sie betraf nicht nur den Unterrichtsausfall der Klassen, sondern auch den der einzelnen Lehrer und die Fehlzeiten der Schüler. Diese Statistik kostete den stellvertretenden Schulleiter monatlich zwei Tage Arbeitszeit, Eines Tages wurde diese Aufstellung nicht mehr verlangt. Der Stellvertreter ist der Ursache dafür nachgegangen und musste feststellen: An der vorgesetzten Dienststelle hatte der Sachbearbeiter gewechselt, und der neue brauchte diese Statistik nicht mehr.
An einer Schule wurden wir Lehrer wöchentlich für 24,4 Unterrichtsstunden entlohnt. Selbstverständlich erteilten wir nur 24 Stunden. Die 0,4 Stunden je Woche summierten sich im Schuljahr bei 40 Unterrichtswochen zu 16 Stunden. Wenn ich z.B. einen Kollegen vertreten musste, machte der Schulleiter für jede meiner Vertretungsstunden in seiner Liste hinter meinem Namen einen Strich. Erst nach 16 Stunden wäre eine zusätzliche Bezahlung notwendig geworden. Mir ist nicht bekannt, dass dieser Fall jemals eingetreten ist.
An der anderen Schule hatte ich 23 Wochenstunden. Wenn eine Mau-Stunde (Mehr-Arbeits-Unterricht) anfiel, musste der Abteilungsleiter ein Formular DIN A4 ausfüllen. (Ich weiß nicht, wie viel Seiten.) Das wurde von der Schulleitung kontrolliert Dann ging es zur Kontrolle zum Oberschulamt und von da schließlich zur Rechnungsstelle, wo mein Gehalt bei der nächsten Auszahlung erhöht wurde. Wegen einer barfüßigen Mau-Stunde wurde an vier Schreibtischen gearbeitet.
Meine Frau war sowohl in Chemnitz als auch in Leonberg in Teilzeitarbeit im Schulsekretariat tätig. Sie stellte einmal fest: Wenn wir in Chemnitz das nicht gemacht hätten, was wir in Leonberg nicht machen, und wenn wir in Leonberg das nicht machten, was wir in Chemnitz nicht getan haben, hätten wir überhaupt nichts zu tun! Das ist freilich überspitzt formuliert.
Aus diesen Beispielen könnte man den peinlichen Schluss ziehen, dass es Verwaltungen recht gut verstehen, sich selbst zu beschäftigen. Wie gesagt: Man könnte!

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Einstimmung

Rudolf Diesel, der Erfinder des Dieselmotors, schreibt in seinem philosophischen Nachlass: "Grundsätzlich lernt der Mensch nur das, was ihn interessiert. Wenn die Pädagogen das berücksichtigen, können sie aus jedem Menschen etwas machen." Ganz so einfach geht das leider nicht. Abhängig von der Zeit, in der man lebt, sind die Interessensgebiete und damit die angestrebten Berufe doch recht einseitig. Und entsprechend tun sich die Lehrer manchmal schwer, ihren Schülern etwas beizubringen. Aufgabe der Lehrer ist es deshalb, zunächst einmal bei ihren Schülern das Interesse zu wecken, wenn es nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist.
Dazu dient die Einstimmung oder Hinführung.
Ich hatte einen begnadeten Kollegen, der nie um eine Einstimmung verlegen war. Das ging so: "Freunde, eine kleine Geschichte. Ein Mann wollte in seinem Hause die kleinen Dachkammern zu einer schönen Wohnung ausbauen. Er schob einen Balken mit einer losen Rolle aus dem Mansardenfenster und legte über die Rolle ein Seil. Am unteren Ende befestigte er eine alte Zinkbadewanne, zog sie hoch und band das Seil unten an einem Baum fest. Dann stieg er hoch und füllte die Wanne mit Bauschutt, ging wieder hinunter und band das Seil los. Allerdings war die gefüllte Wanne schwerer als er selbst. So zog es ihn hoch, während die Wanne herunterkam. Bei der Begegnung schürfte sie ihm die rechte Seite auf. Als er oben ankam, donnerte er mit dem Kopf gegen den Balken. Die Wanne schlug unten hart auf der Erde auf, so dass sich der Boden aus der Wanne löste. Jetzt war aber der fleißige Bauherr schwerer als der Rest der Wanne, also fuhr er abwärts. Bei der Begegnung mit der Wanne schürfte ihm der Mantel der Wanne die linke Seite auf. Unten angekommen atmete er tief durch und ließ das Seil los. Der Rest der Wanne kam herunter und fiel ihm auf den Kopf." Das war seine Einstimmung zur Lektion Lose Rolle/Flaschenzug. Ob die Schüler anschließend aufmerksam waren, weil sie nun unbedingt wissen wollten, wie das mit Rolle und Flaschenzug ist, oder nur aus Dankbarkeit für die schöne Geschichte, überlasse ich jedem selbst zu beurteilen.
Ein Lehrer stimmte seine Klasse in Heimatkunde mit der Aufforderung ein, sie sollten sich vorstellen, es wären Ferien und sie bestiegen in Schmilka an der Grenze zu Tschechien ein Paddelboot und führen elbabwärts nach Dresden. So glaubte er, die Schüler neugierig zu machen auf Bad Schandau, Königstein. Die Bastei, Pirna und schließlich dicht vor Dresden Pilinitz. Der alte Bekannte, der mir von dieser Einstimmung erzählte, meinte dazu, dass sein empfindsamer Enkel D. eine Stunde lang träumend auf dem Wasser schaukelt, Enten, Gänse, Schwäne, vielleicht einen aus dem Wasser springenden Fisch sieht, aber für das, was ihm der Lehrer beibringen wollte, ist er vollkommen abgemeldet.
Wohl dem Lehrer, der es versteht, seinen Unterricht so zu gestalten, dass seine Schüler aufmerksam sind. Aber für jede Lektion formal eine Einstimmung zu verlangen, halte ich nicht für einen guten Weg.
Einmal - ein einziges Mal - habe ich in meinem Lehrerleben beobachtet, wie eine Schülerin, als es am Ende einer Doppelstunde klingelte, erstaunt ihre Nachbarin anschaute und fragte: "Ist die Stunde schon um?" Das war eine Art Erfolgserlebnis, von dem man als Lehrer träumt.
Für den Fachunterricht an Berufsschulen halte ich die Einstimmung nicht für erforderlich. Die Schüler haben sich mit ihrer Berufswahl entschieden und nehmen die Themen, wie sie kommen. Und wenn man ansagt oder anschreibt "Passungen", dann schalten sie ihr Hirn darauf ein und denken: Also, los Alter! Was hast Du zu bieten? Fang mal an! Ich halte jetzt aber auf.

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Zusammenfassung

Nachtrag aus dem Lexikon:

Pedant ursprünglich Schulmeister
Kleinigkeits-, Umstandskrämer
Haarspalter
Silbenstecher
kleinlicher, peinlich genauer Mensch

Ein wenig davon darf der Lehrer wohl auch heute noch sein.

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Planwirtschaft

In Fragen der Ökonomie hatten die Partei (SED), die ja letztlich alles bestimmte, recht eigenartige Ansichten. So galt: "Was alle brauchen, muss billig sein!" Das kann man vielleicht beim Brot noch verstehen, doch war dadurch die Achtung vor dem täglichen Brot nicht hoch, so dass es auch zum Füttern von Kleintieren verwendet wurde. Es war ja billiger als Körner, die sowieso kaum zu beschaffen waren.

Alle brauchten auch elektrischen Strom, deshalb kostete die Kilowattstunde 0,08 M, also acht Pfennig! Wer soll da auf den Gedanken kommen, Strom zu sparen? Bei einem Besuch in der Tschechoslowakei fand ich im Hotelzimmer in Prag zwei Lampen vor. Wenn man einschaltete, brannte die Raumbeleuchtung. Schaltete man weiter, brannte die Lampe über dem Waschbecken. In der nächsten Schalterstellung waren beide Lampen aus. Die Schaltstellung, dass beide Lampen zugleich brannten, gab es nicht, Der Strom war teuer! Entsprechend waren Kühlschränke und Waschmaschinen keine Mangelware, wie in der DDR. Sie standen in den Geschäften herum, aber ihre Verwendung im Haushalt kostete viel Geld.
Öffentliche Nahverkehrsmittel brauchten in der DDR auch alle. Demzufolge kostete die Straßenbahnfahrt in Chemnitz, ohne Rücksicht auf die Länge der Strecke 0,15 M. Die längste Strecke führte vom Zeisigwald durch die Innenstadt und die früher selbständigen Ortsteile Schönau und Siegmar über 12 km bis nach Reichenbrand; und das für 15 Pfennig! Ich selbst fuhr mit der Reichsbahn eine Strecke von 9 km zur Schule. Preis für die Wochenkarte, mit der ich täglich so oft fahren konnte, wie ich wollte: 1,60 M!

Wasser braucht auch jeder. Den Preis dafür weiß ich nicht mehr, aber er war so gering, dass ihn keiner beachtete. Und wenn die Dichtung im Spülkasten defekt war und ständig ein Rinnsal Wasser durch das Klo lief, interessierte das niemand. Ähnliches galt für die Heizung in den Plattenbauten, die Wärme kam aus zentralen Heizkraftwerken. Wenn es am Heizkörper schon ein Ventil gab, stand es immer offen; denn man zahlte ja Warmmiete. Die Temperaturregelung erfolgte über die Fenster. Und an Miete zahlte man 1,- M pro Quadratmeter. Dass davon kein Haus instandgehalten werden konnte, erklärt den verkommenen Zustand der Häuser nach vierzig Jahren sozialistischer DDR.

Über soviel ökonomischen Unfug kann man nur den Kopf schütteln. Und wenn man sich kritisch dazu äußerte, hatte man gleich wieder ein Häkchen mehr hinter seinem Namen! Nun fragt sicher mancher, wie denn der ganze Unfug bezahlt wurde? Da gab es sogenannte Luxusartikel, zu denen zählten Autos, Motorräder und Farbfernsehgeräte, die zu weit überhöhten Preisen angeboten und verkauft wurden. Die Preise für elegante Kleidung aus den "exquisit"-Läden und für Delikatessen aus den "delikat"-Geschäften dienten auch der "Abschöpfung" überschüssiger Kaufkraft.

Die Lehrausbilder der DDR haben festgestellt, im ersten Lehrjahr sind die Lehrlinge in Ordnung. Im zweiten Lehrjahr, wenn sie vor Ort in den Betrieb kommen, werden sie "verdorben". Mit anderen Worten, im ersten Lehrjahr haben sie die schönen Verse geglaubt, die ihnen die Ausbilder erzählt haben. Im Betrieb haben sie bald festgestellt, dass in der Planwirtschaft zwischen Wunsch und Wirklichkeit manche Lücke klafft.

Ich selbst war zu einem mehrmonatigen Lehrgang zur Vorbereitung auf das Unterrichtsfach Betriebsökonomie in Leipzig. Fast jede Woche fand eine Betriebsbesichtigung statt, und dort bekamen wir sinngemäß jedes Mal eine Ohrfeige für das, was man uns in der Theorie brav vorgegaukelt hatte.

So hatte das Gaswerk Leipzig einen Bedarf von täglich 30 Wagen Kohle. Und die bekam es auch. Die Kohle kam einmal aus dem Zwickauer Revier, einmal aus Lugau Oelsnitz, einmal aus Freital oder aus der CSSR, aus Polen oder der Sowjetunion und von dort jeweils aus unterschiedlichen Revieren. Nun hatte das Gaswerk seinerseits auch ein Plansoll an Gas, Koks, Teer und Benzol, dem es gerecht werden musste. Aber jede Kohle ist anders, die eine ist eine gute Gaskohle, die andere eine gute Koks oder Teerkohle. Sobald also die Wagen ins Betriebsgelände rollten, sprangen die Laboranten auf die Wagen, schnappten sich ein paar Kohlebrocken, um analysieren zu können, welcher Art Kohle heute angeliefert wurde. Und dann musste man mit viel Geschick den Produktionsprozeß so steuern, dass am Ende das geforderte Tagessoll erreicht werden konnte. Und dieses Spiel wiederholte sich täglich.

Im Reifenwerk Riesa war es ähnlich. Für die Produktion wurde Buna (Kunstkautschuk), Naturkautschuk und in kleinen Mengen neben Ruß noch Kolophonium, Stearinsäure und Schwefel benötigt. Das einzige, was beständig in gleicher Qualität vorlag, war der Buna. Naturkautschuk kam aus Ceylon, Guinea u.a. An Ruß gab es DDR-Ruß, polnischen Ruß, der besser war, und englischen Ruß, der war der beste. Auch die anderen Zutaten wechselten ständig in ihrer Qualität. Die kleinen Mengen Beimischungen wurden pro Charge auf Apothekenwaagen abgewogen, was eine Vorstellung davon gibt, mit welcher Genauigkeit gearbeitet werden musste. Bei ständig wechselnden Ausgangsstoffen war es ein Lotteriespiel, welche Qualität ein Reifen erreichen konnte. Deshalb wurde sicherheitshalber für Omnibusse die Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h beschränkt.

Dem gegenüber waren die Sorgen der Radeberger Exportbierbrauerei schon kleine Fische. Um die Prozesswärme zu erzeugen, wurden Brikett benötigt, und zwar Eierbrikett. Unter dem Werkhof war ein Förderband installiert, auf dem das Heizmaterial zum Kessel befördert wurde. Das Gitter über dem Schacht war einerseits so grob, dass Eierbrikett durchfallen konnten, andererseits noch so eng, dass Fahrzeuge darüber fahren konnten. Aber nach dem Motto: Brikett = Brikett wurden oft normale lange Brikett geliefert, und die mussten dann von Hand geschaufelt werden. - Für den Abtransport des Bieres wurden bei der Reichsbahn Wagen geordert für 7 Uhr. Die standen dann aber nachts um 2 Uhr schon auf dem Werksgelände. Vier Stunden Beladezeit waren frei, danach kostete es Standgebühr. Man möchte fast meinen, die DB lässt grüßen.

DKK Scharfenstein hatte einen jungen mutigen Werkleiter, der den Betrieb für die Herstellung von 3 Millionen Kühlschränken pro Jahr ausbauen wollte. Das wurde ihm von der Planungsbehörde nicht gestattet, weil das doch für 17 Millionen DDR- Bürger viel zu viel seien. Er musste den Ausbau des Werkes auf eine Leistungsfähigkeit von 1 Million Stück pro Jahr beschränken. Und dann bestellten die Russen zum Testen 1000 Kühlschränke in der Tschechei, und in der DDR je 1000 bei Nordstern und bei DKK. Ihre Wahl viel danach auf den Kühlschrank von Scharfenstein. Die gesamte Produktion ging von da an praktisch in die Sowjetunion bis auf einen geringen Anteil, der unter der Marke "Privileg" an westdeutsche Versandhäuser exportiert wurde. Für DDR-Bürger gab es keinen Scharfensteiner Kühlschrank mehr.

Fast in jeder Ausgabe der DDR-Zeitschrift "Kultur im Heim" war über einen längeren Zeitraum eine knapp 50 cm hohe Keramikfigur "Tänzerin in Ausgangsstellung" auf einem Kaminsims, einer Vitrine oder einem Sideboard zu sehen. Für diese Figur interessierten wir uns. Bei einer Nachfrage im Fachgeschäft sagte mir die Leiterin: "Ja, ich weiß, was Sie meinen. Das ist Lichte-Wallenstein. Ich komme demnächst zur Messe, da werde ich mich erkundigen!" Ich habe mich artig bedankt und mir gedacht: Zur Messe komme ich ja selbst. Und dort standen tatsächlich Kunst und Kitsch in ein und dem selben Raume, und die gewünschte Figur war dabei. Das Gespräch ergab, dass alle Waren über den Handel zu beziehen seien. Der Betrieb habe ein Soll von 31 Figuren je Monat. Das sei natürlich für Export und DDR eine bescheidene Produktionszahl. Ich habe noch einmal nachgehakt und erfuhr: Fehlerhafte, wertgeminderte Ware könne der Betrieb direkt verkaufen. "Was sind denn das für Fehler?" "Ach, das ist ganz unbedeutend, das sieht man kaum!" Also habe ich meine Anschrift dort gelassen. - Wir waren noch nicht darauf gefasst, so schnell kam ein Paket bei uns an. Statt des Ladenpreises von 106,- M für die Figur ganze 90,- M. Und wir haben den Fehler gesucht? Von dem Ladenpreis bekommt der Betrieb weniger Erlös als wenn er die "fehlerhafte" Ware selbst verkauft. Und wenn er mehr als 31 Stück offiziell liefert, wird sein Soll erhöht. Also bleibt nur eine Möglichkeit: Die Mehrproduktion hat "Fehler"!

Neben diesen Blüten staatlicher Planwirtschaft hatte die DDR natürlich auch Erfolge aufzuweisen, die selbst von Kennern in der Bundesrepublik geschätzt werden. So hatte die DR (Deutsche Reichsbahn) unter ihren elektrischen Lokomotiven über 200 Maschinen der Baureihe 143. Rein äußerlich ist sie ein rechteckiger Kasten und nicht gerade ein Musterbeispiel von Eleganz. Dennoch laufen diese Maschinen heute ausnahmslos in den alten Bundesländern! Und das hat drei Gründe:

  1. Diese Lokomotive ist in enger Zusammenarbeit zwischen Lokomotivführern und Konstrukteuren entstanden. Und der Arbeitsplatz im Führerhaus ist von der ergonomischen Gestaltung her das Beste, was man sich denken kann. Das beginnt mit der bequemen Sitzposition und reicht bis zur Anordnung von Schaltern, Hebeln, Kurbeln und Kontrollgeräten bis zur Halterung für Fahr- oder Streckenplane. Alles ist an der Stelle, wo man es erwartet, wo man es bequem einsehen und erreichen kann.
  2. Das Führerhaus ist voll klimatisiert. Da zieht es nicht durch alle Ritzen, wie bei anderen Maschinen, auf denen man sich den Rheumatismus holen kann.
  3. Diese E-Lok ist die einzige Maschine, die in der Lage ist, einen Dreiwagenzug innerhalb von 23 Sekunden aus dem Stand auf eine Geschwindigkeit von 100 km/h zu beschleunigen. Und damit kann sie auf Strecken mit vielen Haltstationen manche Verspätung aufholen. Es ist logisch, dass diese E-Lok im Westen begehrt ist!
Ein anderes Beispiel sind die Züge mit Doppelstockwagen, die seit einiger Zeit im Großraum Frankfurt/M. und Großraum München laufen. Sie bekommen nur gute Kritiken, denn sie sind die fünfte Generation dieser Konstruktion, da sind keine Kinderkrankheiten mehr drin. Und der Lokführer, der erstmals einen dieser Leichtbauzüge am Haken hat, schaut sich in der ersten Kurve um, ob alle Wagen angehängt sind?

Westliche Unternehmer, die sich nach der Wende für einen Betrieb in Mitteldeutschland interessiert haben, urteilten: "Beim Anblick dieses Betriebes sind wir erschrocken!" Und kein Journalist und keine Treuhand hat gefragt: "Weshalb oder wovor?" In Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) gab es das Fritz-Heckert-Werk. Es ist aus den Wanderer-Werken hervorgegangen, die manchem älteren Ingenieur noch ein Begriff sind. Dieses Werk galt bis zur Wiedervereinigung europaweit!!! als der modernste Betrieb zur Herstellung von Werkzeugmaschinen! Dass da westliche Interessenten erschrocken sind, welch leistungsfähiger Konkurrent da steht, ist leicht verständlich. Und wie wird man mit diesem Konkurrenten fertig? In den Augen der DDR-Bürger sah das so aus:

  1. Den "maroden" Betrieb für 1,- DM übernehmen.
  2. Kundenkartei mitnehmen.
  3. Die Auslandsmonteure erfassen, die, die Sprachen des Ostens sprechen.
  4. Den vorhandenen Maschinenpark plündern und auf dem Weltmarkt verschleudern.
  5. Millionen an Fördergeldern einstreichen.
  6. Mit tiefstem Bedauern feststellen, dass es trotz intensivster Bemühungen leider nicht möglich war, den Betrieb zu retten.
An der so gesehenen Art der Wiedervereinigung haben die Menschen in Mitteldeutschland noch zu kauen. Dafür sollte man Verständnis haben.

(s. auch: "Ich habe es erlebt")

1982 hatte ich Gelegenheit, über die Industrie- und Handelskammer an einem Besuch eines Automobilwerkes im süddeutschen Raum teilzunehmen. Und man zeigte uns natürlich den Stolz des Werkes, die Produktionshalle, wo Chassis und Karosserie als Grundeinheit gefertigt wurden. Die Werkhalle war ausschließlich ausgerüstet mit Maschinen vom Pressenwerk Erfurt. Da habe ich natürlich gleich während des Rundgangs gefragt, wie sie denn mit diesen Maschinen zufrieden sind. In Qualität und Arbeitsweise voll in Ordnung. Nur für die westdeutschen Arbeitsschutzbestimmungen waren sie angeblich zu laut. Deshalb hatte man an der Decke Schallschutzelemente aufgehängt. (Es gibt aber auch Kirchenschiffe mit sehr guter Akustik.)

Bei der abschließenden Aussprache habe ich bemerkt, dass ich ein krasses Missverhältnis festgestellt hätte. Es ist eine hochmoderne Fertigung, bei der praktisch in keiner Arbeitsphase ein Mitarbeiter seine Finger im Spiel hat. Die erforderlichen Bleche werden über Greifarme teils mit Saugnäpfen vom Stapel genommen und in die Presse eingelegt. Dieses Spiel wiederholt sich an jeder weiteren Maschine. Sobald wie möglich werden Teile zusammengeschweißt. Und am Ende ist die gesamte Karosse fertig. Und wenn man sich dieses Monstrum anschaut, ist es eine Firlefanz- Konstruktion, die jede klare Linie vermissen lässt. Da ist hier ein Winkelblech und da ein Abstandhalter, eine Versteifungsrippe, eine Querschiene usw.
Ich bekam zur Antwort, sie seien schließlich Technologen und meine Bemerkung beträfe die Konstruktion, für die sie nicht zuständig wären.

Schon in jungen Jahren hatte mir ein Fertigungsleiter gesagt: "Die jungen Ingenieure, die von der Fachschule kommen, wollen alle nur konstruieren. So habe ich mir einen dieser Leute aus dem Konstruktionsbüro als meinen Assistenten holen müssen. Als ich den nach vier Jahren wieder ins Konstruktionsbüro gelassen habe, hat der ganz anders konstruiert!" Das war logisch, denn der wusste ja inzwischen, wie ein Teil entsteht und wie man diesen Prozess durch kluge Konstruktion vereinfachen kann. Heute ist die Technologie fähig, praktisch jedes Teil zu fertigen, und sei es noch so kompliziert geformt. Eine andere Frage ist, ob es so komisch gestaltet sein muss? Das ist eine Frage an die Konstrukteure. Und ob Manager mit guten Zeugnissen in Betriebswirtschaftslehre, die aber weder von Konstruktion, noch von Technologie eine Ahnung haben, hier positiv einwirken können, wage ich zu bezweifeln. Stattdessen scheinen sie nur den Auftrag zu haben, der Profitmaximierung zu dienen, und erwecken bei manchem den Eindruck, kleinkarierte Pfennigfuchser zu sein.

Als die Kreisberufsschule Leonberg zum Beruflichen Schulzentrum ausgebaut wurde, entstanden mehrere Gebäude, in denen auch für die Schulleiter und für das Sekretariat neue Räume vorgesehen waren. Die Chefsekretärin mit jahrelanger Schulerfahrung hat den Architekten wegen der Gestaltung der neuen Büroräume angesprochen. Er hat sie nicht erst angehört, sondern gleich gesagt: "Ich baue Ihnen ein schönes Büro!" Kurze Zeit später hat sie ihn erneut angesprochen. Und ohne sich überhaupt anzuhören, was sie vorzuschlagen hatte, wurde sie wieder vertröstet: "Ich baue Ihnen ein schönes Büro! Ich baue Ihnen ein schönes Büro!" Am Ende war das Büro so "schön" und unpraktisch, dass die Sekretärinnen nicht umgezogen sind - und die Schulleiter auch nicht!
Ähnlich intelligent ist die Steuerung der Heizung in den Neubauten. Die Temperatur der Abluft wird gemessen und ausschließlich dadurch wird die Wärmezufuhr geregelt. Viele Klassenzimmer liegen nach Süden und praktisch ist die gesamte Front verglast. Wenn im Winter die Sonne scheint, heizen sich die Räume stark auf. Um die Räume nicht zu überhitzen, öffnet man die Fenster. Dadurch gelangt die kalte Frischluft in den Abluftkanal und befiehlt: Heizen!

Fehlleistungen hat es nicht nur in der sozialistischen Planwirtschaft gegeben, aber dort lassen sie sich jetzt natürlich leichter anprangern!

--zum Anfang--

Günther Reiche, Leonberg - Eltingen 2002

© infos-sachsen / letzte Änderung: - 17.07.2021 - 18:44