05.03.2022, 05.30 Uhr
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Es ist Montag, der 9. Dezember 2019, als sich Wladimir Putin und Wolodimir Selenski zum ersten Mal begegnen. Sie bekleiden das gleiche Amt, teilen die Muttersprache und den Vornamen; beide haben Jura studiert, beide sind eher kleingewachsen. Wolodimir Selenski, 41, trifft an diesem Wintertag pĂŒnktlich in einem recht bescheidenen Renault vor dem Pariser ĂlysĂ©e-Palast ein; lĂ€chelnd eilt er ĂŒber den Innenhof auf den französischen StaatsprĂ€sidenten Emmanuel Macron zu, der zu diesem Ukraine-Gipfel geladen hat. Wladimir Putin, 68, fĂ€hrt in einer gepanzerten russischen Luxuslimousine vor; er ist ein paar Minuten zu spĂ€t und steigt mit unbewegtem Gesicht aus. Ein paar Tage zuvor hat er gesagt, er glaube, Selenski sei ein netter und ehrlicher Mann.
Der Gipfel in Paris, an dem neben Macron auch Angela Merkel teilnimmt, ist das erste Treffen zwischen Russland und der Ukraine seit 2016. WĂ€hrend Putin seit zwanzig Jahren ĂŒber sein Land herrscht, ist Selenski gerade einmal sechs Monate im Amt. Sein VorgĂ€nger, Petro Poroschenko, hat ihm von einem Treffen abgeraten, besonders von einem unter vier Augen. "Traue Putin nicht. Niemals und in nichts", hat er geschrieben, "Putin manipuliert alles: Inhalte, Fakten, Zahlen, Karten, Emotionen. Er hasst die Ukraine und die Ukrainer."
Am Abend geben die vier StaatsoberhĂ€upter die Ergebnisse des Gipfels bekannt. Putin und Selenski sitzen sich am runden Tisch gegenĂŒber, in maximaler Distanz. Neun Stunden haben die GesprĂ€che gedauert, eine knappe Stunde davon waren Putin und Selenski allein und rangen sich gegenseitig einige ZugestĂ€ndnisse ab: Waffenruhe, Gefangenenaustausch, teilweiser TruppenrĂŒckzug. FĂŒr einen Moment scheint es, als kĂ€me Selenski seinem grössten Wahlversprechen wenigstens ein bisschen nĂ€her: einer Beruhigung der Lage in der Ostukraine.
Doch es kommt anders. Zwei Jahre nach dem Pariser Gipfel stehen sich die beiden MĂ€nner in einem Krieg gegenĂŒber, der die Welt verĂ€ndern wird. Nichts in ihrer Biografie verriet, dass sie je zusammenkommen sollten, doch nun haben sich die Wege des KGB-Agenten und des Komikers auf fatale Weise gekreuzt.
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1952 Wladimir Putins Geburt grenzt an ein Wunder. Bevor er am 7. Oktober in einer 20 Quadratmeter grossen Wohnung in Leningrad auf die Welt kommt, glauben seine Mutter und sein Vater nicht mehr daran, Eltern zu werden. Putins Mutter ist ĂŒber vierzig und traumatisiert von der 900-tĂ€gigen deutschen Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg. Sein Vater kĂ€mpfte an der Front und ist Kriegsinvalide. Zwei Söhne haben die Putins schon beerdigen mĂŒssen, der erste war noch ein Baby, als er starb.
Im Alter von sechs Wochen lĂ€sst die Mutter ihren Sohn Wladimir heimlich in einer russisch-orthodoxen Kirche taufen, sein Vater darf das als ĂŒberzeugter Atheist und Kommunist nicht erfahren. Es ist Putins erstes Geheimnis, viele weitere RĂ€tsel werden ihn sein ganzes Leben lang umranken. Putin wĂ€chst als Einzelkind in einem fĂŒnfstöckigen Wohnblock in der Innenstadt auf. KĂŒche und Bad teilt die Familie mit den Nachbarn. Der Vater arbeitet in einer Eisenbahnwagenfabrik, der Grossvater hat fĂŒr Lenin und Stalin gekocht.
Sofern denn alles stimmt, was in Putins Autobiografie steht. Immer wieder kursiert das GerĂŒcht, Putin sei der uneheliche Sohn einer Frau aus Georgien, wo er aufgewachsen sei, bevor sie ihn mit neun Jahren weggegeben habe. Bei Putin weiss man nie genau, was Legende ist und was Wahrheit.
1961 Im November strahlt das sowjetische Fernsehen erstmals eine Sendung mit dem Namen "KWN" aus, ein russisches KĂŒrzel fĂŒr den Namen "Klub der Witzigen und Einfallsreichen". In der Show treten Studenten mit Sketchen, Improvisationen und Musikdarbietungen gegeneinander an. Wer gewinnt, kommt eine Runde weiter. Die HumorwettkĂ€mpfe sind ein riesiger Erfolg. Bald werden an UniversitĂ€ten in der ganzen Sowjetunion Qualifikationsturniere ausgetragen - auch in der Ukraine; nur die besten Teams schaffen es ins Fernsehen.
1962 "Ich war ein kleiner Gauner", sagt Wladimir Putin ĂŒber sich als Kind. Er prĂŒgelt sich auf dem Schulhof, einmal bricht er einem Klassenkameraden ein Bein, weil der schlecht ĂŒber seine Lehrerin redet. Putin mag sie, weil sie ihm gratis Nachhilfeunterricht gibt. Die Lehrerin sagt: "Als Kind war Putin nicht krĂ€ftig, aber sehr frech. Er wollte immer beweisen, dass er den anderen ĂŒberlegen ist." Sie hat ein Foto aufbewahrt, das Putin als ZehnjĂ€hrigen mit nacktem, schmĂ€chtigem Oberkörper zeigt, die Arme angewinkelt wie ein Bodybuilder. Auf dem Bild sind auch lange schwarze Haare zu sehen, die ihm verliebte SchulmĂ€dchen geschenkt haben.
Ein Jahr spĂ€ter besucht Putin eine Kampfsportschule im Hinterhof einer Fabrik und lernt Judo. Sein Trainer ist von seiner HartnĂ€ckigkeit und Zielstrebigkeit beeindruckt. "Er gab nie auf." Putin wird Stadtmeister und trĂ€gt spĂ€ter den schwarzen GĂŒrtel.
Russian Archives / Imago
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1964 Ein Mann namens Alexander Masljakow ĂŒbernimmt die Moderation des "Klubs der Witzigen und Einfallsreichen", den er auch heute noch leitet - mehr als fĂŒnfzig Jahre spĂ€ter. Masljakow wird ein Vertrauter Putins werden. Selenski hingegen, den berĂŒhmtesten Komiker, den die Shows hervorbringen werden, wird der PrĂ€sident Russlands zum Todfeind erklĂ€ren.
1968 Putin ist sechzehn Jahre alt, als er im Kino den Film "Schild und Schwert" ĂŒber einen sowjetischen Agenten in Nazideutschland sieht. Am nĂ€chsten Tag begibt er sich zur Leningrader KGB-Zentrale, weil er auch Spion werden möchte. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes rĂ€t ihm, Jura zu studieren und sich dann wieder zu melden.
1972 Nach den ersten erfolgreichen Jahren greift die Zensurbehörde in das Programm der "KWN"-Shows ein. Die WettkĂ€mpfe dĂŒrfen nicht mehr live stattfinden, sondern mĂŒssen aufgezeichnet werden - so können nicht genehme Scherze herausgeschnitten werden. Die Liste der verbotenen Themen wird immer lĂ€nger; schliesslich dĂŒrfen sich Teilnehmer nicht einmal mehr einen Bart ankleben, weil sich das als Seitenhieb gegen Marx deuten liesse. 1972 wird der "Klub der Witzigen und Einfallsreichen" eingestellt.
1975 Putin schliesst sein Rechtsstudium ab und wird vom KGB angeworben. Er wird Mitarbeiter bei der Auslandabteilung. Der Agent, der ihn rekrutiert, erzĂ€hlt einmal, Putin habe zuerst lĂ€cheln lernen mĂŒssen, um die Menschen fĂŒr sich zu gewinnen. Doch er lernt schnell. Als ihn seine spĂ€tere Frau Ljudmila, eine Stewardess, fragt, was er beruflich mache, antwortet er: "Ich bin ein Experte fĂŒr menschliche Beziehungen." Im KGB lernt Putin, seine GefĂŒhle zu verbergen, andere zu manipulieren und seine Absichten zu verheimlichen. Er ist gut darin. Als er Ljudmila 1983 einen Heiratsantrag macht, glaubt sie zuerst, er wolle sich von ihr trennen.
Deutsches Bundesarchiv
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Bulvar Gazeta
1978 26 Jahre nachdem das Ehepaar Putin seinen langerwarteten Sohn Wladimir getauft hat, kommt ein jĂŒdisches Paar namens Selenski 1300 Kilometer weiter sĂŒdlich auf die gleiche Idee: Ihr Sohn soll Wolodimir heissen, was "gross in seiner Macht" bedeutet. Wolodimir wird am 21. Januar in der russischsprachigen Industriestadt Kriwi Rih in der Ukraine geboren; noch gehört die Republik zur Sowjetunion. Sein Vater ist Professor fĂŒr Kybernetik, seine Mutter Ingenieurin. Der Grossvater vĂ€terlicherseits hat im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekĂ€mpft. Der Urgrossvater von Wolodimir und zwei seiner Grossonkel wurden als Juden im Holocaust ermordet.
In seiner Kindheit sieht Wolodimir Selenski seinen Vater selten. Der arbeitet zwanzig Jahre lang vor allem in der Mongolei, wo er ein Institut fĂŒr Bergbau aufbaut. Vier Jahre verbringen auch der kleine Wolodimir und seine Mutter in der mongolischen Stadt Erdenet. Das Leben ist entbehrungsreich. Selenski erinnert sich, wie er weinte, als seine Mutter nach endlosem Anstehen fĂŒr eine Wassermelone leer ausgegangen war. "Macht nichts. NĂ€chsten Monat bekommen wir neue", hatte der VerkĂ€ufer ihr gesagt.
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1985 Das KGB schickt Putin "als Agent der zweiten Reihe" nach Dresden. Seine Dienststelle liegt in einem der schönsten Villenviertel der Stadt. Putins wichtigste Aufgabe ist es, auslĂ€ndische Studenten fĂŒr die sowjetische Sache anzuwerben. Er mag das Essen und das Bier, nimmt zwölf Kilogramm zu und lernt ausgezeichnet Deutsch. Als der frĂŒhere deutsche Kanzler Gerhard Schröder viele Jahre spĂ€ter zum ersten Mal mit Putin telefoniert, glaubt er, der Dolmetscher des Kremls sei am Apparat.
Oberstleutnant Putin bleibt vier Jahre in Dresden, eine seiner beiden Töchter wird hier geboren. Er hĂ€tte sich vorstellen können, auch noch lĂ€nger zu bleiben. Doch die Weltgeschichte kommt dazwischen. Als das DDR-Regime 1989 in sich zusammenfĂ€llt, belagern am 5. Dezember Demonstranten die KGB-Residentur. Sie halten das GebĂ€ude fĂŒr ein Haus der Stasi. Als Putin ans Tor geht, wollen sie wissen, wer er sei. "Ich bin der Dolmetscher", sagt Putin. Daraufhin habe sich die Menge friedlich aufgelöst. In anderen Berichten hingegen heisst es, Putin habe den Menschen damit gedroht, zu schiessen.
1990 kehrt Putin nach Leningrad zurĂŒck und denkt zuerst ĂŒber eine Karriere als Taxifahrer nach. Den Zusammenbruch der Sowjetunion, der auf den Kollaps der DDR folgt, bezeichnet er spĂ€ter als "die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts".
Bulvar Gazeta
1993 Selenski wĂ€chst in einem der besseren Viertel von Kriwi Rih in einem Wohnblock auf. Die Stadt hat ein Gewalt- und Drogenproblem, Jugendbanden ziehen mit selbstgebauten Waffen durch die Strassen. Aber Selenski gehört nicht zu den Gangs, er zĂ€hlt zu den Dandys der Stadt und trĂ€gt einen Ring im linken Ohr. In seiner Clique hört man englische Bands, macht Strassenmusik und schaut sich westliche Filme an. Eine besonders begehrte Jeans teilt er sich mit einem Freund. Sie tragen sie abwechslungsweise zu Verabredungen mit MĂ€dchen. Viele der Freundschaften, die Selenski in dieser Zeit knĂŒpft, halten bis heute.
Im Zuge der neuen Freiheiten unter Perestroika und Glasnost sind die HumorwettkÀmpfe des "KWN" auferstanden - mit dem gleichen Moderator, Alexander Masljakow. Mitte der 1990er Jahre beteiligt sich auch der siebzehnjÀhrige Selenski daran. Noch spielt er in der unteren Liga.
Selenski wollte wĂ€hrend der Schulzeit Diplomat werden. Schliesslich entscheidet er sich fĂŒr Jura. Als er sich um den Studienplatz bewirbt, reist sein Vater in die Mongolei, damit er als einflussreicher Professor nicht in den Verdacht gerĂ€t, seinem Sohn einen Vorteil zu verschaffen. Was Selenski am Beruf des Anwalts reizt, ist die Theatralik: die grossen Auftritte, die geschliffenen Reden, die Inszenierung, die er aus westlichen Filmen kennt.
Doch als er merkt, wie wenig seine Vorstellung mit der RealitÀt zu tun hat, widmet er den Ausscheidungen des "KWN" mehr Zeit. Er spielt, choreografiert, und er schreibt Sketche und Lieder, immer auf Russisch. Einerseits wird das von den Organisatoren so erwartet, andererseits beherrscht Selenski Russisch ohnehin besser als Ukrainisch.
1997 Selenski und seine Komikertruppe schaffen es in den Olymp der russischen Fernsehunterhaltung. Nachdem sie einen wichtigen Wettkampf gewonnen haben, lĂ€dt sie der Moderator Alexander Masljakow regelmĂ€ssig ein, beim "KWN" anzutreten. Das Ensemble nennt sich nun Kwartal 95 - nach dem Quartier 95, in dem er und viele seiner Freunde zur Schule gegangen sind. Die Theaterleute leben sechs Jahre lang hauptsĂ€chlich in Moskau. FĂŒr WettkĂ€mpfe reisen sie in die postsowjetischen Staaten. Auch Selenskis Freundin Olena gehört zu Kwartal 95, sie schreibt Texte.
Horlushko Valdemar / Imago
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Die beiden sind sich auf dem Heimweg vom Kino begegnet. Jahrelang hatten sie Parallelklassen am Gymnasium besucht, einander aber nicht gekannt. Es dauerte dann eine Weile, bis Selenski einen Vorwand fand, um an Olenas Telefonnummer zu kommen. Erst als sie ihm das Video von "Basic Instinct" auslieh, ergatterte er die Nummer. Er habe sich, sagt er spÀter, einfach unsterblich in diese Frau verliebt, die heute die First Lady der Ukraine ist.
1999 WĂ€hrend Selenski in den ehemaligen Sowjetrepubliken gegen andere Komiker kĂ€mpft, fĂŒhrt Putin in Tschetschenien seinen ersten Krieg. Er ist gerade MinisterprĂ€sident geworden, und er geht in diesem Konflikt so brutal vor, wie er ĂŒber ihn spricht. "Wir werden die Terroristen ĂŒberall verfolgen", sagt er. "Wenn sie, Entschuldigung, auf der Toilette sind, werden wir sie auf dem Klo kaltmachen." Putin ist damals ein noch unbekannter Politiker. Der Krieg macht ihn populĂ€r. Wenige Monate spĂ€ter wird er zum PrĂ€sidenten gewĂ€hlt.
2000 Im Kreml kehren die alten Zeiten zurĂŒck. Bei Zeremonien wird wieder die Sowjethymne gespielt. Putin will das so. Er unterschreibt eine Gesetzesvorlage, so dass in der Silvesternacht im Jahr 2000 zum ersten Mal nach neun Jahren wieder die Melodie ertönt, die 1944, zu Zeiten Stalins, eingefĂŒhrt worden war. Ohne die alte Hymne, erklĂ€rt Putin, hĂ€tten "unsere MĂŒtter und VĂ€ter umsonst gelebt".
Putin ist mit 48 Jahren der mĂ€chtigste Mann Russlands. Er bleibt es auch, als er 2008 mit Dmitri Medwedew fĂŒr vier Jahre die Ămter tauscht und offiziell nur noch MinisterprĂ€sident ist. Putin trifft fĂŒnf amerikanische PrĂ€sidenten, vier Mal erklĂ€rt ihn das Magazin "Forbes" zum mĂ€chtigsten Mann der Welt. Nach einer VerfassungsĂ€nderung im Jahr 2020 könnte er bis 2036 russischer PrĂ€sident bleiben.
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Es ist ein Amt mit Macht, aber kein besonders gut bezahltes. Als PrÀsident verdient er laut dem Kreml nur etwas mehr als 130.000 Dollar. Offiziell besitzt er eine 77 Quadratmeter grosse Wohnung und eine 18 Quadratmeter grosse Garage sowie drei Autos. Es kursieren immer wieder Berichte, wonach Putin ein Milliardenvermögen besitzt.
2001 Zwei Wochen nach den TerroranschlÀgen vom 11. September steht Wladimir Putin in einem etwas zu grossen Sakko am Rednerpult des Deutschen Bundestages in Berlin. Putin beginnt auf Russisch und fÀhrt dann auf Deutsch fort: "Die Welt befindet sich auf einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertrauensklima, und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Grosseuropa möglich."
Putin spricht in seiner halbstĂŒndigen Rede von einem demokratischen, marktwirtschaftlichen Russland. Wie Selenski kĂ€mpft er von der BĂŒhne herab um die Gunst der Zuschauer, und wie Selenski feiert er einen Erfolg damit. Die deutschen Abgeordneten klatschen stehend Beifall.
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2003 Selenski ĂŒberwirft sich mit dem mĂ€chtigen Moderator von "KWN", Alexander Masljakow, nachdem dieser ihn aufgefordert hat, einige politisch gewagte Scherze aus seinem Programm zu nehmen. Daraufhin kehrt Selenski mit seiner Truppe in die Ukraine zurĂŒck.
Nachdem er sich mit Olena einen Film im Kino angeschaut hat, in dem die Protagonisten Eltern sind, macht er seiner Freundin spontan einen Antrag. Die beiden heiraten im gleichen Jahr und bekommen ein Jahr spÀter eine Tochter, die sie Aleksandra nennen; neun Jahre spÀter wird ihr Sohn Kiril zur Welt kommen.
112.ua
Aus Kwartal 95 wird in der Ukraine das Studio Kwartal 95, eine Produktionsfirma, die die Welt mithilfe von Humor und KreativitĂ€t in einen freundlicheren Ort verwandeln soll, wie Selenski schreibt. Die Shows brechen bald sĂ€mtliche Rekorde. In den folgenden Jahren produziert die Firma Dutzende von AuffĂŒhrungen und Komödien fĂŒrs Fernsehen, oft mit Selenski als Star. Allen ist gemeinsam, dass sie russisch gesprochen sind, denn sie richten sich nicht nur ans ukrainische, sondern auch ans russische Publikum.
Selenski nennt Monty Python als Vorbild, allerdings seien seine Sketche eher an Benny Hill angelehnt: ein recht derber Unterschichthumor. In einem legendÀren Sketch spielt Selenski zum Beispiel Klavier mit seinem Penis - so sieht es zumindest aus. Aber er verÀppelt in seinen Satiresendungen auch Politiker und Oligarchen und geht oft an die Grenzen dessen, was in der Ukraine sagbar ist.
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2007 An einem Abend im Februar schlĂ€gt der frĂŒhere bayrische MinisterprĂ€sident Edmund Stoiber Wladimir Putin vor, zusammen eine Brotzeit zu essen. Putin probiert in einem MĂŒnchner Hotel alle Wurstsorten. Dann sagt er geheimnisvoll zu Stoiber: "Morgen werde ich ganz grundsĂ€tzlich werden." Es ist der Vorabend der MĂŒnchner Sicherheitskonferenz, und Putin hat nicht zu viel versprochen. In seiner Rede kritisiert er die "monopolare Weltherrschaft" der USA und die Osterweiterung der Nato. Im Saal schauen sich die Zuhörer fragend an. Warum diese scharfe Angriffsrede? Und weshalb gerade jetzt? Putins Sprecher nennt die Ansprache spĂ€ter "einen Alarmruf".
2008 Im August fĂŒhrt Russland wieder Krieg, diesmal ausserhalb seiner Grenzen. Putin nennt die MilitĂ€roperation in Georgien "Erzwingung des Friedens". Der Konflikt dreht sich um die Regionen SĂŒdossetien und Abchasien. Der Krieg dauert fĂŒnf Tage. Als er vorbei ist, spricht der Moderator der deutschen "Tagesschau" Putin in einem Interview auf seine nĂ€chsten Ziele an. Putin empfindet die Frage als Provokation und kommt dann auf die ukrainische Halbinsel Krim zu sprechen. "Es ist meiner Meinung nach nicht korrekt, von irgendeinem nĂ€chsten Ziel zu sprechen. Die Krim ist kein umstrittenes Territorium (...). Russland hat lĂ€ngst die jetzigen Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt."
2009 Putins Selbstinszenierungen als strammer Naturbursche und unerschrockener Hansdampf in allen Gassen erfolgen in so hoher Kadenz, dass man leicht den Ăberblick verliert. Fand die Fahrt auf der Harley vor dem Tauchgang im U-Boot statt? Und wann hat er schon wieder den Waldbrand gelöscht? Die Bildagentur Reuters fĂŒhrt eine Fotogalerie unter dem Titel "Putin's macho image". Ein Bild, das zur Ikone wurde, zeigt ihn im Sommer 2009 mit freiem Oberkörper auf einem Pferd. Ein Mann, ein Pferd, die Wildnis. Der Marlboro-Mann auf Russisch.
Putin liess sich bei seinem Abenteuerurlaub in Sibirien wie ĂŒblich von Fotografen begleiten. Die hielten ihn beim Feuermachen fest, beim Bad im Bergsee und mit der Angelrute. Doch es war das Bild auf dem Pferd, das in Erinnerung blieb.
Als Donald Trump 2017 amerikanischer PrĂ€sident wird und sich bei Putin einschmeichelt, erinnert sich ein Grafiker an den Film "Brokeback Mountain" ĂŒber zwei homosexuelle Cowboys und montiert Donald Trump hinter Putin aufs Pferd, ebenfalls mit entblösstem Oberkörper.
Eine amerikanische Late-Night-Show produziert einen kurzen Trickfilm mit Putin und Trump auf einem rosa Einhorn. "Putin goes Brokeback Mountain" gibt es als Poster, T-Shirt oder Tasse. Ausgerechnet Putin wird so zur ironischen Schwulenikone gemacht. Und das, obwohl Homosexuelle in Russland ein schweres Leben haben, unter anderem weil eine moderne SexualaufklÀrung an den Schulen verboten ist. Selenski hingegen denkt in dieser Hinsicht fortschrittlich, in seinen Shows tritt er auch mal als Frau verkleidet oder in Stöckelschuhen und Latex auf.
2010 An einem Wochenende im Sommer fĂ€hrt Putin mit einer wuchtigen, dreirĂ€drigen Harley Davidson ĂŒber eine staubige Landstrasse auf der Halbinsel Krim. Er ist schwarz gekleidet, trĂ€gt eine Sonnenbrille, fingerlose Lederhandschuhe und keinen Helm. Begleitet wird er von einem Tross russischer Biker des Rockerklubs "Wölfe der Nacht". Mit den russischen Fahnen an ihren SĂ€tteln sieht die Parade aus wie die Vorahnung einer Invasion. Und das ist sie auch.
Leopolis / AFP
2012 Alle Produktionen von Kwartal 95 werden nun auf dem beliebten Fernsehsender 1+1 gezeigt, der nach einem Machtkampf ein paar Jahre zuvor dem ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomoiski gehört. Kolomoiski ist einer der reichsten MĂ€nner des Landes und gilt als skrupellos. Er wurde verdĂ€chtigt, einen Mord an einem Anwalt in Auftrag gegeben zu haben. Ausserdem heisst es, er schĂŒchtere Gegner ein, indem er wĂ€hrend Besprechungen seinen fĂŒnf Meter langen Hai fĂŒttere, den er in einem Aquarium in seinem BĂŒro halte. Mithilfe von Kolomoiskis Sender erreicht Selenskis PopularitĂ€t in der Ukraine einen neuen Höhepunkt, und auch bei den Russen, fĂŒr die er noch immer produziert, laufen seine Shows und Filme mit grossem Erfolg.
In den kommenden Jahren verbringen die beiden MĂ€nner immer mehr Zeit miteinander, zum Beispiel auf den Malediven, wo mehrere Mitglieder der Komikertruppe mit dem Oligarchen Ferien machen. "Ich bin gern mit lustigen Menschen zusammen", sagt Kolomoiski dazu.
2013 Nach dreissig Ehejahren geben Putin und seine Frau in der Pause einer BallettvorfĂŒhrung beilĂ€ufig ihre Scheidung bekannt. Auf der BĂŒhne im Grossen Kremlpalast wird das StĂŒck "La Esmeralda" gespielt, Putin und seine Frau verlassen den Saal, um ein Interview zu geben. Als er gefragt wird, ob die TrennungsgerĂŒchte wahr seien, lĂ€chelt er Ljudmila zu und sagt: "Ja, das stimmt." Das letzte russische Staatsoberhaupt, das sich im Amt scheiden liess, war Peter der Grosse - vor ĂŒber 300 Jahren. Auf der offiziellen Website des Kremls mit den Biografien russischer PrĂ€sidenten gibt es keinen Hinweis mehr auf Putins Ehe mit Ljudmila.
2013 Es sieht aus, als wĂŒrde Obelix Asterix umarmen. GĂ©rard Depardieu geht mit ausgebreiteten Armen auf Wladimir Putin zu, legt dem halb so schweren russischen PrĂ€sidenten die Arme um den Körper und drĂŒckt ihn fest an seinen riesigen Bauch.
Putin hat den französischen Schauspieler, der unter anderem fĂŒr seine Rolle als Obelix bekannt wurde, im Januar zu einem kurzen Besuch auf sein Anwesen am Schwarzen Meer eingeladen. Die beiden haben etwas zu feiern: Depardieu hat per Dekret des PrĂ€sidenten die russische StaatsbĂŒrgerschaft erhalten und holt seinen neuen Pass ab. Die EinbĂŒrgerung geschieht aus Protest gegen die hohen Einkommenssteuern, die in Frankreich drohen - aber dann doch nicht kommen.
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Putin ist voller VerstĂ€ndnis: "KĂŒnstler sind leicht zu krĂ€nken, und deshalb verstehe ich die GefĂŒhle von Herrn Depardieu." Dieser bedankt sich mit einem schwelgerischen Brief, in dem er schreibt, wie sehr er "Russland, seine Menschen, seine Geschichte und seine Schriftsteller" liebe, und das Land als "grosse Demokratie" bezeichnet.
Depardieu ist Teil einer kleinen Gruppe von prominenten Sonderlingen aus dem Westen, die Putin als grossen Staatsmann verehren und seine Machtpolitik verteidigen. Wer wissen will, wer dazugehört, braucht bloss die Liste der Personen durchzugehen, die in der Ukraine ein Einreiseverbot haben: Neben Depardieu stehen da noch der Filmschauspieler Steven Seagal, der SchlagersĂ€nger Al Bano und der Rapper Fred Durst, der Frontmann der amerikanischen Band Limp Bizkit. Depardieu hat ĂŒbrigens auch eine Adresse in Russland. Seine Wohnung liegt an der Demokratiestrasse 1 in Saransk.
2013 Im November flammen in Kiew Proteste gegen PrĂ€sident Wiktor Janukowitsch auf. Auslöser ist, dass seine Regierung das Assoziierungsabkommen mit der EuropĂ€ischen Union ĂŒberraschend nicht unterzeichnen will. Der Grund sind politischer Druck und angedrohte Wirtschaftssanktionen von Russland gegen die Ukraine. Weil die Demonstrationen oft auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Platz der UnabhĂ€ngigkeit, stattfinden, heisst der Volksaufstand bald schon Euromaidan. Er endet im Februar 2014 mit ĂŒber achtzig Todesopfern und der Flucht Janukowitschs. FĂŒr Russland ist der Euromaidan ein weiteres Zeichen dafĂŒr, dass die Ukraine dem Einfluss aus Moskau entgleitet.
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2014 In den frĂŒhen Morgenstunden des 23. Februar 2014, am Tag der Schlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi, gibt Putin den Auftrag, mit der "RĂŒckholung" der Krim zu beginnen. Ein paar Monate spĂ€ter sagt ein hoher Kreml-Beamter in der Euphorie nach der Annexion: "Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Kein Putin, kein Russland."
2014 Im August postet Selenski ein Bild auf seiner Facebook-Seite, das ihn umringt von ukrainischen Soldaten in der Hafenstadt Mariupol zeigt. Die Stadt liegt weit im Osten des Landes, wo die Ukraine und Russland einen Krieg um Land fĂŒhren. Darunter schreibt er: "Wir sind stolz, mit euch im gleichen Land zu leben." Selenski ist fĂŒr einen Auftritt an die Front gereist, um die Soldaten im Kampf gegen Russland zu unterstĂŒtzen.
Gleichzeitig tut er etwas, was ihm schwere Kritik von Moskau einbringt: Seine Produktionsfirma spendet eine Million Hrywna, damals etwa 70 000 Franken, an die ukrainische Armee. Es ist das Zeichen, dass er mit Russland endgĂŒltig gebrochen hat. Kwartal 95 produziert nun auch nicht mehr fĂŒr den dortigen, viel lukrativeren Markt. Nach eigenen Angaben war Selenski seither nie mehr im Nachbarland.
2015 Wenn in den GeschichtsbĂŒchern der Zukunft eine Fernsehserie erwĂ€hnt werden wird, dann jene, die am 16. Oktober 2015 abends auf dem ukrainischen Kanal 1+1 Premiere hatte. Die Politkomödie "Diener des Volkes" dreht sich um den Lehrer Wasil Holoborodko, der bei einer Schimpftirade gegen die Korruption in seinem Land von einem SchĂŒler heimlich gefilmt wird. Im Internet wird das Video zu einer Sensation und der Lehrer schliesslich unfreiwillig zum PrĂ€sidenten des Landes. Der Lehrer wird gespielt von Wolodimir Selenski.
Noch weiss nicht einmal Selenski selbst, dass "Diener des Volkes" zu seiner ĂŒber drei Staffeln verteilten WahlkampfankĂŒndigung werden wird.
2017 Selenski kauft im toskanischen Nobelbadeort Forte dei Marmi eine Villa mit 17 Zimmern, die 3,8 Millionen Euro kostet. WÀhrend seiner PrÀsidentschaftskandidatur wird er "vergessen", sie als Vermögen zu deklarieren. Als seine Frau spÀter in einem Interview nach dem Anwesen gefragt wird, behauptet Olena, sie wisse nicht, ob die Villa wirklich ihnen gehöre, sie seien seit drei Jahren nicht mehr dort gewesen.
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2017 Russische Kampfpiloten stehen im Dezember im Halbkreis auf dem syrischen LuftwaffenstĂŒtzpunkt Hamaimim und wissen nicht recht, wie sie auf den hohen Besuch reagieren sollen. Gerade ist ihr PrĂ€sident aus einem gepanzerten Fahrzeug gestiegen. Wladimir Putin macht ein paar Schritte auf die Soldaten zu und winkt sie zu sich. Etwas versteckt in seinem RĂŒcken steht der syrische Machthaber Asad.
Putin kĂŒndigt an, grosse Teile seiner Truppen aus Syrien zurĂŒckzuziehen, "die meisten Terroristen sind vernichtet". Den Piloten sagt er: "Ihr kehrt siegreich nach Hause zu euren Angehörigen, Eltern, Frauen, Kindern, Freunden zurĂŒck. Das Vaterland erwartet euch, meine Freunde." Mehr als zwei Jahre flog das russische MilitĂ€r Luftangriffe und unterstĂŒtzte Asads Armee im BĂŒrgerkrieg. Es ist Putins erster Krieg, den er ausserhalb der Grenzen der frĂŒheren Sowjetunion fĂŒhrt.
2018 In der Ukraine steht nach dem Jahreswechsel traditionellerweise die Ansprache des PrĂ€sidenten Poroschenko auf dem Programm. Wenige Minuten vor zwölf unterbricht Selenski im Fernsehsender 1+1 seine grosse Neujahrsshow und schlĂŒpft hinter einem roten Vorhang hervor. Neben dem Weihnachtsbaum verkĂŒndet er - zur HĂ€lfte auf Russisch, zur HĂ€lfte auf Ukrainisch -, er werde sich um das Amt des PrĂ€sidenten bewerben.
Ironischerweise war es ein Berater des Amtsinhabers Poroschenko, der Selenski erstmals als Alternative zum PrĂ€sidenten ins Spiel gebracht hat. Zwischen den Wahlen werden immer wieder Umfragen gemacht, bei denen man den Ukrainerinnen und Ukrainern Listen mit den Namen von Politikern vorlegt, die möglicherweise fĂŒr das Amt kandidieren werden. 2016 setzte der Berater erstmals auch Selenski, den ComedyprĂ€sidenten, auf diese Liste, möglicherweise als Scherz.
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Doch damit wurden der Komiker und seine Fernsehfigur Wasil Holoborodko in Köpfen von Millionen Ukrainern eins. Und in den Köpfen von Selenski und seinen Freunden keimte die Idee, tatsÀchlich Politik zu machen. 2018 lassen sie die Partei Diener des Volkes offiziell eintragen, Parteichef ist Iwan Bakanow, der mit Selenski im gleichen Haus aufwuchs und nun Chef von Kwartal 95 ist; er wird spÀter den Geheimdienst der Ukraine leiten. Im November 2018 liegt Selenski - obwohl noch gar nicht offizieller Kandidat - in den Umfragen bereits vor Poroschenko.
Als die Einspielung, in der Selenski seine Kandidatur bekanntgibt, ausgestrahlt wird, ist er mit seiner Familie in Frankreich in den Skiferien, sie stossen auf das neue Jahr an und schauen nicht fern. Olena erfĂ€hrt erst am Neujahrsmorgen aus den sozialen Netzwerken, was ihr Mann getan hat. Sie ist von Anfang an gegen diese PlĂ€ne, aber wenn Wolodimir von etwas ĂŒberzeugt sei, halte ihn wenig davon ab. An diesem Neujahrsmorgen fragt sie ihn, ob er sie nicht wenigstens hĂ€tte warnen können. Er antwortet: "Habe ich dir nichts gesagt? Ich habe es vergessen."
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2019 Die 30.000 PlĂ€tze des Fussballstadions Dnipro sind ausverkauft. Auf der BĂŒhne steht Selenski mit seinen Freunden von Kwartal 95, sie spielen Sketche und machen Musik, schliesslich singt ein MĂ€dchen die ukrainische Nationalhymne, das ganze Publikum singt mit. Dann tritt Selenski auf. Er sagt, er brauche keine Propaganda. Jeder und jede im Publikum sei intelligent und wisse schon, was er oder sie am Wahltag zu tun habe.
Der Auftritt ist der Endpunkt eines beispiellosen Wahlkampfs, der fast ausschliesslich in den sozialen Netzwerken und auf Youtube stattfand. Selenskis Entourage besteht zu einem grossen Teil aus Freunden aus der Kindheit und Kollegen von Kwartal 95. Aber auch Kolomoiski gehört zu Selenskis UnterstĂŒtzern. Seine Begeisterung fĂŒr den PrĂ€sidentschaftskandidaten ist so gross, dass Selenski vorgeworfen wird, er sei nur eine Marionette.
Seit Kolomoiskis Privatbank, aus der er Milliarden Dollar abgezweigt haben soll, unter Poroschenko verstaatlicht wurde, ist der amtierende PrÀsident der Erzfeind des Oligarchen. Selenski bestreitet, dass Kolomoiski Einfluss nimmt. Allerdings ist er seit 2017 mehr als ein Dutzend Mal nach Genf und Tel Aviv geflogen, den Wohnorten Kolomoiskis.
Selenski wird in der Stichwahl gegen Poroschenko mit 73 Prozent der Stimmen zum PrĂ€sidenten gewĂ€hlt; das ist der höchste Wert, der je erreicht wurde. Sein grösstes Versprechen an sein Volk: Er will den Krieg beenden, und das innerhalb eines Jahres. Der Kreml gratuliert nicht zur Wahl, dafĂŒr sei es "noch zu frĂŒh". Putin war 48, als er PrĂ€sident wurde, Selenski ist sieben Jahre jĂŒnger.
2019 Wladimir Putin ist schon 66 Jahre alt, als er an einer Eishockeygala in Sotschi mitspielt. Er trÀgt die Nummer 11 und erzielt beim 14:7-Sieg seiner Mannschaft acht Tore. So schreiben es die Nachrichtenagenturen, aber der Kreml dementiert und korrigiert Putins Trefferquote nachtrÀglich nach oben, auf zehn Goals. Was nirgend steht, aber viele vermuten: Seinen Mitspielern ist befohlen worden, dem PrÀsidenten die Tore so vorzubereiten, dass er nur noch die Stockschaufel hinhalten muss.
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Es ist nicht das erste Mal, dass man Putin gut aussehen lĂ€sst. Als er beim Angeln gefilmt wird, zieht er sechzehn Fische an Land. Der Mann, der neben ihm die Rute ins Wasser hĂ€lt, nur gerade einen. Ein Reporter, der die Szene fotografiert hat, ist ĂŒberzeugt, "dass Putins MĂ€nner ihm unter Wasser die Fische zugefĂŒhrt haben".
Die schönste Inszenierung gelingt Putins Leuten im Asowschen Meer, 1000 Kilometer sĂŒdlich von Moskau. Putin steigt im Taucheranzug ins Wasser und findet ganz zufĂ€llig zwei griechische Amphoren, die 1500 Jahre unberĂŒhrt auf dem Meeresboden lagen. Wie er das gemacht hat? An diesem Tag sei das Wasser klar gewesen, meldet die Agentur Interfax. SpĂ€ter gibt Putins Sprecher zu, dass Taucher die Vasen extra fĂŒr Putin auf dem Meeresgrund deponiert hĂ€tten. Wie man nur so naiv sein könne, etwas anderes zu glauben.
2019 An diesem Donnerstagnachmittag um 16 Uhr 03 beginnt fĂŒr Selenski das schwierigste TelefongesprĂ€ch seiner noch kurzen Amtszeit. Es wird spĂ€ter Wort fĂŒr Wort öffentlich und landet in den Akten zum Amtsenthebungsverfahren des amerikanischen PrĂ€sidenten Donald Trump.
Selenski steht vor einer unmöglichen Aufgabe: Er ist dringend auf die militĂ€rische UnterstĂŒtzung der USA angewiesen. Doch als er das GesprĂ€ch auf die Panzerabwehrwaffen bringt, die er gerne von den USA kaufen wĂŒrde, erwidert Trump: "Ich möchte Sie bitten, uns einen Gefallen zu tun." In den USA stehen Wahlen an, und Trump lĂ€sst nichts unversucht, seinem Widersacher Joe Biden zu schaden. Eine Möglichkeit sieht er darin, belastendes Material gegen Bidens Sohn Hunter zu finden, der in der Ukraine GeschĂ€fte tĂ€tigte. Es werde viel ĂŒber Hunter geredet, sagt Trump, "also wĂ€re alles, was Sie mit dem Generalstaatsanwalt tun können, grossartig".
Ukraine Presidential Press Service / EPA
Selenski hĂ€lt den geltungssĂŒchtigen Trump mit gesĂ€uselten Komplimenten wĂ€hrend einer halben Stunde bei Laune. "Sie sind ein grossartiger Lehrer, ich wollte Ihnen auch sagen, dass wir Freunde sind." Doch er verspricht ihm nichts Konkretes, worauf Trump 400 Millionen Dollar MilitĂ€rhilfe an die Ukraine zurĂŒckhĂ€lt. Weil sich dieses Verhalten als Erpressung deuten lĂ€sst, wird im September 2019 ein - allerdings erfolgloses - Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump eingeleitet.
2019 An Silvester, drei Wochen nachdem sich Putin und Selenski in Paris zum ersten Mal getroffen haben, wĂŒnschen sie einander am Telefon ein frohes neues Jahr.
2022 Es ist der 24. Februar um 6 Uhr morgens Moskauer Zeit, als Putin macht, was alle befĂŒrchten, aber wenige fĂŒr möglich gehalten haben: Er beginnt den Krieg. "FĂŒr unser Land ist es eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Volk", sagt Putin. Dann fallen die ersten Bomben auf ukrainische StĂ€dte. 800 Kilometer entfernt ruft Selenski seine BĂŒrger zum Widerstand auf. "Wir geben Waffen an alle, die fĂ€hig sind, uns zu beschĂŒtzen. Wir sind alle Armee."
Reuters
Ukrainian President's Office / Imago
Quellen:
- "Visiting Gordon." Der ukrainische Journalist Dimitri Gordon interviewt Wolodimir Selenski, Dezember 2018.
- "Interview mit Olena Selenka", BBC Ukraine, April 2019.
- "The Betrayal of Volodymyr Zelensky", The Atlantic, 3.12.2019.
- "In First Meeting With Putin, Zelensky Plays to a Draw Despite a Bad Hand", The New York Times, 9.12.2019.
- "Ze time: Vladimir Zelensky. Who is he?", Frida Lensky, Strelbytskyy Multimedia Publishing, 2019.
- Vladimir Putin, "An astonishingly frank self-portrait by russia's president Vladimir Putin", 2000.
- Michel Eltchaninoff, "Dans la tĂȘte de Vladimir Poutine", 2015.
- "In seiner Welt", SĂŒddeutsche Zeitung, 11. Februar 2022.
- "Wladimir Putin", Spiegel-Biografie, 2017.