Ukrainische Rückschläge im Gebiet Kursk

War es das wert?

Aus Sumy berichten
Alexander Sarovic

und

Fedir Petrov (Fotos)

17.01.2025, 19.40 Uhr

Im Sommer überraschten die Ukrainer Russland mit einer Offensive in Kursk. Seither haben die Kremltruppen weite Gebiete zurückerobert. Was Soldaten und ein Armeearzt berichten: ein Besuch nahe der Front.

Ukrainischer Kommandeur "Lion": "Aber man überlebt"
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Vor dem Krieg leitete "Lion" eine Baufirma. Er zog Schulen in der Nähe von Kyjiw hoch, plante, organisierte und führte Buch. Der 35-Jährige war Zivilist durch und durch. An Krieg dachte er nicht, geschweige denn an einen Feldzug in Russland.

Heute, am Ende des dritten Kriegsjahres, trägt er Uniform, hat einen Funknamen und steht in einem frostigen Wald der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Der Schnee blendet, der bärtige Kommandeur kneift die müden Lider zusammen. Es sind nur wenige Kilometer bis zur Grenze des Nachbarlands, das die Ukraine Ende Februar 2022 überfiel und in einen blutigen Überlebenskampf riss.

Im Oktober wurden er und seine Männer aus dem Donbass hierher abkommandiert. Seither habe die russische Armee in seinem Frontabschnitt zwei Dörfer zurückerobert. "Wir mussten die Orte aufgeben", sagt der Ukrainer, "nachdem die Russen sie komplett zerstört hatten."

Trump und Nordkorea: Gefechte mit weltpolitischer Dimension

Ein halbes Jahr ist es bald her, dass ukrainische Kampfverbände in das russische Gebiet Kursk einmarschierten. Anfang August vergangenen Jahres überraschten sie die feindlichen Truppen. Sie eroberten binnen weniger Tage mehr als 1000 Quadratkilometer Gelände, nahmen Hunderte russische Rekruten gefangen.

Es war die erste Invasion auf russischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Offensive düpierte den Kreml und hob für einige Wochen die Moral der kriegsmüden ukrainischen Bevölkerung. Doch die Russen haben sich seither etwa die Hälfte des verlorenen Geländes zurückgeholt. Eine größere Gegenattacke, die die Ukrainer zu Jahresbeginn starteten, ist nach anfänglichen Erfolgen verpufft. Die Kremltruppen rückten zuletzt entlang der ukrainischen Flanken vor.

Ukrainischer Soldat "Kater": "Wir werden nur gerufen, wenn es nicht anders geht"
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Der Kampf um Kursk hat hervorgehobene politische Bedeutung.

und mehrere internationale Komponenten. Donald Trump schwört kommende Woche seinen Amtseid als US-Präsident. Kyjiw und Moskau an den Gesprächstisch zu bringen, war eines seiner zentralen Wahlversprechen. Sollte ihm das gelingen, wäre das eroberte russische Staatsgebiet ein Verhandlungschip der Ukrainer.

Russland setzt einiges daran, ihnen diesen aus der Hand zu schlagen. Nach ukrainischen Angaben hat es 60.000 eigene Soldaten in die Schlacht geschickt. An ihrer Seite kämpfen Schätzungen zufolge etwa 12.000 Nordkoreaner.

Die Gefechte sind erbittert. In Sumy dröhnen die Einschläge tonnenschwerer russischer Gleitbomben. Häuser mit zerschossenen Dächern säumen die Straßen der ukrainischen Grenzdörfer. Das Wrack eines zerstörten Panzers versinkt im Schnee.

Das dumpfe Gegenfeuer der ukrainischen Geschütze tönt durch den Wald, während "Lion" uns zu einem seiner Bradleys führt. Der amerikanische Schützenpanzer steht zwischen kahlen Eichen, eine mächtige Metallkröte auf Ketten. "Lion" ist Vizekommandeur einer Kompanie von zehn Fahrzeugen samt Mannschaft, die zur 47. Mechanisierten Brigade gehört. Eine der Crews begleitet ihn zum Bradley: "Pjon", 27, der Fahrer, der Schütze "Meriman", 40, und "Kater", 33, der die Mannschaft befehligt.

Ukrainischer Truppentransporter auf dem Weg nach Kursk: "So geht das ständig"
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Drei Tage haben die Soldaten zuletzt auf russischem Territorium verbracht, ehe sie sich vorgestern in ihre Quartiere zurückzogen. Verglichen mit anderen Einsätzen, sagen sie, sei es diesmal eher ruhig gewesen. In vier Tagen sollen sie wieder reinfahren, wenn es vorher keine Notfälle gibt.

Während ihrer Einsätze in Russland helfen die Crews bei Rotationen: Sie fahren eine Gruppe von Infanteristen an die Kampflinie und nehmen eine andere mit. Zudem holen sie Verwundete aus der Kampfzone. Es sind Aufgaben, die im Normalfall andere Einheiten mit einfachen Pick-ups erledigen.

"Wir werden nur gerufen, wenn es nicht anders geht", sagt "Kater", "wenn man sich zu einem Punkt durchkämpfen muss." Der amerikanische Schützenpanzer bringe Voraussetzungen dafür mit, von denen andere Einheiten nur träumen könnten: Sein Maschinengewehr könne Häuserwände durchschießen. Es sei so stabil, dass es selbst bei einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde feuern könne. "Auch die Nachtsichtgeräte sind gut", sagt er.

Im Himmel über dem Kampfgebiet wimmelt es von sogenannten FPV-Drohnen, die den Krieg komplett verändert haben. Schon die Fahrt zur Stellung ist zu einem hochriskanten Unterfangen geworden, etliche Soldaten werden auf dem Weg von den Fluggeräten getötet oder verwundet. Infanteristen rotieren fast nur noch im Morgengrauen, bevor die Drohnen in der Luft schweben.

Tagsüber würden Evakuierungen fast nur noch mit Bradleys durchgeführt, sagt "Lion". Für einfache Fahrzeuge sei es zu gefährlich. "Die Wahrscheinlichkeit, von Drohnen getroffen zu werden, ist groß - aber man überlebt." Der Schützenpanzer verfügt über eine vier Tonnen schwere "Reaktivpanzerung": gut 30 Zentimeter dicke Klötze, die durch eine Gegenexplosion feindlichen Geschossen entgegengeschleudert werden und so die Mannschaft schützen.

"Am besten wäre es, wenn alle Rotationen mit Bradleys durchgeführt werden könnten", sagt der Kommandeur. "Aber dafür gibt es leider nicht genug von ihnen."

"Lion", "Kater" und "Meriman" wurden auf dem Truppenübungsplatz der US-Streitkräfte im bayerischen Grafenwöhr ausgebildet. Im Sommer 2023 kämpften sie in der Region Saporischschja im Südosten des Landes, wo ihre Brigade versuchte, die massiven russischen Abwehrlinien zu durchbrechen. Anschließend wurden sie in den Donbass verlegt, um den Ansturm der Russen auf die Stadt Awdijiwka abzuwehren. Die Offensive scheiterte, die Verteidigung auch.

Grenzdorf in Sumy: Zerschossene Dächer, dröhnende Einschläge
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Die Soldaten bekamen zu spüren, wie sich der Krieg wandelte. Zu Beginn der ukrainischen Offensive in Saporischschja hätten die Russen noch deutlich weniger FPV-Drohnen eingesetzt. Später waren die Geräte überall.

Auf dem Dach des Bradleys ragen drei Störsender in den dichtgrauen Himmel, "Reb" genannt und klobigen Antennen ähnlich. Sie sollen die Frequenzen der FPV-Drohnen stören. Gegen die jüngste Neuerung auf dem Schlachtfeld helfen sie aber kaum: Drohnen, die an hauchdünnen, kilometerlangen Glasfaserkabeln befestigt sind. Statt den Störsendern soll ein Netz den Bradley schützen, mit Plastiknoppen, welche die Drohnen im besten Fall vor dem Einschlag explodieren lassen.

"So geht das ständig", sagt "Lion". "Wir kommen mit etwas Neuem und sie reagieren. Sie finden etwas, und wir antworten."

"Hier gehen sie kompetenter an die Sache heran"

Die Russen setzten eine Unzahl von Kabeldrohnen ein, berichtet ein Bataillonskommandeur der 47. Brigade. "Damit sichern sie ihre Erfolge." Im Donbass hätten die feindlichen Befehlshaber rücksichtslos unerprobte Einheiten ins Feuer geworfen. "Hier gehen sie kompetenter an die Sache heran", sagt der ukrainische Offizier. Die Russen verfügten über große Einheiten mit gut geschultem Personal. Diese starteten immer wieder tödliche Angriffe, ob zu Fuß in kleineren Gruppen oder wie zuletzt mit gepanzerten Fahrzeugen.

Mancherorts in Kursk kämpften fast fünfmal so viele Russen wie Ukrainer, berichtet der Kommandeur eines anderen ukrainischen Kampfverbands. Sie würden von Nordkoreanern unterstützt, die anders kämpften als die meisten feindlichen Einheiten. Sie bewegten sich tagsüber in größeren Gruppen über das Schlachtfeld, trotz des hohen Risikos. Sie griffen teils in Bataillonsstärke an.

Chrirug Witalij: Amputationen kommen nur selten vor
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Den Kremltruppen ist es im Laufe der vergangenen Monate gelungen, die Ukrainer immer weiter zurückzudrängen. Er habe an diesem Frontabschnitt ähnlich viel zu tun wie zuvor bei Pokrowsk, einer der am heftigsten umkämpften Gegenden im Donbass, berichtet der Armeearzt Witalij. Der Chirurg behandelt verwundete ukrainische Soldaten in einem Bauernhaus auf der ukrainischen Seite der Grenze.

Das siebenköpfige Team hat einen Behandlungsraum in einem der Zimmer eingerichtet, mit zwei OP-Tischen und zwei Patientenliegen. Nebenan schlafen die Ärzte und Krankenschwestern. Das Haus ist ein sogenannter Stabilisierungspunkt. Verwundete Soldaten werden hier notversorgt. Dringende Eingriffe, mit denen nicht bis zur Einlieferung ins Krankenhaus gewartet werden kann, werden hier vorgenommen.

"Wir machen Blutinfusionen, pumpen Luft aus, entfernen manche Splitter", sagt Witalij. Er zückt sein Handy und zeigt ein Video aus der vergangenen Woche. Es zeigt, wie er einem Soldaten den linken Unterarm amputiert. "Das kommt aber nur selten vor."

Darüber, wie viele Verwundete er im Schnitt behandele, dürfe er nicht reden, sagt der Arzt. Er könne aber sagen, dass es inzwischen noch mehr Verletzungen durch Drohnen gebe als durch Artilleriefeuer. Auch Schusswunden müsse er immer wieder behandeln, eine Folge des Nahkampfs an der Front.

Verwundeter ukrainischer Soldat: "Kontusion, Artillerie"
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Er schlafe nur wenig, müsse jederzeit bereit sein, sagt Witalij. "Verglichen mit den Jungs in den Schützengräben geht es uns aber gut. Es ist warm, und wir haben Essen."

Wenig später steht ein Soldat in der Tür, begleitet von einem Kameraden. Er kann laufen und ist ansprechbar, aber schwer benommen. Was passiert sei, will eine der Krankenschwestern wissen. "Kontusion, Artillerie", stammelt er und macht seinen Oberkörper frei. Er legt sich auf eine der Patientenliegen, ein Kollege von Witalij misst seinen Puls.

Nur Minuten später ist der Soldat wieder angezogen und sitzt im Warteraum. Er habe versucht, eine russische Stellung zu stürmen und sei beschossen worden, sagt er. Es sei schon seine zwölfte Gehirnerschütterung, seit er in Kursk kämpft. Er wartet auf seinen Transport ins Krankenhaus.

Hätte er nur eine Gehirnerschütterung, würde er hierbleiben, erklärt einer der Ärzte. Vor einer Woche habe er sich aber zusätzlich die Rippen gebrochen. Deshalb müsse er im Krankenhaus behandelt werden.

Behandlung am Stabilisierungspunkt: Zwölf Gehirnerschütterungen und ein Rippenbruch
Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

War es das alles wert?

Mit jedem Meter, den die Russen in Kursk vorrücken, stellt sich eine Frage immer lauter: War der Feldzug es aus ukrainischer Sicht wert? Manche Militärexperten kritisierten die Operation früh. Die Einheiten, die nach Kursk verlegt wurden, so das Argument, hätte Kyjiw gebraucht, um den russischen Vormarsch im Donbass zu stoppen.

Der Bataillonskommandeur aus der 47. Brigade widerspricht dem. "Wir halten hier die besten Einheiten des Feindes zurück, wir töten viele von ihnen und zerstören ihre Militärtechnik", sagt der ukrainische Offizier. "Wir zwingen sie, auf ihre Reserven zurückzugreifen. Das schwächt sie mit Blick auf die Zukunft." Ob sich die Verlegung seiner und anderer Einheiten aus dem Donbass gelohnt habe, sei letztlich aber eine Frage für den Generalstab.

An solche Fragen würden sie gar nicht denken, sagen "Lion" und seine Männer. Sie hätten ihre Aufgaben an der Front im Kopf. Natürlich seien sie erschöpft und sehnten sich nach einer Rückkehr ins Zivilleben.

Irgendwann werde der Krieg enden, sagt "Lion" - "mit unserem Sieg". Die Soldaten kichern. Ernst gemeint ist es nicht.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 13.07.2025 - 17:53