Von Klaus Wiegrefe
18.02.2022, 13.00 Uhr / aus DER SPIEGEL 8/2022
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Vor einigen Wochen gab sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg überaus selbstsicher. Befragt vom SPIEGEL, ob Russland in den Neunzigerjahren zugesagt worden sei, die Nato nicht nach Osten auszudehnen, erklärte der Norweger entschieden: "Das stimmt einfach nicht, ein solches Versprechen wurde nie gemacht, es gab nie einen solchen Hinterzimmer-Deal. Das ist schlichtweg falsch."
Wirklich?
Wie Stoltenberg sehen es viele Politiker, Militärs oder Journalisten im Westen. Die Aufnahme Polens, Ungarns und anderer osteuropäischer Länder in die Nato stehe nicht im Widerspruch zu Absprachen mit Moskau nach dem Fall der Mauer 1989. Es ist ja auch verständlich. Bei jeder passenden Gelegenheit klagt Russlands Präsident Wladimir Putin, der Westen habe mit der Nato-Osterweiterung sein Land betrogen. Wer will sich dem Vorwurf aussetzen, Putins Propaganda zu unterstützen?
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Und doch ist die Version von Stoltenberg und anderen fragwürdig. Das belegt ein Vermerk aus dem britischen Nationalarchiv. Der US-Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson hat das ursprünglich als "secret" eingestufte Dokument entdeckt. Es handelt von einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991.
Thema war die Sicherheit Polens und anderer osteuropäischer Staaten. Die deutsche Einheit lag gut fünf Monate zurück, ein Ende des Warschauer Paktes - des sowjetischen Imperiums - war absehbar. Schon seit Monaten signalisierten Politiker in Warschau oder Budapest ihr Interesse am westlichen Bündnis.
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Bemerkenswert ist daran die Begründung.
Schon seit 1993 - also lange vor Putins Regime - behaupten die Russen, eine Ausdehnung der Nato nach Osten verstoße gegen den Geist dieses Zwei-plus-vier-Vertrags. So sah es offenkundig auch Chrobog. Dem Vermerk nach deckt sich die russische Beschwerde mit der offiziellen Position der Bundesregierung von Kanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) 1991.
Und auch die Amerikaner sahen 1991 die Situation wohl so, wie sie heute Putin darstellt.
Der neue Archivfund passt zu einer Fülle von Dokumenten aus den Monaten nach dem Mauerfall, die inzwischen vorliegen. Allerdings traf der Westen keine völkerrechtlich bindende Vereinbarung mit dem Kreml, die eine Nato-Osterweiterung ausschließt. Vielmehr handelten 1990 viele beteiligte Politiker und Beamte auf beiden Seiten in gutem Glauben.
Der damalige Kreml-Herrscher Michail Gorbatschow versprach, die Demokratie einzuführen, die Menschenrechte zu achten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren; Gorbatschow brachte sogar die Idee ins Spiel, die Sowjetunion könnte der Nato beitreten. Das Imperium im Osten schien reformfähig. Und so wollten Kohl, Genscher und andere westliche Politiker die Nato wirklich ändern, zu einem politischen Bündnis formen und die Interessen des Kremls ernst nehmen. Zu einem Konflikt über eine Nato-Osterweiterung sollte es eigentlich nie kommen. (Mehr Hintergründe lesen Sie hier.)
Ein Randaspekt des neuen Dokuments ist da weit weniger wichtig und dennoch amüsant: Bonns Vertreter Chrobog verwechselte in seinem Statement offenbar die Elbe und die Oder. Natürlich hatte Bonn entgegen den Ausführungen des Diplomaten in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen nie deutlich gemacht, die Nato nicht über die Elbe hinaus auszudehnen. Das geeinte Deutschland sollte laut dem Zwei-plus-vier-Vertrag ja der Nato beitreten - womit sich diese bis zur Oder ausdehnte.
Quelle: Spiegel