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02.02.2025, 07:34 Uhr
Horst Arnold saĂ mehr als fĂŒnf Jahre hinter Gittern. FĂŒr eine Tat, die er nicht begangen hat. Eine Kollegin hatte den ehemaligen Biologielehrer fĂ€lschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt. Ein Jahr nach seinem Freispruch in einem Wiederaufnahmeverfahren starb Arnold an einem Herzinfarkt. Auf dem Heimweg in Völklingen fiel er nach dem Einkaufen tot von seinem Fahrrad. Sein Rechtsanwalt sieht einen Zusammenhang zwischen Arnolds Lebensgeschichte und dessen frĂŒhem Tod.
Durch Fehlurteile werden Leben und Existenzen der Betroffenen zerstört. Das Rechtssystem der Bundesrepublik gilt als eines der besten der Welt und doch ist es nicht frei von Fehlern. Das zeigen mehrere FĂ€lle aus der jĂŒngsten Vergangenheit.
Wie hĂ€ufig Fehlurteile passieren, versucht die Rechtspsychologin Teresa Schneider von der Hochschule Luzern herauszufinden. Denn es gibt keine genauen Zahlen, keine Statistik fĂŒr Strafverfahren. Selbst wenn nur ein Prozent der Urteile falsch wĂ€ren, wĂ€ren das immer noch Tausende Menschen in Deutschland, die davon betroffen sind. Schneider hat mit zwei weiteren Kolleginnen die Datenbank "Eurex" errichtet, um Fehlurteile in Europa zu sammeln. Das Register befindet sich noch im Aufbau und erhebt deswegen keinen Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit.
"In unserer Datenbank Eurex ist der hĂ€ufigste registrierte Grund fĂŒr Fehlurteile ein falsches GestĂ€ndnis", sagt Schneider. Ein Beschuldigter erklĂ€rt also, ein Verbrechen begangen zu haben, obwohl er unschuldig ist. Wie im Fall um die Familie des Bauern Rudolf Rupp. 2005 verurteilte das Landgericht Ingolstadt dessen Frau und Schwiegersohn in spe wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Haft. Die mitangeklagten beiden Töchter erhielten wegen Beihilfe durch Unterlassen zweieinhalb und dreieinhalb Jahre. Gemeinsam sollen sie Rupp erschlagen, zerstĂŒckelt und anschlieĂend den Hunden zum FraĂ vorgeworfen haben. So erzĂ€hlten sie es in den Vernehmungen.
Doch 2009 tauchte das Auto von Rudolf Rupp mitsamt seiner weitestgehend unversehrten Leiche in der Donau auf. Das Urteil und das GestÀndnis konnten so also nicht stimmen.
Erst am 25. Februar 2011 sprach eine Kammer des Landgerichts Landshut die Angeklagten frei. Die Verteidiger der Familie sind der Meinung, dass vor allem Druck bei den Ermittlungen und die kognitiven EinschrĂ€nkungen der VerdĂ€chtigen die GrĂŒnde gewesen sind. Der IQ der Mutter liegt nur bei 52.
Ein Druck, der vermeidbar ist, glaubt Teresa Schneider. Ermittlerinnen und Ermittler mĂŒssten deutlich effektiver vorgehen, um wĂ€hrend der Vernehmung zuverlĂ€ssige Informationen zu sammeln. "Wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Vernehmungstrainings können helfen, falsche GestĂ€ndnisse zu verhindern", sagt Schneider. Aber falsche GestĂ€ndnisse sind nicht der einzige Grund, wieso Unschuldige ins GefĂ€ngnis wandern.
Auch Zeugen können falsche Aussagen treffen. Wie im Fall um Horst Arnold. Seine ehemalige Kollegin Heidi K. hatte ihn der Vergewaltigung bezichtigt - zu Unrecht, wie sich spĂ€ter herausstellte. Die Frau wurde wegen schwerer Freiheitsberaubung zu fĂŒnfeinhalb Jahren Haft verurteilt, verlor ihren Beamtenstatus und ihre PensionsansprĂŒche. Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigte ihr ein stark ausgeprĂ€gtes BedĂŒrfnis nach Aufmerksamkeit und BestĂ€tigung sowie einen Mangel an Empathie.
Dass Frauen Vergewaltigungen erfinden, ist eine Seltenheit. Viel hĂ€ufiger kommt es vor, dass Frauen viele HĂŒrden nehmen mĂŒssen, bis ihnen ĂŒberhaupt geglaubt wird. Oder es gar nicht erst zu einer rechtmĂ€Ăigen Verurteilung kommt. Doch FĂ€lle von erfundener Vergewaltigung, aber auch anderen erfundenen Straftaten und damit Zeugenaussagen gibt es. Und sie können zum Problem werden, wenn die Aussage der einzige Belastungsbeweis ist. "Wenn es nur Aussagen von zwei Personen, dem VerdĂ€chtigen und dem Zeugen, gibt, ist es schwieriger, zu einem Urteil zu kommen", sagt Schneider. FĂ€lle, in denen es um Kindesmissbrauch gehe, seien hĂ€ufig besonders emotional, was die Entscheidungsfindung verzerrend beeinflussen könne. Aber nicht nur absichtlich falsche Zeugenaussagen sind ein Grund fĂŒr Fehlurteile. Auch eine falsche Identifikation, wenn also jemand mit dem TĂ€ter verwechselt wird, kann die Justiz und Ermittlungsbehörden auf einen Irrweg fĂŒhren.
Ein weiterer Risikofaktor fĂŒr ein Fehlurteil ist offizielles Fehlverhalten, wie Schneider es nennt. Also, wenn zum Beispiel Ermittlungsbehörden unerlaubterweise entlastende Beweise bewusst zurĂŒckhalten, um zu einer Verurteilung zu gelangen.
Gemein haben Fehlurteile hĂ€ufig, dass sich schnell oder zu stark auf einen VerdĂ€chtigen fokussiert wird und keine alternativen Szenarien, sogenannte Alternativhypothesen, von Ermittlungs- und Justizbehörden entwickelt werden. "Wenn dazu öffentlicher oder auch politischer Druck kommt, kann sich bei Strafverfolgungsbehörden eine Art Tunnelblick bilden. Sie wollen ihre Voreinstellungen bestĂ€tigen", sagt Schneider. PrĂ€sentieren dann die Behörden der Staatsanwaltschaft einen Tathergang, so werde er nicht immer umfassend auf den PrĂŒfstand gestellt.
Ein tragisches Beispiel dafĂŒr ist der Fall um Manfred Genditzki, besser bekannt als der "Badewannen-Mord". 13 Jahre saĂ Genditzki im GefĂ€ngnis. Das MĂŒnchner Schwurgericht war ĂŒberzeugt, der damalige Hausmeister habe eine Seniorin in deren Wohnung im oberbayerischen Rottach-Egern auf den Kopf geschlagen und sie in ihrer Badewanne ertrĂ€nkt. Dem solle ein Streit vorausgegangen sein.
In dem Wiederaufnahmeverfahren, fĂŒr das Genditzki jahrelang gekĂ€mpft hatte, sprach die Vorsitzende Richterin dann von einer "Kumulation von Fehlleistungen". Bei den Ermittlungen sei "manches sehr einseitig verarbeitet und zu Lasten von Herrn Genditzki" gewertet worden. Der Tod der Seniorin wurde als Unfall gewertet.
Wer sich die Fehlurteile in Deutschland und Europa ansieht, dem fÀllt schnell auf, dass besonders eine Gruppe betroffen ist: MÀnner. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie hÀufiger straffÀllig werden als Frauen, sagt Schneider. Und damit werden sie auch eher verdÀchtigt, eine Straftat begangen zu haben. Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, dass sie falsch verurteilt werden.
Einmal falsch verurteilt, gleicht der Kampf zurĂŒck in die Freiheit dem von David gegen Goliath. Auf der einen Seite der verurteilte StraftĂ€ter, auf der anderen die Macht der Justiz. In Deutschland gilt Rechtssicherheit; das heiĂt auch, dass die Bevölkerung das Vertrauen darin haben soll, dass GerichtsfĂ€lle auch geschlossen und nicht stĂ€ndig wieder eröffnet werden.
Viele Einzelschicksale kommen auch deshalb nicht an die Ăffentlichkeit, weil die HĂŒrden fĂŒr ein Wiederaufnahmeverfahren hoch sind. Da ist das Geld, das Verurteilte nicht haben, um ihre Verteidigung zu finanzieren. Da sind neue Beweismittel, die der Verurteilte vorlegen muss, um den Prozess neu aufrollen zu lassen. Und am Ende steht die Justiz, die keine Pflicht hat, komplette Akten eines rechtskrĂ€ftigen Urteils aufzubewahren - und sie den AnwĂ€ltinnen und AnwĂ€lten zu ĂŒberlassen.
Selbst wenn ein zu Unrecht Verurteilter frei gesprochen wird und das GefĂ€ngnis verlassen kann, wartet drauĂen hĂ€ufig die Mittellosigkeit auf ihn. Neben Schulden durch die Gerichtsverhandlung können Betroffene nur auf wenig UnterstĂŒtzung vom Staat setzen. Deutschland zahlt 75 Euro EntschĂ€digung pro Hafttag und damit am wenigsten in ganz Europa. Andere EU-Staaten zahlen etwa 100 Euro.
"Wenn es zu vielen Fehlurteilen kommt, kann das Vertrauen in die Justiz abnehmen", sagt Rechtspsychologin Schneider. Zudem seien sowohl die individuellen Folgen fĂŒr die Betroffenen gravierend als auch die Kosten fĂŒr Fehlurteile hoch: Gerichtskosten, Unterbringung und EntschĂ€digung mĂŒssten von der Gesellschaft getragen werden. Doch Fehlurteile sind kein Kollateralschaden des Justizapparates. Sie sind vermeidbar.
Neben einem umfassenderen Vernehmungstraining und ergebnisoffenen Ermittlungen seitens der Behörden könnten auch Tonaufnahmen bei Gericht helfen. Denn bisher gibt es keine Aufzeichnungen, die nachweisen, was vor Gericht gesprochen worden ist. Richterinnen und Richter mĂŒssen sich bei einfachen, aber auch komplexen Prozessen auf ihre eigenen Notizen verlassen. "Schaut man sich Protokolle von Gerichtsverhandlungen an, steht in ihnen meistens wenig drin. Das macht es fĂŒr Wiederaufnahmeverfahren natĂŒrlich sehr schwierig", erklĂ€rt Schneider. Ein neues Gesetz, das zumindest Tonaufnahmen in deutschen Strafgerichtsprozessen ermöglichen soll, steckt aktuell im Vermittlungsausschuss fest.