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Inhalt
- Kritik der politisch korrekten Vernunft
- Politische Korrektheit - Kant, der alte Rassist
- 300 Jahre Immanuel Kant - Wider die Selbstverkleinerung des Geistes
Von Jan Küveler Chefkorrespondent Feuilleton
Veröffentlicht am 16.06.2020
Wer so etwas fordert, hat den Geist der Aufklärung nicht verstanden.
Von Sklavenhändlern über Entdecker und Politiker zu Philosophen - das ging schnell. Vor wenigen Tagen erst schubsten "Black Lives Matter"-Bewegte im britischen Bristol die Statue des Sklavenhändlers und städtebaulichen Mäzens Edward Colston (1636-1721) ins Meer. Dann stürzte in Minnesota, und zwar nicht von alleine, eine Statue von Christoph Kolumbus, sodann fand sich in Hamburg-Altona der gute alte Bismarck symbolisch kunstblutbespritzt, und jetzt soll es Immanuel Kant an den Kragen gehen - ob mit oder ohne Statue ein Säulenheiliger der Aufklärung und der Idee des Universalismus, des gleichen Rechts für alle Menschen, das, wie oft und mit gutem Grund behauptet worden ist, jegliche Emanzipationsbestrebungen überhaupt erst möglich macht.
Quelle: picture alliance / imageBROKER
Im "Deutschlandfunk" hat der Historiker Michael Zeuske, Professor in Bonn und Autor einer "Menschheitsgeschichte" der Sklaverei, gefordert, im Zuge der Aufarbeitung historischer Schandtaten Kant (1724-1804) nicht links liegen zu lassen. "Der hat in seinen anthropologischen Schriften den europäischen Rassismus mitbegründet", findet Zeuske. Und Zeuskes Fachkollege Jürgen Zimmerer, seit 2014 Leiter der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe" an der dortigen Uni, hat im "ARD-Morgenmagazin" empfohlen, die Statuen zumindest auf den Kopf zu stellen, "um unsere Sehgewohnheiten herauszufordern". Diese leicht hilflose Formulierung kennt man eher von avantgardistisch gesinnten Dramaturgen.
Und warum, fragt man sich auch, kommen solche Forderungen ausgerechnet von Historikern? Ist es nicht eine Binse der Disziplin, Persönlichkeiten der Geschichte nach den Maßstäben ihrer Zeit zu messen und nicht nach unseren? Bekanntlich war selbst Abraham Lincoln, der für sein Streben, die Sklaverei abzuschaffen, sterben musste, ein Rassist durch und durch, dem es in erster Linie darum ging, den Bürgerkrieg zu beenden.
Und Kant? Ja, der friedfertige Königsberger, der sich zum Denken eine eigenartige Mütze aufsetzte (Aluminium war zu seinen Lebzeiten noch nicht entdeckt), war tatsächlich nicht nur der wohl wichtigste Vordenker all dessen, was wir heute im Konzept des Westens oder des Abendlands fassen (mit Hegel auf dem knappen zweiten Platz), sondern auch ein schlimmer rassistischer Finger (hier ist Hegel übrigens womöglich die Nummer eins). Kants eher nebenbei in den Vorlesungen zur Anthropologie enthaltene Rassentheorie schaffte es im Jahre 1800 sogar ins Conversationslexikon, den späteren Brockhaus. "Wenn wir dem Urheber der kritischen Philosophie folgen", heißt es da, "so lassen sich gegenwärtig nur vier besondere Menschenracen annehmen: nehmlich die Race der Weißen, der gelben Indianer, der Neger, der kupferfarbig-rothen Amerikaner." Zwei Jahre später präzisiert Kant diese Taxonomie in seiner "Vorlesung über Physische Geographie": "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften."
Quelle: picture-alliance / akg-images
Hegel, um den kleinen Sprung zu wagen, hatte noch darüber sinniert, dass sein größtes philosophisches Steckenpferd, der Weltgeist, wie die Sonne im Osten aufgegangen sei, nun aber gottlob über Europa im Zenith stehe. In der "asiatischen Race" habe der Weltgeist sozusagen verschlafen gegähnt, weshalb der Mensch dort "noch nicht zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit" käme. Das "Orientalische" müsse deshalb, so der herzlose Hegel, aus der Philosophiegeschichte ausgeschlossen werden. Bei den "ursprünglichen Amerikaner" handele es sich um ein "verschwindendes schwaches Geschlecht", und ihre "Cultur" - nur "eine ganz natürliche" - musste untergehen, "sobald der Geist sich ihr näherte". Und was dachte Hegel über Afrika? Es sei gar kein "geschichtlicher Welttheil", sondern "jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt", der "Neger" habe so gar "nichts an das Menschliche Anklingende", sei somit "keiner Entwickelung und Bildung fähig". Und wenn er einem europäischen Sklavenhändler ins Netz gehe, könne er dankbar sein, denn so entgehe er immerhin "dem afrikanischen Princip, Menschen zu verzehren".
Kant sah das ähnlich. Die "Race der Weißen" verfüge allein über "alle Triebfedern und Talente". Die Europäer und die amerikanischen Siedler seien die einzigen, "welche immer in Vollkommenheit fortschreiten". Kultur sei "immer von den Weißen bewirkt worden und die Hindus, Amerikaner, Neger haben niemals daran Theil gehabt". Darüber hinaus war Kant auch noch überzeugter Antisemit. Die Juden ("Palästiner") galten ihm gewissermaßen als die Weißen unter den Orientalen, "Vampire der Gesellschaft" und "Betrüger der Nation". Im direkten Vergleich klingt das sogar noch härter, weil es Bösartigkeit unterstellt, wo bei den Angehörigen fremder "Racen" Kulturlosigkeit, Unfähigkeit, Dummheit und Schwäche genügen. Dafür können sie ja nichts und müssen, in einem frühen Vorläufer der Idee, die Kipling später "die Bürde des weißen Mannes" nennen sollte, vom starken, schlauen, vom Weltgeist beglänzten Europäer unter seine Fittiche genommen werden.
Wenn so die Anklage lautet, wird eine Verteidigung es schwerhaben. Aber muss es eine Anklage sein? Müssen wir unser Bild von Kant deshalb derart umdrehen, dass demnächst die Sockel seiner Standbilder gen Himmel weisen? Müssen wir auch Hegel stürzen, den großen naturwissenschaftlichen Systematiker Linn, der seine Ordung der menschlichen Welt von Anfang an mit (Haut-)Farben kennzeichnete und übrigens erst in der erweiterten zehnten Auflage von 1758/59 die Chinesen gelb nannte (vorher firmierten sie als "dunkel")? Et cetera pp. Die Liste der Sünder ist endlos.
Quelle: Getty Images
Oder reicht es, sich von Kants Beispiel - wie dem Beispiel zahlloser Denker der Historie - eine Lektion in der grundlegenden Ambivalenz der Welt erteilen zu lassen? Noch 1951 behauptete Hannah Arendt, die "Rassen" Afrikas und Australiens zeugten von einer "katastrophenhaften Einförmigkeit ihrer Existenz" und seien "bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen, die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben". Von einem Arendt-Denkmalsturz hat man noch nicht gehört - wohl nicht nur, weil sie so häufig als Galionsfigur des Antitotalitarismus herhalten muss, sondern vor allem, weil es von ihr (noch) keine Denkmäler gibt.
Wer etwas über die Veränderbarkeit von Gedankenräumen erfahren will, sollte Foucault lesen. Eine der Hauptfiguren in seinem philosophischen Blockbuster "Die Ordnung der Dinge" ist besagter Linn. In einer atemberaubenden Diskursanalyse beschreibt Foucault die Entstehung und den Wandel seines Erkenntnissystems, das sich wie eine Matrix, aber auch wie Gitterstäbe über die Welt legte.
Und der Begriff "episteme", der bei Foucault die Grenzen des jeweils historisch Denkbaren beschreibt, geht eben auch auf Kant zurück. In seiner Epistemologie genannten Theorie von der Erkenntnis postuliert gerade Kant, dass die begrenzte Perspektive des denkenden Menschen im Erkenntnisprozess nicht ausgeklammert werden dürfe. In der Vorrede zur ersten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" schreibt er: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal, durch Fragen belästigt" zu werden, "die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der
Vernunft selbst aufgegeben." Indes übersteigen diese Fragen "alles Vermögen der menschlichen Vernunft", wodurch sie "ohne ihre Schuld", in endlose Streitigkeiten mit sich selbst gerät. Die Idee des Universalismus ist ja wirklich universal; nur, wer zu den Menschen zählte, das hat sich in den vergangenen Jahrhunderten als verhandelbar erwiesen.
Das Denken, dessen Systematisierung Kant im Zuge der europäischen Aufklärung vorangetrieben hat, ist ewig unfertig, fehlerhaft, prozessual. Es wird ein Werkzeug geschaffen, zu dessen primären Zwecken die Arbeit an sich selbst gehört. Wie sehr es, wiewohl gut gemeint, in sein Gegenteil, das Böse, umschlagen kann, ist nicht zuletzt in der Philosophiegeschichte unter dem Hashtag "Dialektik der Aufklärung" gut dokumentiert. Fatal wäre, dieses mühsam gewonnene Denken in Ambi-valenzen aufzugeben zugunsten eines Manichäismus, der nichts kennt außer der Verehrung von Heiligen oder der Verachtung von Teufeln. Sonst bleibt es irgendwann nicht beim Stürzen von Statuen, diesen "unglücklichen Mischlingen von Gottheit und Stein", wie Heinrich Heine sie spöttisch-melancholisch nannte, sondern es erwächst handgreifliche Gewalt gegen Menschen, wo etwas anderes herrschen sollte - Verständnis, Verzeihen und das ruhige Zutrauen, es in Zukunft besser zu machen.
Quelle: welt.de vom 16.06.2020
Veröffentlicht am 15.06.2020
Emeritierter Professor für Kommunikationstheorie und Medienwissenschaften. Sein neues Buch "Die Avantgarde der Angst" ist soeben bei Matthes & Seitz erschienen.
Nach Säuberung der Sprache hat ein fanatischer Bildersturm begonnen.
Quelle: Universal Images Group via Getty Images, picture alliance / dpa/Horst Galuschka
Die Kunst der Skandalisierung ist unerschöpflich. In der Anthropologie Kants gibt es ein paar Bemerkungen, die jeder kennt, der Kant studiert hat. Nach den Maßstäben des Zeitgeistes könnte man sie als rassistisch bezeichnen. Dass man daraus heute den Funken der Medienaufmerksamkeit schlagen kann, weiß man, seit ähnliche Vorwürfe Shakespeare und Mark Twain getroffen haben. Hegel hat den Krieg gelobt, Nietzsche die Notwendigkeit der Sklaverei proklamiert, der hypersensible Walter Benjamin hat das Wort "Zigeuner" benutzt. Man könnte die Proskriptionsliste skandalöser Denker ins Unendliche verlängern. Für den heutigen Blockwart des Denkens gibt es vor 1968 eigentlich keinen großen Geist, dem man nicht irgendeine rassistische, militaristische oder frauenfeindliche Bemerkung nachweisen könnte.
Was hier geschieht, könnte man Tribunalisierung der Vergangenheit nennen. Die Politische Korrektheit greift auf das Denken über und tief in die Geschichte zurück. Dabei konzentriert sich der Hass auf die alten weißen Männer nun auf die alten weisen Männer. Das ist seit Mao sicher die extremste Form der Kulturrevolution. Konsequent ersetzen die Tugendwächter, das Denken durch Unduldsamkeit und Selbstgerechtigkeit.
Der Opferstatus macht mit seinem Pathos der Empörung jede Argumentation überflüssig. Dabei begnügen sich die neuen Jakobiner längst nicht mehr mit sprachhygienischen Maßnahmen. Wir erleben die Phase II der Politischen Korrektheit: fanatischen Bildersturm. Als wäre die Vergangenheit noch unabgeschlossen, wird Geschichte umgeschrieben. Kinderbücher werden gereinigt oder zensiert; eine gendergerechte Bibel befreit Gott von dem Makel, ein Vater zu sein; Straßen werden umbenannt und Statuen gestürzt. Die Taliban sind unter uns.
In Amerika ist das Wort "woke" zur Kennmarke dieser Bewegung geworden. Gemeint ist, dass die moralistischen Maßstäbe der "Schneeflocken" auch an die Vergangenheit angelegt werden. Diese Woke- und Cancel-Kultur ist die autoritärste, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Man will nicht mehr verstehen, sondern aburteilen. So ist Zolas "J'accuse" zur Weltuniform der politi-schen Agitation geworden. "Rassistisch" funktioniert dabei weltweit als Passepartout-Wort, das den neuen Jakobinern den Zugang zu Medien und Politik eröffnet. Und das gilt leider auch für Wissenschaftler, die auf fröhlich sprudelnde Forschungsgelder setzen.
Dass nun auch Kant, der Philosoph der Aufklärung, zum Opfer der Tribunalisierer geworden ist, sollte jedem deutlich machen, dass hier das Schicksal des okzidentalen Rationalismus auf dem Spiel steht. Man kann Kant "zur Debatte" stellen, ohne ihn zu lesen. Denn Kant zu lesen, ist sehr anstrengend - und das kann man sich jetzt mit dem besten Gewissen ersparen. Das ist sicher ein wichtiges Motiv der geistigen Taliban: die Last der großen Geister zu entsorgen. Die Tribunali-sierung der Vergangenheit hat nämlich eine bedeutsame Entlastungswirkung. Man klebt dem großen Geist ein Label an und muss sich dann nicht mehr mit ihm beschäftigen. "Zur Debatte stellen" ersetzt das Studieren.
Quelle: welt.de vom 15.06.2020
Von Jürgen Kaube
20.04.2024, 15:53 Lesezeit: 7 Min.
Es gibt Revolutionen, die vollziehen sich ohne Ankündigung, ohne Blutvergießen und ohne öffentliches Aufgeregtsein. Der Revolutionär weiß nicht einmal, dass er einer ist. Er schaut nicht in die Zukunft und bringt doch, ohne Absicht, etwas vollkommen Neues hervor. Er lebt auch nicht in Paris, London oder Moskau, wo man sich allenfalls Revolutionen vorstellen kann. Sondern er lebt unter dem Namen Immanuel Kant als Professor der Philosophie in Königsberg, das er zeit seines Lebens nicht verlassen wird.
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Dort führt er ein kommodes Leben. Die Königsberger stellen die Uhr nach ihm, so regelmäßig ist es. Jahrelang schreibt er dort über die Erdumdrehung, die Theorie des Himmels, die Theorie der Winde und die Theorie des Feuers sowie darüber, was man damals von Erdbeben wusste. Später publizierte er Abhandlungen über das Schöne im Unterschied zum Erhabenen, über die Krankheiten des Kopfes und über die Träumereien der Esoteriker seiner Tage. Seine erste Arbeit, die auch heute noch als philosophisch bezeichnet würde, galt den Voraussetzungen für eine optimistische Einstellung zur Welt. Sie erschien 1759. Das ganz Europa erschütternde Erdbeben von Lissabon lag da gerade erst vier Jahre zurück, und er war fünfunddreißig Jahre alt.
Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich gerade zum dreihundertsten Mal jährt, war dieser Revolutionär. Im fortgeschrittenen Alter legte er mit der "Kritik der reinen Vernunft" 1781, der "Kritik der praktischen Vernunft" 1788 und der "Kritik der Urteilskraft" 1790 drei Bücher vor, die alles änderten. Es konnte danach nicht mehr so gedacht werden wie zuvor. Die Auffassungen von Gott und der Moral, von der Kindererziehung, dem Schönen und den Naturwissenschaft gerieten ins Wanken. Fast nichts blieb von den Gedanken der Philosophie Kants unberührt.
Welche Gedanken waren das? Kant war zunächst Naturphilosoph, und er nahm Anteil am Aufstieg der neuzeitlichen Physik. Zugleich beschäftigte ihn das Problem, dass die Naturwissenschaften keine Antwort auf eine Reihe von Fragen zu geben vermochten, die sich dem Menschen aufdrängen. Gibt es etwas, das notwendig ist, weswegen wir etwas sicher wissen können? Existiert Gott? Haben wir Aussicht darauf, moralisches Verhalten vom Weltlauf unterstützt zu sehen? Gibt es eine Seele, und ist sie unsterblich?
Heute mögen viele dieser Fragen naiv oder entbehrlich klingen. Man kann sein Leben auch führen, ohne eine Antwort auf sie zu haben. Kann man es aber auch gut führen, ohne sie zu bedenken? Ein Philosoph wie David Hume hatte die "metaphysischen", also jenseits der Physik liegenden Fragen als Scheinprobleme bezeichnet. Wofür es keine empirischen Evidenzen gebe, damit müsse man sich nicht beschäftigen. Rätsel, die unlösbar sind, legt man besser beiseite.
Kant nahm diese Kritik ernst. Doch er fand, das metaphysische Bedürfnis, Fragen nach Gott, der Seele und dem Ganzen der Wirklichkeit zu stellen, entspringe derselben Vernunft, die sich kritisch zu voreiligen Antworten auf diese Fragen verhalte. Wir kommen nicht los, sagte er, von Fragen, die wir nicht beantworten können, und dieses Dilemma gehört in eine angemessene Beschreibung unserer Situation und Existenz.
Kants "Kritik der reinen Vernunft" hatte das Ziel, die hergebrachten Behauptungen der Philosophie zu zerstören, Beweise für das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und dergleichen metaphysische Wünschbarkeiten beibringen zu können. Doch bei diesem Zerstörungswerk, das ihm den Namen des "Alleszermalmers" eintrug, blieb er nicht stehen, denn er hielt dafür, dass Beweisbarkeit kein Kriterium für Vernünftigkeit ist. Auch das, was nicht bewiesen werden kann, hat Anspruch auf Prüfung und übt einen gedanklichen Zwang auf uns aus. Dass gut zu handeln auch dann richtig ist, wenn der Weltlauf sich dafür nicht interessiert, ist eine solche Gewissheit, die sich empirisch nicht demonstrieren lässt. Kant nennt diese Gewissheit ein "Faktum der Vernunft".
Rudar / StudioX
Die Vernünftigkeit des metaphysischen Fragens hat er aus der Form unseres Selbstbewusstseins herzuleiten versucht. Wir seien, hielt er den Psychologien aufklärerischer Machart entgegen, eben keine Wesen, die sich die Wirklichkeit assoziativ aus Sinneseindrücken zusammensetzen. Jeder Gedanke, den wir haben, müsse vielmehr auf alle anderen Gedanken desselben Ichs bezogen werden können. Alles, was wir für wirklich halten, hängt mit den Formen und Regeln zusammen, durch die wir unsere Erfahrungen zu den Erfahrungen eines konsistenten Ichs "synthetisieren" können.
Es war merkwürdigerweise Jean-Jacques Rousseau, dessen Schriften Kant auf den Weg zu diesen Überlegungen brachten. Merkwürdigerweise, denn es ist gar kein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen diesen beiden Temperamenten. Hier der ständig auf Reisen befindliche, sich ständig streitsüchtig in intellektuellen Konflikten bewegende, in Affären lebende und seine Biographie ausstellende Intellektuelle. Dort der Junggeselle, der sich in seinen Tischgesprächen philosophischen Streit verbat und nach dem man die Uhr stellte, was, der Anekdote zufolge, nur einmal nicht gelang, weil Kant über der Lektüre von Rousseaus Erziehungsroman "Émile" selbst die Zeit für seinen Mittagsspaziergang vergessen hatte.
Dieser Rousseau nun, der das kantische "Von uns selbst schweigen wir" am wenigsten beherzigte, hatte Kant zur Einsicht gebracht, dass alle Erkenntnis mit der Selbstvergewisserung des Erkennenden verbunden ist. Der berühmte Satz, Aufklärung sei der Auszug aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, enthält in diesem Sinne die Aufforderung, sich stets vom Nachbeten dogmatischer Sprüche ohne Erfahrungsbezug wie von der relativistischen Selbstverkleinerung des Geistes fernzuhalten.
Kant hat das außer in seinen schwierigen, oft auf verschlungenen Wegen der Argumentation sich bewegenden Hauptwerken in einer Vielzahl kleiner Schriften getan, die zu seinem Ruhm als Intellektueller führten. Sie handelten davon, was es heiße, sich im Denken zu orientieren, vom Misslingen aller Versuche, Gottes Güte zu beweisen, vom "Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis".
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Wie rigoros er dabei mitunter argumentierte, zeigt der kleine, durch Benjamin Constant ausgelöste Essay "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" von 1797. Constant hatte Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" so verstanden, dass nur solches Handeln gerechtfertigt sei, dessen Prinzipien ("Maximen") zu einem Gesetz für alle erhoben werden könnten. Lügen wären danach nie gerechtfertigt, denn sie zerstörten, verallgemeinert, die Wahrhaftigkeit menschlicher Kommunikation und das soziale Vertrauen. Der Einwand Constants war, dieser Rigorismus zerstöre seinerseits ein Zusammenleben, in dem es geboten sei, den Mörder zu belügen, der uns frage, "ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet habe". Solch ein Mörder habe kein Recht auf die Wahrheit.
Kant insistierte, Wahrhaftigkeit sei eine absolute Pflicht, auch der Mörder dürfe nicht belogen werden. Das Zusatzargument, vielleicht sei der Freund ja schon gar nicht mehr im Haus, wodurch die treuherzige Aussage dem Flüchtenden sogar helfe, weil der Mörder nun in den falschen Räumen suche, deutet an, dass es auch Kant nicht ganz wohl war mit dem fatalen Ehrlichsein. Der spätere Spott, beim kategorischen Imperativ handele es sich um eine ethische Fassung der Königsberger Polizeiordnung, hätte ihm jedenfalls zu Recht nicht gefallen.
Wirkung tat seine Philosophie weit über Preußen hinaus. Die "Kritik der Urteilskraft" beispielsweise, in der er Gedanken zur Schönheit in den Künsten und zur Zweckmäßigkeit in der Natur vereinigte, inspirierte eine ganze europäische Generation von Ästhetikern. Und das, obwohl Kants Erläuterungen für sein Verständnis der Einbildungskraft mehr aus dem Bereich von Tapetenmustern und Tabaksdosen stammten als aus dem Umgang mit großer Literatur oder Musik. Das konnte Schiller, Coleridge und Hölderlin nicht daran hindern, in ihren Gedanken an das "interesselose Wohlgefallen" und Kants Theorie des Erhabenen anzuschließen.
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Oder denken wir an das Völkerrecht. Es vergeht inzwischen keine Woche, in der nicht seine Schrift mit dem ironischen, einem Wirtshausschild in der Nähe eines Friedhofs entnommenen Titel "Zum ewigen Frieden" beansprucht wird, um sich in der Weltkonfliktordnung zurechtzufinden. Der Bundeskanzler hat für die Gedenkfeier zu Ehren Kants in der Berlin-Brandenburgischen Wissenschaftsakademie eine Rede über diese Schrift angekündigt.
Noch tiefgreifender waren die Wirkungen in der Pädagogik. Kant hatte dafür plädiert, die Kinder "nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglichen bessern Zustand des menschlichen Geschlechts angemessen" zu erziehen. Das Ziel des Unterrichts wäre danach, diejenigen weltbürgerlichen Gedanken und Einstellungen zu vermitteln, die Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften niedergelegt hatte. Anders formuliert: Unterrichtet werden soll, was in jeder denkbaren Zukunft den Erzogenen nützlich ist. Der berühmteste Satz in diesem Zusammenhang ist eine Frage und lautet: "Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?" Er bezeichnet die Grundspannung aller Erziehung als eine Anleitung zum Freiheitsgebrauch. Nach 1800 gibt es kein pädagogisches Werk, das sich nicht mit diesen Überlegungen auseinandersetzt und sie weiterentwickelt.
Der Fortgang der Philosophiegeschichte im neunzehnten Jahrhundert war nach der von Tübingen ausgehenden idealistischen Epoche ein ständiges "Zurück zu Kant!". Unabhängig davon, wozu die vielfältigen neukantianischen Versuche führten, die Welt der Ideen gegenüber den gewaltigen Erkenntnisgewinnen in den Naturwissenschaften und dem sie begleitenden Materialismus zu verteidigen, blieb Kant tatsächlich der Referenzpunkt fast aller philosophischen Schulen. Er hat, salopp formuliert, so gut wie keine Gegner, seine produktiven Leser - von Hegel und Schopenhauer, Cohen, Heidegger und Adorno - sind allenfalls untereinander zerstritten. Selbst das angebliche kontinentale Zerwürfnis der Philosophie in einen angloamerikanischen und einen europäischen Denkzusammenhang wird vom Bezug auf Kants Argumentationen überbrückt.
Nicht zuletzt das hat sein Werk jung gehalten. Wer sich ihm nähern möchte, sollte mit einer der kleinen Schriften beginnen, aber nicht dabei stehen bleiben. Im Darmstädter Schulunterricht lasen wir einst die "Kritik der reinen Vernunft" bis zum Kapitel über die "Transzendentale Deduktion". Das war eine Strapaze. Wir denken immer mit Vergnügen und Dankbarkeit für die Denkwelt, die sich dadurch öffnete, an sie zurück.