Aram Mattioli 27.06.2021, 05.30 Uhr
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Keine hundert Tage im Amt, setzte Joe Biden Ende April ein wichtiges geschichtspolitisches Zeichen. Als erster amerikanischer Präsident anerkannte er die vom jungtürkischen Regime im Osmanischen Reich seit 1915 betriebene Auslöschung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Genozid.
Mit der Einlösung dieses Wahlkampfversprechens berief er sich auf die am 9. Dezember 1948 von der Uno-Generalversammlung verabschiedete Genozidkonvention. Mit diesem Schlüsseldokument des Völkerrechts hatten sich die USA lange schwergetan.
Wenige Tage nach Bidens Erklärung erschien in der "Washington Post" ein Gastbeitrag. Darin argumentierten die Politikwissenschafter Glenn T. Morris und Simon Maghakyan, dass für die USA der Zeitpunkt gekommen sei, den Blick auf das Unrecht zu richten, das die Siedlerrepublik den First Peoples seit 1776 angetan habe.
Diese Verschickungen erinnerten an die Todesmärsche in die syrische Wüste, mit denen die Jungtürken das armenische Volk gezielt vernichten wollten. Kurz, auch die Amerikaner seien "Nutznießer eines Völkermords", und nur ihrer Amnesie wegen seien die "systematischen Verbrechen gegen die indigenen Nationen" nie staatlich anerkannt worden. Ohne dass diese geschichtspolitische Provokation eine nationale Debatte auslöste, verpuffte sie bereits im Ansatz.
Denn in ihrem Artikel bezogen die Autoren eine Extremposition, die in der Geschichtswissenschaft nur Außenseiter vertreten. Freilich bestreitet die große Mehrzahl der Universitätshistoriker auch nicht, dass die Gesamtzahl der Indianer von geschätzten 5 bis 7 Millionen um 1500 dramatisch auf 237.000 im Jahr 1900 einbrach.
Im Vergleich zu der Jahrtausende währenden präkolumbischen Epoche wirkten sich die 500 Jahre der euro-amerikanischen Kolonisation in Nordamerika für die First Peoples verheerend aus.
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Der Tod kam nicht allein durch Feuerwaffen, sondern vielfach durch neue Infektionskrankheiten. Vor zwanzig Jahren hat die Historikerin Elizabeth A. Fenn gezeigt, dass der Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783 von einer schweren Pockenepidemie begleitet war. Sie wütete in weiten Teilen Nordamerikas, forderte aber besonders in den indianischen Territorien viele Todesopfer.
Wie der Krieg war auch die Seuche in der Gegend von Boston ausgebrochen, bevor sie ihren Marsch entlang der Handelswege durch den Kontinent antrat. Die Epidemie riss mehr als 130.000 Menschen in den Tod und forderte damit zwei- bis dreimal so viele Opfer wie die Schlachten des Krieges. Fast 80 Prozent der Dahingerafften waren Indigene.
Unstrittig ist, dass Seuchenzüge mit ihren Zehntausenden von indigenen Opfern das Vordringen der amerikanischen Siedler in die demografisch geschwächten Gebiete der Great Plains erleichterten.
Obschon physische Gewalt während des "Winning of the West" offensichtlich eine Rolle spielte, geschah sie nicht hauptsächlich auf Anordnung der Bundesregierung. Keine der Administrationen in Washington verfolgte eine Politik, die alle First Peoples restlos physisch vernichten wollte. Es ergingen von der Hauptstadt keine entsprechenden Befehle an die Kommandanten der Frontierarmee.
Die Frontiergebiete waren besondere Kriegszonen, in denen der Staat anfänglich kaum präsent war. Das waren günstige Bedingungen, um das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen: Oft traten die neuen Eliten in den Territorien zusammen mit Siedlern als eigenmächtige Gewaltakteure in Erscheinung.
Besonders ausgeprägt war das im neuen Gliedstaat Kalifornien. Dort machten Goldschürfer und Siedler oft kurzen Prozess mit den Indigenen. Nachdem Yuki im Eden Valley 1859 drei Pferde eines reichen Ranchers getötet hatten, brach eine berittene Miliz unter dem Kommando von Walter J. Jarboe 1859 zu einer mehrmonatigen Strafaktion auf, während der sie Hunderte Indianer umbrachten. Kalifornien sandte insgesamt zwanzig Bürgermilizen zu solchen Vergeltungsaktionen aus. Das Parlament in Sacramento fand sich sogar zu einer Belohnung der Massenmörder bereit.
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Allerdings erweist sich der Genozidbegriff wenig geeignet, um die spezifischen Gewaltformen in siedlerkolonialen Kontexten zu erfassen. Denn die Genozidkonvention der Uno von 1948 entstand als unmittelbare Reaktion auf die Massenverbrechen des Großdeutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg.
Ihren Schöpfern standen die systematische Vernichtung des europäischen Judentums in der Shoah, aber auch weitere deutsche Verbrechen in Osteuropa und den besetzten Gebieten der Sowjetunion vor Augen. In ihrem Artikel 2 werden als Völkermord alle jene Handlungen definiert, die in der Absicht begangen werden, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
Unter diesen Straftatbestand fallen nicht nur die gezielte Tötung von Mitgliedern einer Gruppe und die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, Menschen schweren körperlichen oder seelischen Schaden zuzufügen, sondern unter anderem auch gezielte Kindswegnahmen und die Verhinderung von Geburten.
So wie die Uno mit ihren fünf Vetomächten die Machtverhältnisse nach 1945 abbildete, war auch die Genozidkonvention das Resultat eines politischen Kompromisses. Unter den Gruppentötungen blieben politisch motivierte Massenmorde, wie es sie unter Lenin und Stalin reihenweise gegeben hatte, ausgeklammert.
Wäre es nach dem polnischen Juristen Raphael Lemkin gegangen, der 1944 in seinem Buch "Axis Rule in Occupied Europe" Genozid als Begriff und Konzept prägte, hätte die Definition breiter ausfallen müssen. Denn Lemkin hatte die kolonialen Genozide in Afrika, Australien und in den beiden Amerika durchaus im Sinn.
In seinen theoretischen Überlegungen unterschied er drei Typen des Völkermords: den physischen, den biologischen und den kulturellen. Für ihn war die Essenz des Völkermordes sogar ganz und gar kulturell - ein "systematischer Angriff auf eine Gruppe und ihre kulturelle Identität; ein Verbrechen, das sich gegen die Differenz selbst richtet", wie es die Tel Aviver Rechtswissenschafterinnen Leora Bilsky und Rachel Klagsbrun auf den Punkt bringen.
Sicher trug die eng gefasste Definition von Genozid mit dazu bei, dass sich in Kanada und den USA, wo es ab 1880 Praxis war, indigenen Kindern ihr Indianischsein auszutreiben, "um den Menschen in ihnen zu retten", lange kein Unrechtsbewusstsein herausbildete. Die kulturelle Auslöschung geschah in Dutzenden von staatlich finanzierten und kirchlich geführten Internaten.
Die Internate gerieten in letzter Zeit in die Schlagzeilen, nachdem auf dem Gelände der Kamloops Indian Residential School in British Columbia ein unmarkiertes Massengrab mit 215 Kinderleichen entdeckt worden war. In diesen Erziehungsheimen gehörten Schläge, schwere Arbeit, Krankheiten und Unterernährung, aber auch Demütigungen und sexualisierte Gewalt zum Alltag.
Chris Helgren / Reuters
Das letzte dieser Internate schloss seine Tore erst 1996. Für viele der ehemaligen Insassen wirkt die Erfahrung bis heute traumatisch nach. Kanada steht schon Jahre im Bann dieses düsteren Geschichtskapitels. Eine staatlich eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission schätzte die in den Residential Schools praktizierten Methoden 2015 als "kulturellen Genozid" ein.
In den USA ist die Aufarbeitung dagegen über Anfänge nicht hinausgekommen. Die Boarding-Schools sind zwar wissenschaftlich gut erforscht, doch eine breite gesellschaftliche Debatte hat es über sie bisher nicht gegeben.
In Amerikas "Heartland" werden weiterhin Pioniermythen hochgehalten, die einer schonungslosen Betrachtung der Siedlerrepublik und ihrer Indianerpolitik im Weg stehen. Noch im vergangenen Sommer nahm Donald Trump den Schauspieler und Westernhelden John Wayne in Schutz, der 1971 in einem Interview kundgetan hatte, dass er an die "weiße Überlegenheit" glaube.
Doch die These von einer totalen Amnesie trifft nicht zu. Als das Bureau of Indian Affairs im Jahr 2000 sein 175-jähriges Bestehen feierte, nahm Kevin Gover, der Innenstaatssekretär für indianische Angelegenheiten, das Jubiläum zum Anlass, sich im Namen seiner Behörde für alles Leid zu entschuldigen, das diese ab dem frühen 19. Jahrhundert über die indianischen Nationen gebracht hatte.
In einer Rede vor Regierungsvertretern und Führern der indigenen Nationen drückte er sein tiefes Bedauern über die von seiner Behörde zu verantwortende "Hinterlassenschaft von Rassismus und Unmenschlichkeit" aus, die Zwangsumsiedlungen, Massaker, Landraub und kulturelle Auslöschung einschließe.
Im Dezember 2009 entschuldigte sich auch Präsident Barack Obama im Namen des amerikanischen Volkes bei den First Americans für "viele Beispiele von Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung", eine "schlecht durchdachte Politik" und "amtliche Verwüstungen".
Zwar fand diese präsidiale Entschuldigung in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht die Beachtung, die sie verdient hätte. Doch die Vorzeichen, dass da noch mehr kommt, stehen gut. Mit Deb Haaland wirkt seit wenigen Wochen erstmals in der Geschichte der USA eine indigene Politikerin als Innenministerin. Dieser Tage kündigte sie an, die Geschichte der Boarding-Schools - auch ihre beiden Grosseltern mütterlicherseits hatten diese Schulen durchlaufen - staatlich aufarbeiten zu lassen.
Aram Mattioli ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern mit Schwerpunkt neueste Zeit. 2017 erschien sein Buch "Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas" bei Klett-Cotta.
Quelle: NZZ vom 27.06.2021