(von lateinisch restitutio 'Wiederherstellung') steht für:
Restitution von Vermögenswerten, Rückübertragung von Vermögensgegenständen
Wiedergutmachung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg
Von Guido Mingels und Moritz Gerlach (Mitarbeit)
28.01.2024, 12.54 Uhr o aus DER SPIEGEL 5/2024
Foto: Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
"Wann muss ich denn nun raus?", ist der erste Satz von Gabriele Lieske, gleich zur Begrüßung, in der Tür ihres Hauses in Wandlitz nordöstlich von Berlin. Hier hat die 83-Jährige fast ihr ganzes Leben verbracht. Sie hat den Tisch im Wohnzimmer reich gedeckt für den Besuch, Brötchen, Butter, Fleisch, Käse, Kaffee, Tee, ein selbst gebackener Pflaumenkuchen. Unter der Eckbank liegt ein schwerhöriger alter Dackel namens Felix.
Ihr Sohn, Thomas Lieske, 59, der ebenfalls hier lebt, ist auch da, und auch dessen Sohn ist gekommen, Christopher Langner, 36. Draußen schneit es aus grauem Himmel, auch drinnen ist die Stimmung trüb. Die Familie Lieske soll ihr Haus und ihr Grundstück verlieren, wegen eines Unrechts, das vor 85 Jahren geschah, zur Zeit des Nationalsozialismus. Es ist eine Art Erbsünde, die über sie gekommen ist und für die sie nun büßen sollen, so empfinden sie es. "Bevor die mich hier rausholen", sagt Frau Lieske, "mache ich selber Schluss."
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Der Brief mit dem Bescheid vom Amt erreichte die Lieskes im September 2015. Es war ein großer brauner Umschlag, wie sich Thomas Lieske erinnert, und er verstand erst einmal gar nichts, als er damit in der Küche stand. Absender war das "Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen", das damals zum Finanzministerium gehört. Er und seine Mutter mühten sich durch die 16 Seiten Juristendeutsch, worin stand, dass die Flurstücke 158, 163 und 164 in 16348 Wandlitz, also ihr Haus, ihr Grundstück, ihre Heimat, "zurück übertragen" werden an die "Antragstellerin". Die Antragstellerin, so stand es im Brief, ist die Jewish Claims Conference, kurz JCC, eine Organisation mit Hauptsitz in New York, die Entschädigungsansprüche von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus als Rechtsnachfolgerin einfordert.
"Bevor die mich hier rausholen, mache ich selber Schluss."
Gabriele Lieske
"Noch nie gehört" habe er zuvor von alldem, was da unter "Sachverhalt" zu lesen war, sagt Thomas Lieske: dass das Haus der Familie einst, vor dem Krieg, Juden gehört hatte. Dass also sein Grundstück bis 1939 Eigentum von zwei jüdischen Frauen gewesen war, Alice Donat und Helene Lindenbaum. Dass die Frauen hier, ganz nah am schönen Wandlitzer See, ein Kinderheim betrieben hatten. Dass sein Urgroßvater mütterlicherseits, ein Textilfabrikant namens Felix Moegelin, den Frauen die Parzellen abgekauft hatte, für damals 21.500 Reichsmark. Lieske, geboren 1964 in der DDR, glatzköpfig, mit blassen Augen, Angestellter bei einem Autoservice, sagt: "Ich konnte das alles nicht glauben."
Die Lieskes erfuhren aus dem Brief weiter, dass Alice Donat 1943 und Helene Lindenbaum 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden waren. Sie lernten, dass der damalige Erwerb als "Zwangsverkauf" gilt, weil Juden und Jüdinnen vom NS-Staat gezwungen wurden, ihren Besitz aufzulösen.
Das Grundstück wurde von den neuen Eigentümern von einer Generation an die nächste vererbt oder verschenkt, und damit auch das Unrecht. Von Felix Moegelin, der 1943 starb, an seine Frau Josefa. Von Josefa Moegelin nach ihrem Tod 1961 an ihren Sohn Theodor. Von Theodor Moegelin 1979 an seine Frau Luise. Von Luise Moegelin 1993 an ihre Tochter Gabriele Lieske. Von Gabriele Lieske 1995 teilweise an ihren Sohn Thomas Lieske, die jetzt beide hier vor ihrem Pflaumenkuchen sitzen, ohne ihn zu essen.
Christopher Langner, Ururenkel des Käufers von 1939 und eigentlich der nächste Erbe, hatte geplant, auf der großen Parzelle für sich und seine junge Familie ein neues Haus zu bauen. Er hat einen vierjährigen Sohn, der im Sommer gern im Garten des Hauses spielt, das sein Urururopa von Jüdinnen erwarb. Aus dem Bauvorhaben "wird nichts mehr", sagt Langner.
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Der Fall Lieske ist einer der letzten seiner Art, womöglich sogar der letzte, genau weiß das niemand. Er steht am Ende eines langen historischen Prozesses, der in Westdeutschland schon kurz nach Kriegsende begann, im Osten aber erst nach der Wiedervereinigung. "Wir sind auf der Zielgeraden", sagt Jacqueline Bessé, die Sprecherin des zuständigen Bundesamts.
In dem Haus in Wandlitz spiegelt sich die deutsche Geschichte der vergangenen hundert Jahre wie in einer Camera obscura. Es geht bei diesem Fall um einen Teil der "Wiedergutmachung", um den Umgang mit der großen deutschen Schuld. Nach 1945 führten die Alliierten im Westen rasch Gesetze ein zur Rückerstattung von Eigentum an jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Erst 1990 folgte für Ostdeutschland zum gleichen Zweck das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen, auf dessen Grundlage der deutsche Staat seither Tausende von Fällen abwickelte. Die Jewish Claims Conference wiederum, 1951 gegründet, wurde zur Rechtsnachfolgerin bestimmt, die früheres jüdisches Eigentum zurückerhalten sollte, das von keinen Erben beansprucht wird - so wie im Fall des Grundstücks in Wandlitz. Die JCC unterstützt mit dem Geld Überlebende des Holocaust.
Spricht man mit Vertretern der JCC oder der zuständigen deutschen Behörde, dann spürt man eine Erleichterung darüber, dass sich eine große Aufgabe dem Ende zuneigt. Der gigantische Berg aus Anträgen ist abgearbeitet, Hunderte Verwaltungsbeamte waren über Jahrzehnte damit beschäftigt. "Irgendein Fall muss auch der letzte sein", so sagt es ein Mitarbeiter des Amts.
Für die Lieskes geht es um das Ende ihrer bürgerlichen Existenz. Wenn man seiner Großmutter zumute, "auf ihre alten Tage in eine Platte in Marzahn" umziehen zu müssen, sagt ihr Enkel Christopher Langner, dann überstehe sie das nicht. Wenn Thomas Lieske sein Haus verloren und die Verfahrenskosten bezahlt haben wird, "dann bin ich bei null", so behauptet er, dann sei er "ein Sozialfall".
In dieser Geschichte vergeht die Zeit nicht in ihrem gewohnten Tempo. In dieser Geschichte ist alles ungeheuer lange her oder hat unbegreiflich lange gedauert.
Es war kurz nach der Wiedervereinigung, im Jahr 1992, als die JCC beim deutschen Staat Anspruch auf Rückerstattung auf das Grundstück der Lieskes anmeldete, ebenso wie auf Zehntausende andere einst jüdische Vermögenswerte in den neuen Bundesländern. Doch bis zur Entscheidung der Beamten dauerte es volle 23 Jahre. In dieser Zeit wechselten die Aktenmeter mehrmals ihren Standort, als die Zuständigkeiten von den Gemeinden zu den Ländern und schließlich zum Bund übergingen. In dieser Zeit musste die dafür notwendige Verwaltung im Osten überhaupt erst aufgebaut, mussten die Grundbücher und Kataster neu angelegt werden. Seither sind noch mal gut acht Jahre vergangen, der Amtsschimmel und die zähen Mühlen der Justiz lähmten einander wechselseitig. Und die Lieskes lebten ahnungslos ihr Leben.
Wäre es ihre Pflicht gewesen, sich für die Historie ihres Hauses zu interessieren? Gabriele Lieske war drei Jahre alt, als sie nach Wandlitz kam; der Großvater und Käufer des Hauses war da gerade gestorben. Wer immer die Vorgeschichte kannte, sprach nicht davon, sagt die 83-Jährige heute. "Es war einfach nie ein Thema."
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Ein möglicherweise berechtigtes Gefühl. Denn tatsächlich wurde im Westen Deutschlands zwar ungleich früher mit Rückerstattungen begonnen, "man hat aber nur widerwillig restituiert, wenn überhaupt", wie der Historiker Jan Philipp Spannuth sagt. In seiner Dissertation "Rückerstattung Ost" beschreibt Spannuth anhand vieler Beispiele aus den Nachkriegsjahrzehnten, wie westdeutsche Gerichte es "den jüdischen Rückerstattungsberechtigten sehr schwer machten, ihre Ansprüche durchzusetzen", mittels "stiller Sabotage". Kurz: Die Wiedergutmachung im Westen war ebenso früh wie unzureichend, jene im Osten furchtbar spät, dafür gründlich. Und die Lieskes fühlen sich, als sollten sie für das Unrecht von gleich zwei Diktaturen zur Rechenschaft gezogen werden.
Die vielen Jahre, die ins Land gingen, sind dabei selbst zum Problem geworden, wie der Anwalt der Lieskes erklärt, Raffael Nath. Kurz nach der Wende, als es die Grundstücke in der Ex-DDR noch zum Tiefpreis gab, konnten von einer Restitution bedrohte Eigentümer die JCC oft auszahlen - sie kauften quasi ihr eigenes Stück Land zurück. "Dazu sind meine Mandanten aufgrund der enormen zeitlichen Verzögerung und der exorbitant gestiegenen Bodenpreise nicht mehr in der Lage", sagt Nath. 1992 betrug der Verkehrswert des Grundstücks rund 200.000 Euro - heute liegt der Marktwert bei etwa 1,5 Millionen. Wandlitz gehört mittlerweile zum Berliner Speckgürtel. Die Lieskes haben nicht die Mittel, um sich loszukaufen von der historischen Schuld ihrer Familie.
Gabriele Lieske, eine kleine Frau mit leiser Stimme, hat ihr Haus mit Nippes und Tand aus alter Zeit zugestellt, mit Ziertellern, Salzteigfiguren, Clownspuppen, Jagdgeweihen; Erinnerungen an schönere Jahre. Eine große Pendeluhr tickt die Stunden weg: zwölf Uhr mittags vorbei. Ihr Sohn hat jetzt eine Kopie des Kaufvertrags von 1939 aus einem Ordner gekramt. Das Dokument trägt das Hakenkreuz im Stempel, der involvierte Makler schließt seinen maschinengetippten Brief mit dem Grußwort "Heil Hitler!" ab.
Frau Helene Lindenbaum und Fräulein Alice Donat, so steht da, verkaufen ihre Grundstücke samt Bestand an den Fabrikanten Felix Moegelin, und zwar "einschließlich des Zubehörs", worunter eine "neue elektrische Pumpe", ein "Linoleumbelag" und die "Kellerausstattung" aufgelistet werden. Der Notar stellt außerdem fest, dass die Verkäuferinnen "auf Befragen erklärten: Wir sind Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze" und dass der Käufer "erklärte: Ich bin Arier". Dann weist der Notar die Beteiligten noch darauf hin, dass der Vertrag noch der "Genehmigung nach der Verordnung vom 3.12.1938" bedürfe.
Damit war die "Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens" gemeint, mit der Juden vom NS-Staat gezwungen wurden, ihr Grundeigentum zu veräußern, ihre Gewerbebetriebe abzuwickeln, ihre Wertpapiere abzugeben. Für ihre Ziele benutzten die Nazis Begriffe, die man heute nur zwischen Anführungszeichen verwenden kann: "Arisierung", "Entjudung der Wirtschaft". Es war das große Verbrechen, das dem allergrößten voranging: die Ausplünderung der Juden vor ihrer Vernichtung.
Es existiert ein Brief von Alice Donat an den "Herrn Fabrikanten Moegelin", in dem sie sich im April 1939 darüber beschwert, dass der Käufer ihres Hauses den Umfang des miterworbenen Inventars allzu großzügig auslegt. Es geht um eine "ärztliche Waage", wie sie wohl in Kinderheimen zum Einsatz kam, die Donat nicht hergeben wollte. "Wenn man vielleicht mit einem Schimmer von Recht annehmen kann", formuliert Donat, dass "die von Ihnen einbehaltenen Sachen" als Zubehör des Wohnhauses betrachtet werden können, so sei dies "von der Waage bestimmt nicht zu sagen". Unterdrückte Wut klingt aus den Zeilen, ein Anflug von Auflehnung gegenüber der Ungerechtigkeit dieses Handels.
Das Kinderheim Donat-Lindenbaum hatte seine Adresse in der Schönhauser Allee 164 in Berlin, das Haus in Wandlitz war offenbar eine Außenstation, ein Sommerdomizil für die Kinder. Leider sind keine Bilder überliefert aus jener Zeit, weder vom Originalgebäude, das nicht mehr steht, noch von den Vorbesitzerinnen des Grundstücks, doch es muss für eine Weile ein Ort des Glücks gewesen sein.
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Dass man überhaupt etwas weiß darüber, verdankt sich dem Zufall, dass ein einstiger Zögling das Haus viel später in seinen Memoiren erwähnt: "Erinnerungen an eine Kindheit im Holocaust" lautet das Buch von Emanuel Berger, einem elternlosen jüdischen Jungen aus Berlin, den Alice Donat ebenso wie seinen jüngeren Bruder als Pflegesohn angenommen hatte. Berger, geboren 1928, überlebte mehrere Konzentrationslager und starb 2013 in Australien.
"Am Abend kam Tante Alice und las etwas aus einem Buch vor, eine Gutenachtgeschichte. Bei schönem Wetter aß man draußen an langen Tischen und Bänken", so schreibt Berger über ein paar sorglose Tage auf dem späteren Grundstück der Lieskes, im "Ferienhaus am Wandlitzer See". Gleichzeitig bemerkt der Junge, wie die Bedrohungen um ihn herum wachsen. Die Nachbarn jenseits des Zauns, deren "Ausdrucksformen des Hasses" Berger kennenlernt, waren offenbar "Menschen, die glücklich spielende jüdische Kinder einfach nicht verkraften konnten". Und als er und sein kleiner Bruder Erwin, der später von den Nazis ermordet wurde, einmal bei einem Spaziergang "auf ein kleines Lager der Hitlerjugend" am See stießen, "verkrümelten wir uns schnellstens: Für Juden gab's nichts Friedliches mehr in Deutschland".
Das heutige Wandlitz wirbt mit dem Slogan "Echt schön hier" für sich. Seine Gemeinde werde auch als "Grunewald des Nordens" bezeichnet, sagt der Bürgermeister Oliver Borchert in seinem Büro. Unter den 25.000 Einwohnern gebe es zahlreiche Hauptstadtpendler, und "im Sommer haben wir viele Berliner Ausflügler an unseren Seen". Bekannt wurde der Ort aber vor allem wegen der nahe gelegenen "Waldsiedlung Wandlitz", einem geschlossenen Wohnkomplex aus Einfamilienhäusern, in denen ab 1960 die gesamte DDR-Polit-Elite samt Familien lebte, Erich und Margot Honecker, Walter Ulbricht, Egon Krenz und viele mehr. Nein, sagt der Bürgermeister, vom Fall Lieske habe er noch nie gehört.
Im Sitzungssaal 1 des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder), zweites Obergeschoss, tagt im vergangenen September die 4. Kammer unter dem Vorsitz des Richters Ralf Krupski. Die Lieskes haben Klage eingereicht gegen die Rückübertragung ihres Grundstücks, an diesem Tag steht die Entscheidung an. Eine Justiziarin des Bundesverwaltungsamts ist da und vertritt die Bundesrepublik Deutschland, die den Lieskes das Haus wegnehmen will. Ein Anwalt aus Frankfurt am Main vertritt die JCC, die das Grundstück anschließend verkaufen möchte. Anwalt Nath aus München vertritt die Familie aus Wandlitz, die das, was sie als ihr rechtmäßiges Eigentum betrachtet, behalten will.
Vor den Lieskes sitzen erhöht die fünf Richter. Die Verhandlung ist öffentlich, doch auf den Publikumsplätzen sitzt niemand außer dem Reporter. Ein Wappenadler äugt von der Wand herunter. Die Lüftung surrt.
Richter und Anwälte sind gut gelaunt und lachen zu Verhandlungsbeginn kollegial über irgendetwas. Die Lieskes gucken zu und lachen nicht mit. "Fehlt noch etwas im Sachverhalt?", fragt der Vorsitzende die Parteien und blättert durch seine Akten. Schnell wird deutlich, dass der Fall rein rechtlich längst entschieden ist.
Um zu belegen, dass es sich beim damaligen Kauf um einen "redlichen Erwerb" und nicht um ein Unrechtsgeschäft handelte, so führt der Richter jetzt aus, müssten die Lieskes laut Gesetz drei Dinge nachweisen. Erstens, dass der Kaufpreis angemessen war, dass also die Notlage der jüdischen Eigentümerinnen nicht ausgenutzt wurde. Zweitens, dass die Verkäuferinnen tatsächlich über die Kaufsumme verfügen konnten, ihnen das Geld also nicht verweigert oder abgenommen wurde. Drittens, dass der Handel in gleicher Weise "auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus" zustande gekommen wäre, wenn es also die Nürnberger Gesetze oder Naziverordnungen wie jene zur "Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" von 1938 nie gegeben hätte.
Dass der Kaufpreis in Ordnung war oder sogar leicht über dem damaligen Einheitswert lag, Punkt eins, erkennt der Richter noch an. Doch Punkt zwei lässt sich nicht belegen. Und Punkt drei schon gar nicht.
Gabriele Lieske scheint noch tiefer in ihren Stuhl zu sinken, als der Richter das Maß des Grauens schildert, das den jüdischen Vorbesitzerinnen ihres Grundstücks bald nach dem Verkauf widerfuhr. Es gebe in den Akten, trägt der Richter vor, den sogenannten "Heimeinkaufvertrag" von Frau Lindenbaum und ihrem Mann, Karl Lindenbaum, der im Ersten Weltkrieg noch für Deutschland in Frankreich gekämpft und dafür das Eiserne Kreuz erhalten hatte. Das jüdische Ehepaar habe sich seine Plätze im Konzentrationslager Theresienstadt erkaufen müssen, mit seinem ganzen Restvermögen. Man bezahlte für Kost und Logis bei der eigenen Ermordung. "Menschenverachtender geht es eigentlich nicht", sagt der Richter.
Gleichzeitig, das spürt man, hat der Richter durchaus Mitleid mit den Klägern und versucht sich an einer Trostrede. Sie müssten sich keinerlei Vorwürfe machen, sagt er zu Thomas Lieske und seiner Mutter gewandt. Es sei einfach "eine ziemlich unglückliche Situation". Es gebe nun mal "Dinge, die passieren, ohne dass man es in der Hand hat".
Das Gericht hat ein Dilemma vor sich. Die Paragrafen des Gesetzes und die Sachlage lassen nur den Schluss zu, dass die Lieskes im Unrecht sind. Doch die beiden trifft "nichts, was man im Entferntesten als Verantwortung bezeichnen könnte an dieser Geschichte", wie der Richter zu ihnen sagt. Wie stellt man Gerechtigkeit her in so einem Fall?
"Ich dachte, Sippenhaft gibt es nicht in Deutschland."
Thomas Lieske
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Vielleicht mit einem Vergleich, wie ihn der Richter jetzt vorschlägt: Könnten die Lieskes nicht den unbebauten Großteil ihrer Parzelle abtreten, aber das Stück behalten, auf dem die Gebäude stehen, etwa ein Drittel der Fläche, um dort wohnen zu bleiben? Für dieses Reststück müssten die Lieskes die Jewish Claims Conference jedoch entschädigen. 50.000 Euro wäre die Familie maximal aufzubringen fähig, der Enkel würde dem Vater und der Großmutter beispringen, er hat einen guten Job. Allerdings liegt der Marktwert schon dieses Teilstücks bei rund 400.000 Euro.
Der Anwalt der JCC ist nicht begeistert. Wenn er so ein Angebot annähme, sagt er, würden seine Auftraggeber in New York sagen, warum in aller Welt er auf 350.000 Euro verzichtet habe. Man wird sich nicht einig.
Verhandlungspause, die Streitparteien stehen draußen vor der Tür, manche rauchen. Gabriele Lieske, den Tränen nahe, blickt zu ihrem Anwalt auf und sagt: "Ich komme mir vor, als wenn ich die Juden umgebracht hätte." Sie werde hier als Täterin dargestellt.
Ihr Enkel, Christopher Langner, redet derweil energisch auf die Frau vom Amt ein, die den Staat vertritt: "Meine Oma überlebt das nicht. Wenn das hier so ausgeht, wie es jetzt aussieht, dann haben Sie eine 83-jährige Frau auf dem Gewissen."
Die Frau vom Amt weist das zurück. Sie mache hier nur ihren Job.
Enkel, lauter: "Ja, die Argumentation gab's damals auch. Das will ich nicht mehr hören!"
So seien nun mal die Gesetze, sagt die Frau vom Amt. Sie rät dazu, gegen die Gesetze vorzugehen.
Der Anwalt der Jewish Claims Conference, Zigarette im Mund, sieht durchaus die schwierige Lage bei den Lieskes. Aber er verweist darauf, dass die JCC nun mal eine gemeinnützige Organisation ist, mit einer Satzung, einem Vereinszweck. Gerade jetzt, so erzählt er, würde die JCC Holocaustüberlebende in der Ukraine unterstützen, die ihr Land verlassen müssen wegen des russischen Angriffskriegs.
Thomas Lieske: "Aber damit habe ich doch nichts zu tun. Ich bin doch nicht dafür verantwortlich."
Aufgabe seines Vereins sei es, Juden zu unterstützen, sagt der JCC-Anwalt. Hingegen sei es nicht seine Aufgabe, denen zu helfen, die 1939 Liegenschaften von Juden gekauft hätten. Er verweist auf die Fakten, die das Gericht festgestellt hat.
Die Sätze purzeln durcheinander.
Enkel, kopfschüttelnd: "Das ist doch Wahnsinn, was hier passiert."
Thomas Lieske: "Ich werde hier in Sippenhaft genommen. Ich dachte, Sippenhaft gibt es nicht in Deutschland."
Lieske-Anwalt: "Wir müssen alle versuchen, ruhig zu bleiben."
Das Gericht in Frankfurt (Oder) lehnt an diesem Tag die Klage der Lieskes gegen die Rückerstattung ihres Grundstücks ab. Es bleibt der Familie nun nur noch der Weg vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.