Veröffentlicht am 09.03.2018 | Lesedauer: 4 Minuten
Von Sven Felix Kellerhoff
Leitender Redakteur Geschichte
Die Regierungskommission hatte einen delikaten Auftrag: Ihre drei Mitglieder sollten überprüfen, ob man Juden aus dem eigenen Land im Hochland von Madagaskar ansiedeln könne. Mit ganz offizieller Erlaubnis der Regierung in Paris reisten die Beauftragten 1937 in die französische Kolonie im südwestlichen Indischen Ozean.
Die drei wurden sich jedoch nicht einig; ihre vollständig entgegengesetzten Eindrücke schilderten sie nach der Rückkehr: Ein Mitglied meinte, es sei genug Platz für 40.000 bis 60.000 jüdische Einwanderer, die beiden anderen sahen höchstens Lebensgrundlagen für 2000 oder noch weniger Europäer. Trotzdem verhandelte der Außenminister der Regierung im Jahr darauf mit der französischen Regierung, ob man rund 400.000 Hektar Land auf der Insel pachten könne, um hier jährlich 30.000 jüdische Familien anzusiedeln, die ihre Heimat verlassen sollten. Insgesamt sollte es sich um eine gute halbe Million Menschen handeln.
Die Regierung, die diesen Plan ernsthaft erwog, saß nicht etwa in Berlin, bestand auch nicht aus nationalsozialistischen Judenhassern. Sie amtierte in Warschau. Der amerikanische Historiker Peter Hayes weist in seinem lesenswerten Buch "Warum? Eine Geschichte des Holocaust" auf die meist vergessene oder verdrängte Vorgeschichte des zu Recht berüchtigten "Madagaskar-Plans" der SS hin. Da die Abschiebung Hunderttausender polnischer Juden auf die Insel nie konkretisiert wurde (ebenso wenig übrigens wie der Plan der SS, der nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zum industriellen Massenmord war), wäre sie eigentlich nicht wichtig. Durch das jüngst in Kraft getretene sogenannte Holocaust-Gesetz Polens hat sich das jedoch geändert.
Noch gibt es keine Klage einer polnischen Organisation gegen Hayes; jedenfalls ist nichts darüber bekannt. Nach den vagen Vorgaben des Gesetzes wäre es jedoch denkbar, den Historiker in Polen juristisch zu verfolgen. Paragraf 55a untersagt es, der polnischen Nation oder dem polnischen Staat eine Mitverantwortung an der Vernichtung der europäischen Juden zu geben.
Was heißt das? Unstrittig ist, dass die vor allem im englischen Sprachraum gelegentlich benutzte Wendung "polish death camps" völlig falsch ist, da es sich um von Deutschen auf dem Boden des besetzten Polens errichtete Vernichtungslager handelte. Die Verwendung des Adjektivs "polish" hat jedoch im Englischen eine stärker geografische als kausale Färbung. Viel heikler am Gesetz ist, dass damit nahezu beliebige andere Feststellungen mit Strafen bedroht sind. Ursprünglich setzte die Regierungspartei PiS schon 2008 eine frühere Form dieses Gesetzes durch, die sich noch stärker gegen die Veröffentlichungen des polnischstämmigen Princeton-Historikers Jan T. Gross richtete. Er hatte im Buch "Nachbarn" an einen wesentlich oder ausschließlich von polnischen Katholiken begangenen Mord an etwa 340 Juden im Juli 1941 erinnert.
Zwar sollen offiziell Äußerungen im wissenschaftlichen oder künstlerischen Kontext von Strafverfolgung ausgenommen sein. Aber was ist ein Buch eines Historikers, das sich an das breite Publikum richtet - geschützte Wissenschaft oder nicht geschützte Publizistik? Angesichts der Tatsachen, die Peter Hayes zum Verhalten mancher Teile der polnischen Gesellschaft vor 1939 zusammengestellt hat, dürfte er bald mit einer Anzeige in Polen zu rechnen haben. Über den polnischen Madagaskar-Plan von 1937/38 kann man zwar auch in der Internetenzyklopädie Wikipedia nachlesen, doch Hayes bringt hierzu aus verschiedenen Quellen weitaus mehr Fakten. Und er stellt weitere, ansonsten nur verstreut zu findende Beispiele für polnischen Antisemitismus zusammen. Aufgrund judenfeindlicher Übergriffe an Polens Universitäten ging die Zahl jüdischer Studenten von 1928 bis 1938 um fast zwei Drittel zurück, von 20,4 auf 7,5 Prozent. Ab 1937 gab es für Juden unter den Studenten speziell gekennzeichnete Sitzbänke in den Hörsälen. Juden verloren alle Funktionen in Geschäften der staatlichen Monopolverwaltung wie dem Tabak-, Alkohol- und Bauholzhandel. Fast alle jüdischen Mitarbeiter der nationalen und kommunalen Verwaltung wurden entlassen oder zum "freiwilligen" Ausscheiden gedrängt, ebenso bei Eisenbahn und Post.
Das "Lager der Nationalen Vereinigung", in dem sich die Unterstützer der nach dem Tod von Staatsgründer Józef Pilsudski amtierenden Regierung sammelten, nahm keine jüdischen Mitglieder auf. Polens katholischer Primas, Kardinal August Hlond, veröffentlichte 1936 einen Hirtenbrief, der den Juden vorwarf, "die Vorhut der Gottlosigkeit, der bolschewistischen Regierung und revolutionärer Umtriebe" zu sein:
"Es ist eine Tatsache, dass der jüdische Einfluss auf die Moral verderblich ist."
Auf 20 Seiten stellt Hayes in seinem Buch Beispiele für polnischen Antisemitismus vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Noch wesentlich mehr konkrete Einzelfälle kann man in einem 2005 erschienenen Sammelband des US-Historikers Robert Blobaum über "Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland" finden.
All das ändert gar nichts am Zivilisationsbruch des von Deutschland ausgehenden und überwiegend von Deutschen begangenen Massenmords an rund sechs Millionen europäischen Juden, darunter drei Millionen aus Polen. Es zeigt aber: Der Versuch der PiS-Regierung, mittels Gesetz das offizielle Bild des reinen "Opfervolkes" festzuschreiben und Abweichungen davon unter Strafe zu stellen, geht in die Irre.
Quelle: welt.de vom 09.03.2008