zur Erinnerung
Welche Rolle Polens im Holocaust?
Kulturpalast in Warschau Ein Teufel von einem Turm

Aus Warschau berichtet Nadia Pantel

18.08.2024, 07.52 Uhr o aus DER SPIEGEL 34/2024

Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Wie diese Geschichte entstanden ist
Zum ersten Mal besichtigte Reporterin Nadia Pantel (r.) den Warschauer Kulturpalast vor 20 Jahren bei einer Exkursion im Geschichtsstudium.

Sie lernte: Dieser Turm kommt von Stalin und erinnert die Polen daran, welche Gefahr von Russland ausgehen kann. Als Pantel 2013 nach Warschau zurückkehrte, stand sie auf einmal zwischen lauter Tanzenden auf dem Vorplatz des Palasts. Hier finde man die besten Partys, wurde ihr erklärt.

Für den SPIEGEL ging sie nun den Widersprüchen dieses Gebäudes auf den Grund. Dafür sprach sie unter anderem mit der 88-jährigen Schauspielerin Irena Jun, die alle Höhepunkte ihrer Karriere im Kulturpalast feierte und die über ihn sagt: "Er ist wie ein Verwandter vom Dorf, geschmacklos gekleidet und auffällig grobschlächtig." "Der Turm", sagt Pantel, "ist von einem Symbol der sowjetischen Unterdrückung zu einem Symbol der Energie und Widerstandskraft geworden, die Warschau ausmachen."

Der Warschauer Kulturpalast war ein Geschenk Stalins, das die Polen erst hassten und dann lieben lernten. Wie der Turm zum Wahrzeichen einer selbstbewussten Stadt wurde - und zu Europas coolstem Monument.

Warschauer Stadtansicht mit Kulturpalast: Entstanden als gigantischer Mittelfinger, inmitten einer Wüste aus Schutt und Staub
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Ganz oben gehört der Palast den Greifvögeln. An der Tür, die zur Turmuhr führt, hängt ein Zettel: "Bitte verhalten Sie sich ruhig, Wanderfalken schlüpfen". Man schaut also schweigend hinunter auf Warschau, auf Wolkenkratzer und auf Wohntürme, die mit 20 Stockwerken klein wirken.

Erst hier oben spürt man, dass dieses Gebäude nicht nur hoch ist, sondern übertrieben hoch. 44 Stockwerke, 230,68 Meter.

Blick auf Warschau: Hochhäuser, die klein wirken
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Bei seiner Eröffnung 1955 war es das achthöchste Gebäude der Welt. Der Warschauer Kulturpalast ragt nicht etwa so steil hinauf, weil auf dem Boden der Platz knapp gewesen wäre, sondern weil er den Betrachter überwältigen sollte. Als 1952 die Bauarbeiten begannen, waren nach der deutschen Besatzung die Häuser und Straßen der Stadt fast vollständig zerstört. Und mitten in eine Wüste aus Schutt und Staub wurde ein Turm gepflanzt, den noch heute manche so beschreiben, wie er möglicherweise gemeint war: als einen gigantischen Mittelfinger. Eine imperiale Überlegenheitsgeste, ein sogenanntes Freundschaftsgeschenk - von Sowjetherrscher Josef Stalin persönlich.

Ein Teufel von einem Turm - könnte man meinen. Bis man einen Warschauer Souvenirladen betritt und überall seine hohe, schmale Silhouette sieht. Der Kulturpalast wird auf Magnete und Socken gedruckt, auf Postkarten, Notizbücher und Kaffeetassen. Alle hassen Stalin, aber jeder liebt sein Haus?

Als hätte jemand einen Ballsaal mit Wasser gefüllt

40 Stockwerke unter den Wanderfalken läuft der Sportlehrer Bart?omiej Krynicki auf Fischgrätparkett von der Musicalprobe zur Rollschuhbahn und sagt: "Wer glaubt, man müsse den Palast abreißen, hat nichts verstanden." Krynicki joggt fast, er hat wenig Zeit und will alles zeigen. Die Theaterbühnen, die Bibliothek, die Sporthallen, die Werkstätten und schließlich das Herzstück: ein von Marmortribünen eingefasster Swimmingpool, 4,80 Meter tief. Krynicki hat hier seinen Tauchlehrerschein gemacht. Vom Zehnmetersprungturm blickt man auf golden gerahmte, raumhohe Säulen. Es sieht aus, als hätte jemand einen Ballsaal mit Wasser gefüllt.

Schüler im Palastschwimmbad: Wie ein Ballsaal mit Wasser gefüllt
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Seit zwei Jahren leitet der 52-jährige Krynicki den "Palast der Jugend", der einen der Seitenflügel des Gebäudes ausfüllt. Tausende Kinder besuchen dort erschwingliche Musik-, Sport- und Theaterkurse, öffentlich subventioniert. Krynicki hat hier vor mehr als 40 Jahren schwimmen gelernt und ist als Jugendlicher mit dem palasteigenen Fahrschulauto durch Warschau gefahren. "Für viele Familien ist der Palast seit Generationen ein Zuhause", sagt Krynicki und erzählt, dass er manchmal barfuß über den Holzfußboden geht, weil er sich hier so wohlfühlt. Natürlich wisse er, dass Stalin den Palast bauen ließ, aber heute gehöre er keinem Diktator, sondern Menschen wie ihm.

Aus dem Archiv

Der Eiffelturm mag bekannter sein, das Kolosseum ist älter, der Turm von Pisa ist zweifellos schiefer. Aber keines dieser Bauwerke erzählt so viel von der jüngeren europäischen Vergangenheit wie der Kulturpalast. Vom Trauma des Krieges und vom Wiederaufbau, von deutscher Verheerung, russischer Aggression und polnischem Widerstandsgeist. Von den Wildwestjahren des Kapitalismus der Neunzigerjahre und davon, wie die polnische Zivilgesellschaft von 2015 bis 2023 gegen den dumpfen Nationalismus der PiS-Regierung kämpfte.

Konferenzraum Sala Rudniewa: Geschichten von Aggression und Widerstandsgeist
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Der Kulturpalast ist eine Stadt. Nur eben eine vertikale, alles stapelt sich übereinander. Vielleicht sollte jemand einen Panoramafahrstuhl bauen, mit dem man an den Sehenswürdigkeiten des Palastes vorbeigleiten kann. So wie die Miniaturzüge, die durch Touristenstädte fahren. Attraktion links, Attraktion rechts, bitte sitzen bleiben.

"Alle sind von dem großen Prachtwerk überwältigt"

Beginnt man im zweiten Kellergeschoss, riecht es zunächst nach Katzenurin. Acht Palastkatzen kontrollieren die Nagetierpopulation. Hinter dem Katzenklo liegt der Eingang zu einem improvisierten Museum. Ein Mitarbeiter der Verwaltung hat Vitrinen aufgestellt, dort lagert die Schere, mit der das rote Band am Eröffnungstag durchgeschnitten wurde. Außerdem ein Gästebuch mit einem Eintrag von 1956: "Alle sind von dem großen Prachtwerk überwältigt." Unterzeichnet von der "Pionierdelegation der Antifaschistischen Widerstandskämpfer" aus der DDR. Neben den Schaukästen stehen einige der Stühle, auf denen die Menschen saßen, die sich 1967 im Kulturpalast die Rolling Stones anhörten. Es gibt kein Hinweisschild für dieses Museum, es ist eher ein liebevoll kuratierter Abstellraum. Verirrt man sich dorthin, hält einen niemanden auf.

Museum im Keller: Liebevoll kuratierter Abstellraum
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Ähnliches gilt für die Prunksäle im zweiten und vierten Stock. Das Parkett ist in Sternmustern gelegt, die Schritte hallen. Inmitten welcher anderen europäischen Hauptstadt darf derart viel Platz und Pomp vor sich hin schlafen?

Will man es wuseliger, geht man zur Postfiliale im ersten Stock. Oder ins Evolutionsmuseum, ins Technikmuseum, in die Spinnenaustellung. Auf 44 Stockwerken verteilen sich vier Theater, die Hochschule für angewandte Wissenschaften, die Akademie für Fotografie, die Privatuniversität Collegium Civitas, eine Medienhochschule und sieben Cafés, Bars und Restaurants. Außerdem 70.000 Quadratmeter Bürofläche und 40 Konferenzsäle. Im Untergeschoss befindet sich ein Kino. Dort saßen im vergangenen Dezember die Warschauer zu Hunderten und schauten sich eine Liveübertragung aus dem polnischen Parlament an. Als Donald Tusk als neuer Premierminister vereidigt wurde, jubelte der ganze Kinosaal.

Der Palast als Fixpunkt der Opposition

Der Palast war 2015 nach dem Wahlsieg der rechtspopulistischen PiS zum Fixpunkt der Opposition geworden. Auf dem riesigen Vorplatz demonstrierte eine neu erstarkte Frauenbewegung gegen das Abtreibungsverbot und für den Rechtsstaat. Die Palastfassade wurde zur Leinwand auf die mal eine Regenbogenfahne, mal ein roter Blitz projiziert wurde, das Symbol des "Frauenstreiks". 2017 kippte der Protest ins Abgründige: Piotr S. , 54, zündete sich auf dem Vorplatz an und starb. Er wollte seine Tat als politischen Widerstand gegen die PiS-Regierung verstanden wissen. Nachdem die Koalition um Tusk 2023 die Regierung übernahm, leuchtete das Gebäude rot und weiß, wie sonst nur an Nationalfeiertagen. Dazu verkündete der Turm auf seinem Facebook-Profil: "Es ist Zeit für ein glückliches Polen."

Flur mit Marmorsäulen und Fischgrätparkett: 44 Stockwerke Platz und Pomp
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Dabei kann man dem Palast nicht vorwerfen, allzu eng mit der neuen Regierung befreundet zu sein. Der aktuelle Außenminister und Tusk-Vertraute Radoslaw Sikorski fordert seit Jahrzehnten, dass man das Gebäude abreißen müsse. Zum einen fresse es so viel Strom wie eine Stadt mit 30.000 Einwohnern. Zum anderen könne seine Zerstörung einen "Moment der Katharsis" herbeiführen, der Polen von seiner kommunistischen Vergangenheit erlöse.

Tatsächlich stellte sich 2022 nach Russlands Ukraineinvasion die Frage neu, wie politisch der Sandsteinriese ist: Putin bekämpft die Ukraine, weil er sich weigert, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen. Stalin ließ den Kulturpalast bauen, um Warschau als Teil des sowjetischen Blocks zu markieren. Nach dem Angriff auf Kiew hätte der Kulturpalast wie ein vergifteter Anker wirken können, wie etwas, das Warschau auch nach Jahrzehnten noch an Moskau kettet.

"Wie schön, dass Sie hier sind"

Doch der Palast hat sich längst befreit. Als die ersten Flüchtenden aus der Ukraine mit dem Zug am Hauptbahnhof von Warschau ankamen, ließ die Verwaltung des Kulturpalastes das Gebäude blau und gelb anstrahlen. Vom Bahnhof zum Kulturpalast sind es nur wenige Hundert Meter. Der Turm wurde zur ersten Anlaufstelle der Geflüchteten, von hier aus wurden Hilfe und Spenden organisiert. Beim Skatepark hinter dem Palast unterhalten sich Jugendliche auf Ukrainisch. Manche haben ihre Namen in die nördliche Außenmauer geritzt.

Hinter dieser Mauer befindet sich das Teatr Studio. Dort arbeitet die Schauspielerin Irena Jun. Der Beginn ihrer Karriere liegt beinahe so lange zurück wie der Bau des Kulturpalastes. Jun betritt den Raum am Arm einer Kollegin und geht dabei so elegant, als hielte sie die stützende Hand nur aus Sympathie, nicht weil sie Hilfe braucht. Irena Jun ist 88 Jahre alt, aktuell ist sie in einem Ein-Frau-Abend auf der Bühne zu sehen, in dem sie eine Figur spielt, die zwischen Göttin und Hexe changiert. "Wie schön, dass Sie hier sind", sagt sie.

Schauspielerin Jun: "Es war für mich eine heilige Stadt"
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Jun wurde 1935 in der südpolnischen Stadt Hrubieszòw geboren, ihre Schauspielausbildung machte sie in Krakau. Als sie 1970 als junge Frau nach Warschau kam, ging für sie ein Traum in Erfüllung: "Es war für mich eine heilige Stadt." Die Stadt des Warschauer Aufstands und des Aufstands im Ghetto, ein Ort, an dem man für seine Würde und Unabhängigkeit mit dem Tod bezahlen musste. Dieses Erbe lebte in den Herzen der Menschen weiter, im Stadtbild war es wie ausgelöscht. Jun hasste es, wie der Kulturpalast sich in dieser verletzten Stadt breit machte. Es war, sagt sie, als beschmutze er die Erinnerungen an das verschwundene Warschau. Sie nennt den Palast "kontaminiert".

Die Freiheit in den Räumen des Besatzers gefunden

Zugleich wurde der Kulturpalast zu Juns künstlerischer Heimat. In den Siebzigerjahren leitete Józef Szajna das Teatr Studio. Seine Inszenierungen waren ein Gegenentwurf zur geistigen Enge der offiziellen Kulturpolitik und tourten durch Westeuropa. An Szajnas Seite arbeitete Jun in einem Haus, das für die Größe des sozialistischen Staates stehen sollte - und indem sie bestens gelaunt ignorierten, was für eine Kunst dieser Staat sich wünschte. Hier wurde Jun zu einer gefeierten Schauspielerin, zu einer Regisseurin und Autorin. "Wir waren jung, und wir waren stolz auf dieses Theater, wir fühlten uns größer als dieser Turm", sagt Jun. Für sie war der Kulturpalast beides: eine Zumutung und, wenigstens im nördlichen Flügel, ein Paradies. In den Räumen des Besatzers schufen sie sich ihre Freiheit.

Fassade mit polnischem Adler: Unter Denkmalschutz
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Wie konnte aus einem verhassten Gebäude das Wahrzeichen einer Stadt werden? Wie konnte dieser Turm seine Geschichte abschütteln in einem Land, das von historischen Erzählungen besessen ist? Diese Fragen trieben den britisch-polnischen Anthropologen Micha? Murawski so sehr um, dass er sich 2009 für ein halbes Jahr in einem Büro des Palastes einquartierte. Er erkundete das Gebäude, als wäre es ein fremder Kontinent. 2019 veröffentlichte Murawski das Buch "Der Palastkomplex", das nachzeichnet, wie die Bewohner Warschaus in einem Zickzackkurs aus Ablehnung und Zuneigung dazu verdammt sind, sich über ihr Verhältnis zum Palast zu definieren.

77 Prozent der Warschauerinnen und Warschauer sagen, dass sie mit dem Palast Kindheitserinnerungen verbinden. 63 Prozent nannten ihn "das wichtigste und am einfachsten zu identifizierende Symbol" der Stadt. Das fand Murawski in einer Umfrage mit 5000 Teilnehmenden heraus.

Funktioniert wie versprochen: Ein Haus der Kultur

Murawski fasziniert, dass der Palast genau so genutzt wird, wie es der Name verspricht, nämlich als "Pa?ac Kultury i Nauki", als Palast der Kultur und Wissenschaft. Das sei möglich, erklärt er, weil der Palast nie privatisiert wurde. Er gehört der Stadt Warschau. Öffentliche Bildungs- und Kultureinrichtungen haben hier nicht mit hohen Mieten zu kämpfen. Die Lage im Zentrum wäre inzwischen unbezahlbar, doch das denkmalgeschützte 123.000-Quadratmeter-Gebäude ist für Investoren kaum attraktiv.

Statue an der Palastfassade: Sie gehören der Stadt
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

In den Transformationsjahren nach 1989, so beschreibt es Murawski, drehte der Kapitalismus rund um den Palast frei. Wolkenkratzer wurden hochgezogen. Auf dem Vorplatz entstand einer dieser wilden Märkte, auf denen man von selbst fermentiertem Weißkohl über gefälschte Louis-Vuitton-Taschen bis zu Schreckschusspistolen alles kaufen konnte. Der Freizeitpark Cricoland eröffnete und verschwand wieder. Jemand stellte ohne Genehmigung ein sowjetisches Propellerflugzeug vor das Gebäude und nutzte es als Imbissbude. Und im Palast selbst? Nehmen Kinder Ballettunterricht, feiern Regisseure ihre Premieren, werden Möbel nicht je nach Mode ersetzt und weggeworfen, sondern in den hauseigenen Werkstätten repariert, 1960 genauso wie 2024.

"Der Palast durfte langsamer sein als die Stadt", sagt Murawski. In einem Land, das dem Kommunismus radikal abgeschworen hat, in dem linke Parteien nie Wahlen gewinnen, halte sich vor aller Augen ein Relikt der sozialistischen Ideologie. Kultur und Bildung für die Massen, der Traum des lesenden, dichtenden, philosophierenden Arbeiters. So sieht es Murawski, der am University College London lehrt.

Na ja, ist er nicht irgendwie einfach schön?

In Warschau selbst hört man zur Erklärung der Palastliebe weniger ideologische Thesen. Der Palast wurde eingemeindet in einer Mischung aus Pragmatismus, Gewöhnung und, trotz allem, Sympathie. Erstens wäre es teuer, ihn in die Luft zu sprengen. Zweitens kann sich die Mehrheit der Stadtbewohner inzwischen nicht mehr an ein Warschau ohne Palast erinnern. Und drittens, na ja, ist er nicht doch irgendwie einfach schön? Ein polnisches Empire State Building.

Fünf Minuten Fußweg davon entfernt liegt das Warschauer Büro für Stadtplanung. Die Architekten, die hier arbeiten, blicken nicht nur auf den Palast, sie entwerfen auch seine Zukunft. Dabei ist es nicht so entscheidend, dass es im Palast drinnen manchmal wirkt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Es geht darum, die 147.000 Quadratmeter Brachfläche rund um den Turm in die Gegenwart zu holen. Der Plac Defilad ist einer der größten Plätze Europas und wirkt eher wie ein vergessenes Parkdeck als wie das Herz der Stadt.

Plac Defilad am Fuß des Kulturpalastes: Wie ein vergessenes Parkdeck im Herzen der Stadt
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL
Stadtplaner Kacperski: Noch nicht verstanden, was alles verschwunden ist
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

"Das Gebäude ist hier gelandet wie ein völliger Fremdkörper", sagt Stadtplaner Wojciech Kacperski. Er zeigt Bilder der Warschauer Innenstadt von vor dem Zweiten Weltkrieg. Wo heute der Palast steht, lag der am dichtesten besiedelte Teil. Ein "bürgerliches Viertel" nannten es die sowjetischen Stadtplaner. Es sollte eine Beschimpfung sein. Die Häuser, die den Beschuss der Nationalsozialisten überstanden hatten, wurden planiert, ihre Besitzer von der sozialistischen Regierung enteignet. "Wir sind immer noch dabei zu verstehen, was alles verschwunden ist", sagt Kacperski.

Das Verschwundene kommt ans Tageslicht

Derzeit baut die Stadt Warschau einen neuen Park vor den Kulturpalast, im Oktober soll dort das Museum für Moderne Kunst einen weißen Kastenbau beziehen. Es ist die größte Veränderung an dieser Stelle seit Eröffnung der Metro in den Neunzigerjahren. Asphalt wurde aufgerissen, Ruinen wurden freigelegt. In der Baugrube sieht man Straßenbahnschienen und dicht aneinander liegende Fundamente. Frühere Geschäfte, Wohnhäuser und, dem Fund vieler kleiner Glasflaschen nach zu urteilen, auch eine Apotheke. Dort, wo gerade nicht umgegraben wird, zeigt eine im Boden versenkte Metalllinie den Verlauf der Grenze um das Warschauer Ghetto von 1940 bis 1943. Das Fundament des Kulturpalastes wurde genau neben den Ort gelegt, an dem die deutschen Besatzer 450.000 Juden einsperrten, quälten, entmenschlichten und schließlich ermordeten oder deportierten.

Stadtplaner Kacperski empfiehlt, ein altes Tagebuch zu lesen, um sich vorstellen zu können, wie Warschau sich nach dem Krieg anfühlte. Es sind die Notizen von Józef Sigalin, der als polnischer Architekt maßgeblich für die Planung des Kulturpalastes verantwortlich war. Sigalin war Kommunist aus einer jüdischen Familie, seine Mutter und seine Schwester nahmen sich 1943 in einem Güterzug das Leben - bevor dieser das Vernichtungslager Treblinka erreichte. Sigalin hatte Grauenhaftes gesehen. Aber er wollte an die Zukunft glauben und für Polen eine neue Hauptstadt bauen. Eine Fahrt durch Warschau am 18. Januar 1945, einen Tag nachdem die Rote Armee die Stadt für befreit erklärt hatte, beschreibt Sigalin so: "Alle Gebäude sind zerstört, Straßenbahnen liegen auf der Seite, Zettel hängen an Toren, die einmal Eingänge zu Häusern waren. In früheren Innenhöfen Kreuze, Kreuze. Die Friedhofsmauer scheint überflüssig, sie trennt nicht mehr die Lebenden von den Toten." Warschau, eine Stadt in der heute 1,9 Millionen Menschen leben, verlor im Zweiten Weltkrieg 700.000 Einwohner.

Wie die Propaganda die Suche nach Hoffnung nutzt

Der Kulturpalast thront auf diesen Toten wie ein trotziger Riese, der nicht länger daran erinnert werden will, wo er seine Füße hingestellt hat. "Es gibt viele Zeugnisse aus den Fünfzigerjahren, die beschreiben, wie brutal und schrecklich die Menschen den Bau des Palasts fanden", sagt Kacperski. "Gleichzeitig glaube ich, dass viele Menschen so dringend auf der Suche nach Hoffnung waren, dass ihnen die sowjetische Propaganda des Neuanfangs geholfen hat."

In dem Park, der gerade entsteht, zeigen Fußwege, wo früher Straßen verliefen. Spuren des Verschwundenen. Und in der Gegenwart der Anlass für Streit. Hausbesitzer, die für den Bau des Palastes enteignet wurden, können seit 1989 ihre Grundstücke zurückfordern. Dass der Kulturpalast bis heute von einer unwirtlichen, verwitterten Betonfläche umgeben ist, liegt auch daran, dass im Chaos der Besitzverhältnisse ein Flickenteppich entstanden ist, aus dem die Stadt Warschau sich nur einzelne Fetzen sichern konnte.

Von der Brache zum Park: Bauarbeiten vor dem Palast
Foto: Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL

Besucht man die Büros der Palastverwaltung in einem der oberen Stockwerke, werden einem dort Schokoladentäfelchen mit aufgedrucktem Palast angeboten, die aussehen, als läge ihre Herstellung ein paar Jahre zurück. Zwischen plüschigen Sesseln und Zierpalmen fällt ein Bild ins Auge, das in seiner Coolness nicht ganz in den Raum passt. Es ist das Cover der ersten Ausgabe der "Vogue Polska", erschienen im März 2018. Die polnischen Topmodels Anja Rubik und Malgosia Bela stehen neben einem schwarzen Wolga, hinter ihnen der Kulturpalast. Der Himmel ist grau, vor Belas schwarzem Mantel sind Schneeflocken zu sehen. Das Foto ist von unten aufgenommen, die Beine wirken extralang, die Kiefer extrakantig, und trotz dieser Perspektive hat es der Kulturpalast nicht ganz ins Bild geschafft, seine Spitze ist abgeschnitten und verliert sich ohnehin im Nebel.

Ein "Vogue"-Cover wird zum Skandal

Kaum war es erschienen, wurde das Cover zum Skandal. Die Empörungswelle in Kurzform: Da hat Polen einmal die Chance, der Welt zu zeigen, wie schön es ist, und die "Vogue" druckt ein Bild, das aussieht wie eine Kalter-Krieg-Vision von Westeuropäern. Als hätte man Polen schon wieder die Farbe rausgedreht. Und dann auch noch ein schwarzer Wolga - das Lieblingsauto des kommunistischen Geheimdienstes.

Cover der polnischen Vogue 2018: Symbol der Subversion

Filip Niedenthal klingt halb entschuldigend, als er sagt: "Mir gefällt dieses Bild immer noch." 2018 war Niedenthal Chefredakteur der "Vogue", das Cover war seine Entscheidung. Er bittet zum Interview in einem Café, das, wie das so ist im Zentrum von Warschau, zehn Fußminuten vom Palast entfernt liegt. Niedenthals Vater ist der britisch-polnische Fotograf Chris Niedenthal, dessen Bilder aus den Solidarno??-Jahren weltberühmt wurden. Gewerkschaftsführer Lech Wa??sa, russische Panzer, Alltagsszenen an leeren Marktständen. Niedenthals Bilder wurden in "Newsweek", im "Time Magazine" und im SPIEGEL gedruckt. Der Sohn Filip wächst in Warschau auf, als Kind blättert er durch Westzeitschriften, interessiert sich für Mode ebenso wie für Geschichte. Mit 39 Jahren dann der Traumjob: Die "Vogue" nach Polen bringen.

Die Idee, sich vor den Palast zu stellen, kam von Malgosia Bela, dem Covermodel. Niedenthal engagierte Juergen Teller für das Shooting. Die Provokation begann schon da: Ein deutscher Fotograf fotografiert ein sowjetisches Gebäude - und das soll die "Vogue" Polen sein. "Ich hätte es vermutlich besser wissen sollen, aber mir war nicht klar, dass wir so sensibel sind als Nation", sagt Niedenthal. Er habe auf etwas vertraut, das für ihn zutiefst polnisch sei: Selbstironie. "In Polen ist die Fähigkeit, über die Absurdität der eigenen Situation zu lachen, sehr ausgeprägt." Zu diesem Humor zählen zum Beispiel Schnee statt Blümchen auf der Frühlingsausgabe einer Modezeitschrift.

"Vom Symbol der Unterdrückung zum Symbol der Subversion"

Die Reaktionen auf das Cover waren heftig, Niedenthal erinnert sie als nötige Auseinandersetzung über Polens Selbstbild: "Wir wollen als Teil Westeuropas gesehen werden und werden nicht gern daran erinnert, dass das nicht immer so war." Für Niedenthal ist diese Vergangenheit nichts, für das man sich schämen müsste. "Wie Malgosia und Anja da stehen, zeigt für mich Stärke, Selbstbewusstsein und ein völliges Fehlen von Rührseligkeit. Den Palast hinter ihnen haben wir von einem Symbol der Unterdrückung zu einem Symbol der Subversion gemacht."

Der Streit ums Cover ist erst sechs Jahre her, doch für Niedenthal wirkt es, als habe inzwischen eine andere Zeit begonnen. Auch weil nicht mehr eine Regierung an der Macht ist, die ständig ein Kulturkampfgefühl anheize. Und weil neben dem Palast nun das Museum für Moderne Kunst entsteht, weil der Vorplatz langsam seine Militärparadenaura verliert. "Der Palast verschwindet im Hintergrund", sagt Niedenthal. Und das sei gut so.

Im Mai dieses Jahres stellten sich Malgosia Bela und Anja Rubik noch einmal vor den Kulturpalast, in derselben Pose lässiger Unberührbarkeit. Auf ihren weißen T-Shirts stand in rot "9. Juni". Das Datum der Europawahl. Bela postete das Foto auf Instagram, als Aufruf das Stimmrecht zu nutzen. Der Turm, ein Influencer.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 03.11.2025 - 09:53