Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
Für Sie berichtet Torsten Kleditzsch
Erschienen am 08.11.2019
Chemnitz
Wenn der Kollege aus dem Westen anrief, konnte man sich über 30 Jahre lang ziemlich sicher sein, dass ein Ossi gerade des Dopings überführt, der Stasi-Mitarbeit verdächtig oder als Nazi aufgefallen war. Doping, Stasi, Nazis. Das war der Osten im Westen. Diesen Osten konnte der Westen abseits kurzer Phasen der Aufregung ziemlich gut ignorieren. In den Debatten über die grundlegenden Probleme und neuen Perspektiven der mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Länder blieben die Ossis in der Regel unter sich.
Das ist heute anders - und vielleicht bleibt das auch so. Weil sich im Osten etwas tut, das spürbar die ganze Republik verändert, wächst nun auch zwischen Flensburg und Bad Reichenhall die Aufmerksamkeit. Solange sich die politischen Unterschiede auf mehr Stimmen für die PDS und später die Linke beschränkten, ließ sich das als ostdeutsche Eigenart abtun. Gegenüber sozialistischen Experimenten glaubte der Westen zu recht, ausreichend immun zu sein. 25 Prozent und mehr für die AfD dagegen lassen die Frage rumoren, ob der Westen erneut standhalten kann oder diesmal vielleicht empfänglicher ist und irgendwann dem Osten folgt. Schließlich ist die gesamte aktuelle Führungsriege der AfD in der Bundesrepublik gereift und nicht in der DDR. Der einzige Ossi im Bundesvorstand der AfD ist heute der stellvertretende Bundesschatzmeister Frank Pasemann. Den Ton geben andere an.
Aber woher kommt es, dass der Osten 30 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch anders tickt als der Westen? In einer Zeit, in der große Teile der Bevölkerung die Teilung selbst gar nicht oder nur als Kind erlebt haben?
Vorweg: Der Osten - das ist natürlich eine starke Vereinfachung. Land und Leute sind durchaus verschieden. Sachsen war schon immer Industrieland, gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den reichsten Regionen Europas. In Mecklenburg und Vorpommern war dagegen seit eh und je viel Platz für Ackerbau und Viehzucht. In Sachsen und Thüringen konnten selbst über die DDR hinweg unter dem Dach der Kombinate die Strukturen einer kleinteiligen und vielseitigen Industrie überdauern, an die der Mittelstand nach 1990 langsam wieder anknüpfen konnte. In Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern dominierten dagegen, dort wo überhaupt Industrie entstanden war, riesige Großbetriebe. Das machte den Neuanfang im wiedervereinten Deutschland schwerer. Die urbanen Zentren wie Leipzig, Potsdam und Jena sind heute hippe Städte, die aus allen Nähten platzen. In Ost-Sachsen und anderswo bestimmt dagegen der Wolf das Gespräch.
Und trotzdem gibt es starke Gemeinsamkeiten, die es erlauben, vom Osten zu sprechen. Die gemeinsame Geschichte aus 40 Jahren DDR gehört selbstverständlich dazu. Biografien, die sich ähneln. Erfahrungen, Erlebnisse, Wertmaßstäbe, die Denken und Verhalten bis heute beeinflussen. Dieselben Wendeerfahrungen: Vier von fünf Ostdeutschen, die 1990 erwerbstätig waren, haben ihren Job verloren. Nur einer von 20 arbeitete 25 Jahre später noch in seinem alten Betrieb. Und: Auch wenn der Dresdner Barock vor dem Besucher protzt ohne Ende, so hat es weder Sachsen noch ein anderes ostdeutsches Bundesland bis heute geschafft, in Sachen wirtschaftlicher Eigenständigkeit wenigstens mit dem schlechtesten westdeutschen Flächenland gleichzuziehen. Die sogenannte Steuerdeckungsquote beschreibt, wie viel Prozent seiner Ausgaben ein Land aus eigenem Steueraufkommen bestreiten kann. Das Saarland ist das westdeutsche Schlusslicht mit etwas weniger als 70 Prozent, hält damit aber immer noch Thüringen als bestes ostdeutsches Land knapp auf Abstand. 30 Jahre haben nicht gereicht, um diese Situation grundsätzlich zu ändern. In nur 11 von 26 Jahren zwischen 1990 und 2017 ist der wirtschaftliche Abstand zwischen Ost und West überhaupt kleiner geworden, in den anderen blieb er bestenfalls gleich. Und an der Überalterung der Bevölkerung leidet Ostdeutschland ebenso in trauter Gemeinsamkeit, weil der Boom einzelner Städte nicht zuletzt mit dem Ausbluten des Umlandes bezahlt wird. Das macht den Osten noch immer zu einer Interessensgemeinschaft und die Frage legitim, warum die Ostdeutschen nach wie vor einen anderen Blick auf die Dinge haben als die Verwandten im Westen.
2015 stieß die Flüchtlingskrise im Osten auf eine Gesellschaft, die über 40 Jahre deutsche Teilung hinweg deutscher geblieben ist als die alten Länder, die von der praktizierten Demokratie noch nicht einmal zur Hälfte restlos überzeugt ist, in der sich etwa jeder Zweite als Bürger zweiter Klasse fühlt und viele Orte mittlerweile den Arzt, die Schule, den Bäcker, die Polizeistation und auch das Bürgermeisteramt verloren haben. Seitdem ist es vorbei mit der Normalität, die noch vor fünf Jahren, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls, so langsam Einzug zu halten schien. Es wird demonstriert, mobilisiert, agitiert, gehetzt, mitunter geprügelt, viel gesprochen, nicht ausreichend zugehört, gejammert, oft aber auch einfach gemacht - und wenn es ein trotziges Kreuz auf dem Wahlzettel ist. Der Gewinner dieser fünf Jahre ist die AfD.
Die AfD-Anhänger merken: AfD wirkt, die Politik reagiert. Es greift jedoch zu kurz, die Zustimmung zur Partei als reine Taktik, puren Protest zu begreifen. Da ist durchaus Überzeugung dabei. Der Protest wendet sich nicht mehr nur gegen eine konkrete Entscheidung - wie etwa die Hartz-IV-Reformen Mitte der Nullerjahre. Es steckt viel Systemkritik darin. Aus Studien ist seit vielen Jahren bekannt, dass die Akzeptanz des politischen Systems im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Laut einer regelmäßig wiederholten Allensbach-Umfrage halten nur 30 bis 40 Prozent die Demokratie, so wie sie sie in Deutschland vorfinden, für die beste Staatsform. Im Westen sind es über 70 Prozent. Die Werte haben sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. In der jüngsten Umfrage vom März 2019 waren es im Osten 31 Prozent. Elf Prozentpunkte weniger als vor einem halben Jahr. Gewachsen ist das Lager der Unentschiedenen.
Foto: ullstein bild - Imagno
Diese Systemkritik ist aber keinesfalls auf die AfD-Anhänger beschränkt. Sie findet sich in vielen gesellschaftlichen Gruppen mit sehr unterschiedlichen Vorzeichen und ist auch nicht gleichzusetzen mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Demokratie. Aber erst der Erfolg der AfD hat die Systemkritik unübersehbar gemacht. Dass empfundene Defizite und Reformbedarf im Osten ganz offensichtlich deutlicher artikuliert werden, geht auf das Erleben mindestens zweier Systeme zurück. Die Ostdeutschen haben die Erstarrung und Endlichkeit eines Gesellschaftsmodells am eigenen Leib ertragen. Das macht sensibel auf der einen Seite und hat zudem zu der Erfahrung geführt, dass Protest, hat er die nötige Kraft, selbst Mauern einreißen und alles auf den Kopf stellen kann. Ganz gleich, ob man das alles so wollte oder nicht.
Nicht umsonst knüpft die AfD an die Wende-Erfahrungen an, nutzt die alten Slogans, um die Botschaft zu senden: Auch heute stimmt etwas nicht am System; im Grunde ist es nicht anders als damals in der DDR. Das wird ihr abgenommen, trotz der West-Biografien an der Spitze. Selbst Björn Höcke, der Gymnasiallehrer aus Nordrhein-Westfalen mit Wahlheimat Thüringen, gefällt seinen Anhängern, wenn er sagt: "Es fühlt sich schon wieder so an wie in der DDR."
Es sind sehr unterschiedliche Faktoren, die die Zustimmung zur AfD und Reserviertheit gegenüber der parlamentarischen Demokratie begründen. Am wenigsten ist es akute soziale Not, eher das Risiko. Denn wirtschaftlich steht der Osten im Moment nicht schlecht da. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat kürzlich die gefährdeten Regionen in Deutschland identifiziert. Nimmt man allein die wirtschaftlichen Indikatoren, so machen die Forscher im Osten nur noch die Altmark im Norden Sachsen-Anhalts als gefährdet aus, alle anderen neun befinden sich im Westen. Aktuell liegt die Arbeitslosigkeit in Sachsen bei 5,1 Prozent. Das ist mehr als ein Prozentpunkt weniger als in Nordrhein-Westfahlen oder dem Saarland. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Osten in etwa jeder vierte Vollzeitbeschäftigte weniger als 2000 Euro brutto im Monat verdient.
Vor allem sind es Verlustängste, die die Verunsicherung und den Widerstand speisen gegen die Große Koalition, Angela Merkel, Multikulti oder den Elektromotor. Der kleine Wohlstand, hart erarbeitet, ist fragil. Bei Angestellten wie Selbstständigen. Die Rücklagen sind gering, die Erbschaften klein. Die soziale Konkurrenz, das zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Migration, schlägt zwischen Rügen und Erzgebirge stärker durch als in den alten Ländern.
Hinzu kommt, dass sich die Ostdeutschen selbst als benachteiligt sehen. 57 Prozent fühlen sich laut Einheitsbericht der Bundesregierung als Bürger zweiter Klasse. "Integriert doch erst mal uns", überschrieb die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping (SPD) im vergangenen Jahr ihr Buch und erlangte damit zumindest zeitweise republikweit Popularität.
Foto: Volker Dworzsak
Für all diese Unterschiede und Eigenheiten spielt die Demografie eine wichtige, oft entscheidende Rolle: Während im Osten laut Ifo-Institut die Bevölkerung auf den Stand von 1905 geschrumpft ist, hat sich die Bevölkerung im Westen seitdem mehr als verdoppelt.
Der Osten hat dreimal seine bürgerliche Mitte verloren: im Nationalsozialismus den jüdischen Teil, so wie der Westen auch. Dann nach dem Krieg bis zum Mauerbau all jene, die entweder in den Westen gedrängt oder von sich aus dorthin geflohen sind. Schließlich nach dem Mauerfall die Mobilen und gut Ausgebildeten, die Mitte der DDR.
Das wirkt sich politisch wie wirtschaftlich aus. Den Unternehmen fehlen Fachleute, ein wachsendes Risiko für die ostdeutschen Standorte.
Foto: Uwe Mann
Der Gesellschaft wiederum fehlen durch den Verlust ganzer Bevölkerungsteile vermittelnde Kräfte, das stärkt die radikalen. Zivilgesellschaftliches Engagement hat es deshalb schwer. Erst recht, wenn es staatlich eher geduldet als gefördert wird. In Sachsen war das lange Zeit der Fall. Dass Demokratie Engagement erfordert, kommt hierzulande gerade erst in den Lehrplan.
Der Zuspruch für populistische Gruppen, die Rückbesinnung auf die Nation, die teilweise Radikalisierung lässt sich derzeit aber nicht nur in Deutschland beobachten, sondern genauso in Italien, in Frankreich, den USA, Großbritannien, in Polen und Ungarn. Mit der Teilung allein ist das alles also nicht erklärt. In der Sozialwissenschaft gibt es die These, dass die heutige Entwicklung eine Antwort sei auf den Neoliberalismus, der in den 80er und 90er Jahren seinen Anfang genommen hat und mit dem Zusammenbruch des Ost-Blocks jedes Korrektiv verlor. Die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik war etwas, das den Westen groß und stark gemacht hat - auch dahingehend, dass er in der Lage war, extreme Entwicklungen auszuhalten und abzuwehren.
Foto: ullstein bild - Röhrbein
Die meisten Westdeutschen konnten über 40 Jahre hinweg die Erfahrung machen, dass in der Demokratie auch ihr eigener Wohlstand wächst. Mehr oder weniger. Im Osten dagegen brachte die Demokratie zunächst viel Unsicherheit, empfundene Ungerechtigkeit und radikale Veränderungen in allen Bereichen des Lebens.
Quelle: FP vom 08.11.2019
Kommentare
Nixnuzz11.11.2019
@Freigeist14: Warum? Vielleicht weil die nutzbaren Rahmenbedingungen anders waren als in der DDR? Wir hatten Geld und Material. Wir hatten die Freiheit, neben dem industriellen Aufbau auch privat sich Häuser und Wohnungen aufzubauen - mit Landeskrediten - und nach eigenem Gutdünken auszustatten. Siedlungen mit Anbauten für die Bergmannskuh waren nix ungewöhnliches. Die D-Mark war echtes wertvolles akzeptiertes Zahlungsmittel - auch im nahezu frei zugänglichen Ausland. Die damals entstandenen Menschen-verbindenden Interessen-Vereine - auch aus der Flüchtlings-/ Vertriebenen-Not geboren - haben mit dem Aussterben an Personen als auch des verbesserten Material-Angebotes an Bedeutung verloren. Vielfach waren das auch Auffang-Vereine für die Vertriebenen aus Pommern, Mecklenburg, Sudeten, Danzig etc.. Auch um Papiere, Anträge und Heimatgefühle aufzubereiten und gegebenenfalls materielle Unterstützung - nicht Geld - beizusteuern. Viele 1-Familienhäuser waren damals schon "Gemeinschafts-Wochenend-Häuser"...
Freigeist14
10.11.2019
Man kann den Unterschied auch entgegengesetzt betrachten : Warum tickt der Westen noch immer anders ?
Malleo
10.11.2019
Guten Abend Herr Kleditzsch,
ohne von Jubelfeiern außer Rand und Band zu sein, durfte man in der FP mal ein paar richtig gute Beiträge lesen, die auch erklären, was Ihre Analyse letztlich auf den Punkt bringt.
Dazu muss man nur die Realität wahrnehmen, eins und eins zusammenzählen und paar Fakten sammeln.
Das haben Sie getan. Danke.
Das Ergebnis ist ernüchternd bis frustrierend.
Wenngleich ich keinen Job verlor und auch durchgängig in der Vorwendefirma bis zum Unruhezustand 2015 arbeiten konnte, lasse ich mir mein Sensorium für Ungerechtigkeiten durch noch so viele Sonntags- und Einheitsreden nicht zuschütten.
Ist es deshalb nicht nachvollziehbar, dass genau deshalb die Menschen im Osten wieder aufbegehren, weil sie wissen, wie man von einem senilen Politbüro an der Realität vorbei regiert wurde?
Diese Merkel Regierung macht es nicht anders.
Ohne Visionen für die Zukunft wird nur noch ausgestiegen, aus Atomkraft, Kohle, Diesel, Bildung und Patriotismus.
Man hat etwas Neues, zweifellos Narzisstisches gefunden - die Klima- und Weltrettung.
Sie ergänzt die auch von Ihnen erkannte Multikulti Seligkeit in den hippen städtischen Hochburgen.
Sie wissen es, ich weiß es. Die Kanzlerin als promovierte Physikerin weiß es sicher auch.
Nur, warum macht sie nichts?
Haben Sie darauf eine Antwort?
Steckt gar Kalkül dahinter?
Die Klarheit politischer Analyse, wie es im Interview mit Gorbatschow zum Ausdruck kam, war spannend, fehlt den aktiven politischen Protagonisten im Land leider völlig.
Am Ende der Breshnew- Doktrin entließ die Sowjetunion ihre Vasallen.
Ihre Regierungen sollten fortan eine Politik gemäß ihrer nationalen Interessen machen und dafür auch die volle Verantwortung vor ihren Völkern tragen.
In Berlin hat man Ersteres vergessen, wenn man das lediglich auf die beiden letzten Legislaturperioden herunterbricht.
Die politische Abrechnung erlebt die CDU mit voller Härte und erst nach der Einnahme der Wach- auf- Tablette AfD setzte scheinbar die Selbstfindung bei Werkstattgesprächen (ohne Werkzeug) ein und wie wir wissen, mit mehr als mäßigen Erfolg.
Die Kanzlerin kann oder will nicht mehr, leidet an Debattenallergie und was aus dem Saarland in die DDR mit Honecker bzw. das vereinte D in die Politik entlassen wurde( Maas und AKK) muss nicht weiter thematisiert werden.
Es bleibt spannend und am Ende wünscht sich der Leser(und nicht nur der), dass die FP bereit ist, ab und an oder auch täglich einmal den Blick ohne ideologische Brille auf der Nase und mithin jenseits des links- liberalen Weltbildes den Lesern zu berichten - nicht was sie zu denken haben sondern worüber sie bitte nachdenken sollen!
ChWtr
10.11.2019
Ihrem langen Text ist nichts hinzuzufügen, sehr gut @Hankman.
Die Ausführungen von Torsten Kleditzsch haben Sie für meine Begriffe richtig analysiert. Jedoch sollten Sie wissen, dass es auch Benachteiligungen / Demütigungen für sogenannte "Ausgereiste" gab und gibt. Zum Glück resp. in der Hoffnung, kommen ja wieder einige zurück. Und wenn jeder die gleiche Chance für berufl. Aufstieg erhält, unabhängig von seiner Herkunft oder Geschlecht, dann wird es (ganz sicher) besser bei uns - in absehbarer Zeit.
Daran glaube ich fest und gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir wieder mehr als über 80% "im Osten" werden, die die extremen Populisten und Empörer zurückdrängen. Und das gemeinsam mit den "eingewanderten" Wählern aus den anderen BL. Ich kann gern auf die Spalter vom Schlage Höckes und Kallbitz in unserer Region verzichten. Warum die nicht dort bleiben, wo sie herkommen, sollte allen klar sein (...) - strafen wir sie Lügen!
Hankman
10.11.2019
Eine sehr tiefgründige Betrachtung mit vielen klugen Gedanken. Das Lesen des langen Textes lohnt sich! An zwei Stellen möchte ich aber Widerspruch anmelden.
Zum einen: Es wird die gängige These wiederholt, dass "nach dem Mauerfall die Mobilen und gut Ausgebildeten, die Mitte der DDR" in den Westen abgewandert seien und der Osten daher seine "bürgerliche Mitte" verloren habe. Das mit der bürgerlichen Mitte lassen wir mal so stehen, auch wenn ich dies für überzogen halte. Wichtiger ist mir: Es waren nicht DIE Mobilen und DIE gut Ausgebildeten, die den Osten verließen. Es waren viele, aber keineswegs alle. Weil andere sich ganz bewusst dafür entschieden haben, hier zu bleiben, hier den Transformationsprozess mitzugestalten, hier in ihrer Heimat anzupacken - und die dafür bewusst geringere Einkommen, manche Demütigung und andere Nachteile in Kauf nahmen.
Ich finde es ziemlich herablassend, zu behaupten, dass jene, die hier blieben, so eine Art Rest seien, der nur noch da sei, weil er keine Wahl hatte. Das ist Unsinn. Damit redet man Menschen klein und verletzt ihre Würde. Und es ist ja auch nicht so, dass ausschließlich Menschen in den Westen gegangen sind, die mit ihrer guten Ausbildung einfach mehr anfangen und mehr Geld verdienen wollten und mehr drauf hatten als alle anderen. Für viele gab es gerade in den wilden 90ern schlicht keine andere Wahl, wollten sie nicht auf Dauer arbeitslos sein. Dieser Landesteil wollte ihre Arbeitskraft nicht mehr haben, er bot ihnen keine Perspektive - also mussten sie sich eine neue suchen. Auch das missachtet die holzschnittartige These, die man leider häufig liest.
Zum anderen: Es wird auch die These wiederholt, wonach es die Hartz-IV-Reformen gewesen seien, die Deutschland damals "aus der Stagnation holten". Das ist unter Ökonomen höchst umstritten. Es ist durchaus schwierig, die Wirkungen der verschiedenen Einflussfaktoren voneinander abzugrenzen und präzise zu sagen: Dieser eine war's. Einen ganz entscheidenden und vielleicht viel stärkeren Einfluss hatten die Einführung des Euro und die damit verbundene wirtschaftliche Integration. Zudem war die Hartz-IV-Reform selbst sehr komplex und hatte viele Komponenten - gute und weniger gute, wirksame und sinnlose.
Wenn ich ein bisschen vereinfache und zuspitze, hatten die Hartz-IV-Reformen ökonomisch vor allem eine Zielrichtung: den Druck auf Arbeitslose und Arbeitende verstärken, für Unruhe und Unsicherheit sorgen, Sozialausgaben drücken, letztlich den Anstieg der Arbeitskosten im Vergleich zu anderen Ländern abbremsen und so Deutschlands Konkurrenzfähigkeit verbessern. Nun, das scheint letztendlich gelungen. Aber der soziale und psychologische Preis dafür ist hoch. Das sehen wir heute am Zustand unserer Gesellschaft. Und diesen Befund lese ich auch aus dem klugen Text heraus.