Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
Für Sie berichtet: Thomas Scholze
Erschienen am 08.11.2019
Chemnitz.
Viele lange Jahre hat er über diesen Fehlschuss gegrübelt. Vielleicht hätte er sich besser für die rechte Seite entschieden. Er hätte nicht halbhoch zielen sollen, vor allem aber mit etwas mehr Schmackes gegen den Ball treten müssen. Als Rico Steinmann am 15. November 1989 im Wiener Praterstadion in der 30. Spielminute zum Elfmeterpunkt schritt, hatte er die letzte Chance der DDR-Nationalmannschaft auf ein Ticket zur Fußballweltmeisterschaft 1990 auf dem Fuß. Mühsam hatte sich die Mannschaft nach missratenem Start in die Qualifikation (zwei Niederlagen gegen die Türkei, eine in der UdSSR) wieder herangekämpft, mit einem 2:1-Sieg am 8. Oktober in Karl-Marx-Stadt gegen die Sowjetunion die Tür zur WM wieder weit aufgestoßen. Dafür musste die seit September von Eduard Geyer trainierte Auswahl Zweiter der Gruppe 3 werden, die Österreicher hinter sich lassen. Ein Unentschieden im letzten Spiel in Wien hätte dafür gelangt.
Foto: Dirk Jeschke
Als der 21-jährige Jungspund vom FCK sich den Ball zurechtlegte, stand es 2:0 für die Gastgeber. Toni Polster hatte gleich in der 2. Minute zugeschlagen, in der 23. einen umstrittenen Elfmeter verwandelt. Doch mit einem Anschlusstreffer hätte das Spiel kippen können.
Sechs Tage zuvor hatte die Vorbereitung auf das Match begonnen. Als Schabowski am 9. November 1989 seinen berühmten Satz stammelte und die Mauer binnen weniger Stunden ihre Bedeutung verlor, saßen die DDR-Kicker in der Sportschule in Leipzig-Abtnaundorf vor dem Fernseher. "Wir haben das alles mitbekommen, hatten die gleichen staunenden Gesichter wie wahrscheinlich die meisten in diesem Land. Dass sich da etwas Gewaltiges anbahnt, war uns allen klar; wie schnell und wie gewaltig, mir zumindest nicht", erzählt Rico Steinmann 30 Jahre später. Und erinnert sich noch an folgendes Detail: "Vor der Tür der Sportschule waren etliche Aufpasser, mehr als üblich. Sie hatten dafür Sorge zu tragen, dass keiner der Fußballer ausbüxt. Mitten in Leipzig."
Leipzig war anders als Karl-Marx-Stadt einer der Brennpunkte im heißen Wendeherbst. Der schon im Sommer begonnen hatte. Nach der Grenzöffnung in Ungarn und den Ereignissen in der Prager Botschaft war die Zeit der großen Demonstrationen gekommen. Die Menschen waren mutiger geworden, sie wollten vor allem frei sein. "Ich glaube, dass es am Anfang vor allen darum ging", sagt Steinmann, "die Leute wollten ein Ende der Gefangenschaft, sie wollten die Welt sehen."
Als einer der talentiertesten Fußballer seiner Generation konnte Rico Steinmann das auch so. Im Alter von 17 Jahren hatte der KJS-Schüler am 17. August 1985 sein Oberligadebüt gegeben (der FCK verlor 1:2 bei Hansa Rostock), mit 18 war er 15 Monate später Nationalspieler. 1987 - da war er 19 - brachte er mit seinen Altersgenossen eine Bronzemedaille für die DDR von der Junioren-WM in Chile mit heim. "Die Reisen waren ein Privileg. Wir durften raus", erzählt Steinmann, "und haben festgestellt, dass vieles, was man uns im Staatsbürgerkundeunterricht erzählte, so nicht stimmt. Wohlstand und Überfluss auf der einen, Mangelwirtschaft auf der anderen Seite. Dass der Sozialismus nicht das überlegene System sein kann, war klar." Aufbegehrt hat Rico Steinmann nicht. Für Oberligafußballer gab es immer einen Tisch im Restaurant, einen Weg an der Schlange vorbei in die Disco und am Hintereingang der Kaufhalle Dinge, die vorn im Laden selten zu finden waren: Bananen, einen Kasten gutes Bier, Rotwein oder Wermut.
Auch aus seinem Freundeskreis verschwand 1989 der eine oder andere in Richtung Westen. "Einige haben mir zum Abschied die Hand gegeben, andere waren einfach weg", sagt Steinmann. "Ich habe es verstanden." Selbst war er von so einer Entscheidung ganz weit weg: "Man hat es im Kopf durchgespielt: Was wäre, wenn? Und dabei war für mich klar: Mir sind meine Freunde und meine Familie wichtiger. Wäre ich bei einer unserer Auslandsreisen im Westen geblieben, hätten meine Angehörigen daheim wahrscheinlich sehr viel Ärger bekommen. Und auch das musste man einkalkulieren: Man hätte sie vielleicht nie wiedergesehen."
Foto: Frank Kruczynski
Er hatte gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Früh verlor er den Vater. Rolf Steinmann, 1967 mit dem FCK DDR-Meister, starb 1986. "Das hat mich hart gemacht", sagt Rico Steinmann, "gemeistert haben meine Schwester und ich diese Zeit, weil wir eine sehr starke Mutter haben." Fußballspielen gesehen hat er seinen Vater nie. In seine Fußstapfen getreten ist er dann doch. Über einen Umweg. "Als ich sechs war, haben mich meine Eltern beim Schwimmverein angemeldet", erzählt der heute 51-Jährige. "Doch das war kein Sport für mich. Ich habe gejammert, weil ich immer gefroren habe, wenn ich im Stadtbad aus dem Wasser gestiegen bin. Ein Jahr später durfte ich dann zum Fußball."
Seit er das Auswahltrikot trug, spielte Steinmann beim FCK unter besonderer Beobachtung. Er sei der letzte Nationalspieler, der noch kein Mitglied der SED sei, wurde er von Verbandsfunktionären belehrt. Was so nicht stimmte. Und er solle möglichst bald zu einem großen Verein wechseln, wenn er in der Auswahl bleiben wolle, wurde ihm bei einer Dampferfahrt nahegelegt. "Zur Auswahl standen der BFC Dynamo und Dynamo Dresden", erzählt Steinmann, "zumindest das hätte ich mir heraussuchen können." Wenn er in Karl-Marx-Stadt bleibe und der FCK nicht im Europapokal vertreten wäre, sei seine internationale Karriere demnächst beendet. Und ob es bei der Rückstellung vom Wehrdienst in der NVA (ein anderes Privileg für DDR-Spitzenfußballer) bliebe, sei auch nicht ganz klar, lautete eine weitere kaum verhohlene Drohung des Funktionärs auf dem Dampfer.
Steinmann ging nicht in die Partei, Steinmann blieb beim FCK. Der Club hatte sich nach 22 Jahren Pause wieder für den Europapokal qualifiziert, begeisterte in den Uefa-Cup-Partien gegen Boavista Porto, den FC Sion und Juventus Turin. Die Italiener waren für die Mannschaft von Hans Meyer die Endstation. "Wir hatten in Porto ein bisschen Glück. Aber wir hatten auch einen herausragenden Trainer und eine hervorragende Mannschaft", sagt Steinmann. "Spieler aus drei starken Junioren-Jahrgängen hatten sich im Oberligakader etabliert, die Arbeit der Jahre davor auch schon unter Meyers Vorgänger Heinz Werner trug nun Früchte." Der FC Karl-Marx-Stadt war eine DDR-Spitzenmannschaft, keiner musste mehr zu Dynamo.
Und nach dem Mauerfall war ohnehin alles anders. Den DDR-Fußballern stand die Welt offen, sofort waren sie begehrte Objekte der Späher aus der Bundesliga. "Bis zum Match in Wien waren wir Nationalspieler eigentlich sehr gut abgeschottet, auch noch in der Nacht vor dem Spiel in Österreich. Aber der eine oder andere fand dann doch einen Weg zur Kontaktaufnahme. Handys gab es noch nicht. Aber zu Hause klingelten schon die Telefone. Einige hatten sogar schon Anrufbeantworter", erzählt Steinmann. "Wenn man wieder zurück sei, könne man sich mal unterhalten."
Und so hatte Eduard Geyer alle Mühe, die Konzentration seiner Jungs auf den wichtigen Nachmittag in Wien zu lenken. "Eine normale Vorbereitung war das ganz bestimmt nicht. Aber darauf schieben mag ich die Niederlage nicht. Wir waren alle Profis, wussten, worum es geht" meint Steinmann. Er war als Elfmeterschütze eingeteilt worden. "Ich habe mich nicht danach gedrängt, die Verantwortung aber übernommen. Wenn einer der älteren Spieler mir den Ball aus der Hand genommen und mich weggeschickt hätte, hätte ich mich nicht gewehrt." Drei Wochen zuvor hatte er beim 4:0-Sieg im Freundschaftsspiel auf Malta einen Strafstoß souverän verwandelt. In die vom Schützen aus gesehen linke Ecke.
Das wusste auch Ösi-Keeper Klaus Lindenberger, der in eben diese Ecke hechtete. Und Steinmanns Schuss - halbhoch und zu lasch - hielt. "Dafür musste er sich nicht groß feiern", sagt Steinmann, "für diese Parade war keine große Torwartleistung nötig. Der Elfmeter war einfach schlecht geschossen." Dabei konnte er es doch: Alle anderen zehn Elfmeter seiner Fußballerlaufbahn hat er verwandelt, mal links, mal rechts, fast immer scharf und präzise.
Wegen seiner herausragenden technischen Fähigkeiten war er so weit gekommen, deswegen war auch Steinmann nun für die Bundesliga interessant. Am intensivsten bemühten sich Trainer Otto Rehhagel und Manager Willi Lemke von Werder Bremen um ihn. "Die Sache war schon weit gediehen, der Vertrag unterschriftsreif", berichtet Steinmann. Der sich dann aber anders als die Thom, Sammer oder Kirsten doch entschied, im Osten zu bleiben. Der Chemnitzer FC (so heißt der FC Karl Marx-Stadt seit Juni 1990) ging als Favorit in die Saison 1990/91, in der sich die ersten beiden für die 1. Bundesliga, die folgenden vier für die 2. Bundesliga qualifizieren konnten. Steinmann betont: "Ich wollte unbedingt in die Bundesliga, mit dem CFC. Und zwar in die Erste. Nach den Plätzen drei und zwei in den Jahren davor war das unser logisches Ziel. Und ich war überzeugt davon, dass wir das schaffen." Doch der Druck war zu groß. Die Himmelblauen hielten dem nicht stand, wurden am Ende mit Ach und Krach Fünfter. Da halfen auch keine zwei Dutzend geleaster Hondas auf dem Parkplatz, auch keine deutlich aufgebesserten Bezüge. Für Steinmann gab es ein Gehalt, das sich am Bundesliganiveau orientierte, statt eines Civic wie für die meisten Mitspieler einen sportlichen CRX. Und dann doch die Erkenntnis: In die Bundesliga geht es nur über einen Vereinswechsel.
Wieder meldete Werder Bremen Ambitionen an, deutlich vehementer jetzt aber Udo Lattek und der 1. FC Köln. Drei Millionen Mark boten die Kölner dem schon damals finanziell klammen CFC und für den Umworbenen die Aussicht, beim FC der neue Pierre Littbarski zu werden. Ein Freigeist hinter den Sturmspitzen - genau das, was Steinmann liebte. Der verletzte Littbarski komme nicht zurück auf den Platz, lockte man ihn. "Im Nachhinein betrachtet, wäre ein Wechsel nach Bremen sicher die bessere Wahl gewesen", weiß Steinmann heute, "bei Köln haben mich auch das Stadion und die tolle Stadt gereizt. Auch wenn nicht alle Blütenträume reiften, ich bereue diese Entscheidung nicht." Littbarski kam zurück, Steinmann spielte zumeist auf der rechten Seite, statt im Zentrum, mal gut, mal weniger gut, der große Durchbruch im Westen blieb ihm verwehrt. "Was ich mir vorwerfe, ist, die Schuld dafür zuerst bei anderen und nicht bei mir selbst gesucht zu haben. Heute weiß ich, dass ich selbst hätte noch mehr machen, mich mehr aufdrängen müssen."
Foto: Imago
Trotzdem blieb er lange sechs Jahre in Köln, erlebte dort in dieser Zeit sieben Trainer, von denen er mit Morten Olsen am besten klarkam und eine kurze Blütezeit durchmachte. Und so manche Begebenheit, über die er jetzt nur noch den Kopf schütteln kann: "Das Sagen hatten nicht nur die Trainer, sondern vor allem die Presse. Dort wurde über dich geurteilt, der Daumen gehoben oder gesenkt. Als unser Libero Reinhard Stumpf einmal sehr schlechte Presse hatte, pfiffen ihn die eigenen Fans bei jeder Ballberührung aus, der Trainer musste ihn auswechseln, um ihn zu schützen. Und ich habe der Tribüne den Scheibenwischer gezeigt. Das haben mir einige sehr übel genommen ..."
In Köln wohnt noch heute Steinmanns eine Tochter, die andere in Düsseldorf. Ab und an besuchen beide mit ihren Töchtern (jeweils eine) Opa Rico in Chemnitz. "Dann habe ich vier Mädchen zu Gast. Und es macht Spaß", lacht er.
Das Lachen richtig wiedergefunden hat er ab 1997 auf seiner letzten Profistation im holländischen Enschede. Trainer Meyer hatte seinen ehemaligen Lieblingsschüler zum FC Twente geholt. Dort spielte Steinmann wieder genau die Rolle wie einst beim CFC: "Es war überhaupt vieles ähnlich: Twente war ein eher mittelmäßiger Verein, der es dann unter Hans Meyer bis auf Platz vier nach oben geschafft hat. Und es wurde viel Wert auf spielerische Elemente gelegt. Was dazu führte, dass wir auch dann noch munter angriffen, wenn wir schon 0:3 hinten lagen. So gab es auch mal ein 0:5." Schluss mit Fußball war für Rico Steinmann, als 1999 die Achillessehne riss. "Das hatte sich abgezeichnet, es war einfach Verschleiß", blickt Steinmann zurück. Viermal ließ er sich in der Schweiz am verletzten rechten Fuß operieren. "Die Wunde heilte sehr schlecht, entzündete sich. Als ich dann nicht einmal mehr richtig laufen konnte, wurde mir klar: Das war's jetzt. Dabei war 31 kein Alter, in dem man zwingend aufhören muss. Auf der anderen Seite kann dich so eine Verletzung auch mit 20 erwischen. Dann hast du keine Karriere."
Es folgte ein Intermezzo als Trainer beim westfälischen Landesligisten Vorwärts Epe. Dort, keine zwei Kilometer von der Grenze zu den Niederlanden entfernt, wohnte Steinmann, bevor es ihn im Jahr 2001 zurück in die Heimat zog.
Mittlerweile arbeitet er im Marketing eines Geschenkegroßhändlers. Ziel ist es, Kerzen, Keramik und sonstige Wohnaccessoires an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Mit Fußball hat er nicht mehr viel am Hut. "So komisch das klingt: Ich habe mir nie gern Fußballspiele angesehen. Ich stand immer mit ganzer Leidenschaft auf dem Platz, als Zuschauer bin ich unteres Mittelmaß. Das war schon so, als die Zeit der stundenlangen Videoanalysen begann. Hans Meyer war ein großer Fan davon, ich habe es gehasst."
Und weil er nicht viel Fußball schaut, ist er auch nur noch selten beim CFC zu Gast. Dabei hängt sein Herz nach wie vor an diesem Verein, für den er 2003/2004 in der damals drittklassigen Regionalliga auch eine Saison als Manager arbeitete. "Eberhard Langer hatte mich damals darum gebeten, ich wollte helfen. Letztlich ging es bei dem Job dann weniger ums Sportliche, sondern vor allem darum, Geld zu beschaffen. Beziehungsweise welches einzusparen. Nur weil sich die Spieler damals davon überzeugen ließen, auf Teile ihrer vertraglich vereinbarten Bezüge zu verzichten, haben wir die Saison überstanden."
Steinmanns Fußballerkarriere hätte noch ganz anders verlaufen können, wenn er am 15. November 1989 in Wien seinen Elfmeter verwandelt hätte, Steinmann und Co. sich im Sommer 1990 mit dem DDR-Emblem auf der Brust auf der großen Bühne der Fußballwelt hätten präsentieren können. Doch Steinmann verschoss. Von diesem Rückschlag erholten sich die DDR-Kicker an diesem Tag nicht mehr. Polster legte in der 61. Minute das 3:0 für die Hausherren nach, die Österreicher durften nach Italien. Und Steinmann nach Hause, wo er noch lange über diesen Fehlschuss nachdenken sollte.