Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
Im Zuge der politischen Wende 1989/90 hatten die neuen BundeslÀnder mit einer beispiellosen Verbrechenswelle zu kÀmpfen. Vorbereitet war darauf wohl niemand und die Antwort des Staates lieà erstaunlich lange auf sich warten.
Auf den ersten Blick ist das ein erstaunlicher Widerspruch. Hinterfragt man ihn, liegt der Grund hĂ€ufig in Erlebnissen und EindrĂŒcken aus den Jahren von Umbruch und Neuordnung nach 1989, die bis heute prĂ€gend sind. Die Abwicklung von Betrieben, Organisationen und sogar Vereinen ging hĂ€ufig mit der kompletten Infragestellung der eigenen Lebensperspektive einher, aber auch mit einer scheinbaren oder tatsĂ€chlichen Missachtung dessen, was bis dahin wichtig war.
Die Wende brachte eine Zeit der Extreme. Im Schatten der UmbrĂŒche und gesellschaftlichen Neuordnung entstand ein Vakuum, das sich einige zu Nutze machten. Plötzlich hatten die BĂŒrger der ehemaligen DDR mit kriminellen Machenschaften bislang unbekannten AusmaĂes zu tun.
Sprunghaft nahm die KriminalitĂ€t im Osten zu: fast tĂ€glich ereigneten sich BankĂŒberfĂ€lle, GemĂ€ldediebstĂ€hle und EinbrĂŒche. Und nicht zuletzt die groĂen Wirtschaftsdelikte der Nachwendezeit hielten die Menschen von der Ostsee bis zum ThĂŒringer Wald in Atem.
Bild: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Die Zeit im "wilden Osten" der 1990er-Jahre bot mit ihren rechtsfreien RĂ€umen, mangelnder Kontrolle bei Privatisierungen und der öffentlichen Hand geradezu den NĂ€hrboden fĂŒr kriminelle Energien. Denn tatsĂ€chlich dauerte es ein gutes Jahr, bis im Zuge der Deutschen Einheit die neuen Grundlagen des gesamten öffentlichen Lebens umgesetzt werden konnten: neue Gesetze, neue Beamte und neue Strukturen. Der Föderalismus machte dieses Prozedere in den fĂŒnf neuen BundeslĂ€ndern nicht eben einfacher. Auf dem Land dauerte dieser Prozess noch lĂ€nger, hier waren z.B. Polizeistationen auch 1991 noch nicht auf dem neuesten Stand.
Ein besonders eindrucksvolles Kapitel ist die Umwandlung dessen, was die DDR als "Volkseigentum" deklariert hatte und was neben Investoren und echten Interessenten auch GlĂŒcksritter und BetrĂŒger anzog. Subventionsgelder wurden veruntreut, gutglĂ€ubige Kommunen lieĂen sich von groĂspurigen Versprechungen blenden und alte Seilschaften nutzten komplizierte Firmengeflechte, um sich auf Kosten der Steuerzahler zu bereichern.
1998 schĂ€tzte der Untersuchungsausschuss, den der Bundestag zum Verbleib des DDR-Vermögens eingerichtet hatte, den Schaden, der durch Veruntreuung, Betrug und andere kriminelle Handlungen im Zusammenhang mit der Privatisierung der DDR-Volkswirtschaft verursacht wurde, auf drei bis zehn Milliarden D- Mark. Dass keine genauere Zahl vorliegt, legt den Verdacht nahe, dass die Dunkelziffer höher liegt und viele FĂ€lle niemals ans Tageslicht gekommen sind. Die Zentrale Ermittlungsstelle fĂŒr Regierungs- und VereinigungskriminalitĂ€t (ZERV) bearbeitete bis zum Jahr 2000 insgesamt 20.327 Ermittlungsverfahren, 4.004 allein wegen "vereinigungsbedingter WirtschaftskriminalitĂ€t". Sie schĂ€tzte den Schaden sogar auf 26 Milliarden D-Mark. Herausgekommen ist bei allen BemĂŒhungen der AufklĂ€rung aber wenig. Geblieben ist oft das GefĂŒhl des "betrogen worden seins" im Osten.
Die KriminalfĂ€lle der Einheit haben ihre Spuren hinterlassen und zĂ€hlen zu den PhĂ€nomenen der Nachwendezeit, die unser Land und unseren Blick auf die Zeit bis heute prĂ€gen. So blieb etwa von Europas einst gröĂter Spezialreederei in Rostock, der "Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei", nach nicht einmal zwei Jahren nur noch ein wirtschaftlicher Scherbenhaufen ĂŒbrig. Insgesamt kassierten vermeintliche Investoren mehr als 40 Millionen Mark Subventionsgelder. Auch die dubiosen GeschĂ€fte um die Deponie Schönberg zeigen die verheerenden Auswirkungen von Wirtschaftsdelikten.
Bei der Privatisierung ostdeutschen Volksvermögens landen drei MĂ€nner einen Coup: Sie erwerben die gröĂte Spezialreederei Europas, schlachten sie aus und hinterlassen einen Scherbenhaufen. Wie war das möglich?
Nicht nur die FĂ€lle von WirtschaftskriminalitĂ€t nahmen zu. Schlecht ausgestattete Bankfilialen, die nur ĂŒber unzureichende Sicherungssysteme verfĂŒgten, wurden quasi ĂŒber Nacht zum Ziel von BankrĂ€ubern. Zu Beginn der 1990er-Jahre nahmen BankĂŒberfĂ€lle merklich zu. Als die D-Mark am 1. Juli 1990 eingefĂŒhrt wurde, registrierte die Polizei durchschnittlich vier ĂberfĂ€lle auf Geldinstitute am Tag. Bis dahin, so erinnert sich der ehemalige Kriminalbeamte Gerhard Rogalla, kannte man diese Art der KriminalitĂ€t eigentlich nicht.
Eine Bande von BankrĂ€ubern blieb besonders im GedĂ€chtnis: Innerhalb von fĂŒnf Jahren erbeuteten die TĂ€ter von RĂŒgen bis ThĂŒringen rund zehn Millionen D-Mark. Die HaupttĂ€ter konnten erst 1997 gefasst werden. Der GroĂteil der Beute ist bis heute verschwunden.
BankĂŒberfĂ€lle sind nach dem Ende der DDR im Osten fast alltĂ€glich - ein neues PhĂ€nomen fĂŒr die damaligen Ermittler. Eine Gruppe von BankrĂ€ubern erbeutet bei ihren jahrelangen RaubzĂŒgen mehrere Millionen D-Mark.
Neben Sparkassen und Banken standen auch Museen und GemÀldegalerien bei Kriminellen in der Nachwendezeit hoch im Kurs. Denn sowohl dort als auch in vielen Kirchen, Schlössern und UniversitÀten hingen wertvolle Kunstwerke - hÀufig schlecht gesichert und schlecht bewacht.
Im Chaos der Nachwendejahre werden Galerien, Museen und Kirchen zum Ziel von Dieben. So verschwinden 1992 in Weimar acht GemÀlde mit einem geschÀtzten Wert von 63 Millionen D-Mark.
Die Grenzen waren offen und es gab einen weltweiten Markt fĂŒr das Diebesgut. So wurden beispielsweise 1992 in Weimar acht GemĂ€lde mit einem geschĂ€tzten Wert Wert von 63 Millionen D-Mark gestohlen. (IB)
Von 1992 bis ins Jahr 2008 erbeutet eine Gruppe BankrĂ€uber weit ĂŒber zehn Millionen D-Mark. Die Sparkassen und Banken sind schlecht gesichert, die Polizei unterbesetzt. Fast tĂ€glich gibt es ĂberfĂ€lle - ein neues PhĂ€nomen fĂŒr die damaligen Ermittler.
Oft dauern ihre ĂberfĂ€lle nur wenige Minuten. In der Regel ist der Tatzeitpunkt in den Abendstunden, denn meist ist um diese Tageszeit nicht viel los, nur wenige Kunden sind kurz vor Schalterschluss in den Geldinstituten.
Die Banken sind ungenĂŒgend gesichert, Sicherheitstechnik so kurz nach der Wende teuer und es fehlt oft am Nötigsten. Die nĂ€chste - schwach besetzte - Polizeistation ist kilometerweit entfernt. Auf dem Land ermöglichen die widrigen UmstĂ€nde eine der gröĂten Bankraubserien nach der Wende im wiedervereinigten Deutschland. Allein innerhalb von fĂŒnf Jahren erbeuteten die 42 Diebe von RĂŒgen bis ThĂŒringen knapp zehn Millionen D-Mark.
FrĂŒhjahr 1990. Die Grenzen sind offen, im Osten gibt es fĂŒr Kleinkriminelle viel zu holen. Die Polizei ist ĂŒberfordert, schlecht ausgestattet, unterbesetzt und hĂ€ufig fĂŒhrungs- und planlos.
Auch am 22. April 1996 in Ahrenshagen geht die Sache ganz schnell - die MĂ€nner erbeuten mehrere zehntausend D-Mark in der Kreissparkasse. Im Anschluss zeigen die Lokalnachrichten die immer gleichen Bilder: verstörte Bankangestellte und unkenntliche Bilder der Ăberwachungskameras.
Bild: Hoferichter & Jacobs GmbH
Die TĂ€ter sind nicht zum ersten Mal auf Beutezug. Manchmal sind sie zu zweit, manchmal zu dritt. 1992 ahnt noch niemand, dass die scheinbar kleine Gruppe in Wahrheit eine groĂe Bande ist - bestens organisiert. Sparkassen, Raiffeisenbanken und Postfilialen sind ihr Ziel. Ihre Ăberfallserie reicht vom Nordosten Deutschlands bis nach ThĂŒringen. Zwischen 1992 und 2008 werden ihnen insgesamt etwa 100 BankĂŒberfĂ€lle und ĂberfĂ€lle auf Geldtransporter zur Last gelegt.
Seit EinfĂŒhrung der D-Mark am 1. Juli 1990 registriert die Polizei durchschnittlich vier ĂberfĂ€lle pro Tag. Gerhard Rogalla, damals leitender Ermittler in diesen FĂ€llen, erzĂ€hlt rĂŒckblickend, dass ĂberfĂ€lle so hĂ€ufig waren, dass sie allein das Wort schon nicht mehr hören konnten.
Einen Zusammenhang zwischen einem GroĂteil der Taten, die sich von 1992 bis 1997 hauptsĂ€chlich im lĂ€ndlichen Raum von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ereignen, erkennen die Ermittler erst spĂ€ter. ZunĂ€chst sprechen auch die zeitlichen AbstĂ€nde der ĂberfĂ€lle gegen eine Verbindung: Manchmal liegen zwei Wochen zwischen den ĂberfĂ€llen, manchmal drei Monate.
In der Polizeidirektion Neubrandenburg leitet Gerhard Rogalla das Sachgebiet "Raub-Erpressung-Geiselnahme". In sein Revier fallen die ersten BankĂŒberfĂ€lle in Wredenhagen und Cölpin im Jahre 1993. Diese Art von KriminalitĂ€t ist nach der Wende neu fĂŒr ihn und seine Kollegen: "BankĂŒberfĂ€lle gab es in dieser Form meines Wissens nach in der DDR gar nicht. Es kann natĂŒrlich den einen oder anderen gegeben haben, aber das war so was von selten und so was von die Ausnahme, dass es nicht mal bis zu uns durchgedrungen, und das war natĂŒrlich ein total neues PhĂ€nomen", so Rogalla.
Bild: Hoferichter & Jacobs GmbH
In Sporttaschen schleppen die TĂ€ter mal zwanzigtausend, mal sechzigtausend und einmal auch hundertdreiĂigtausend D-Mark weg. Die frischen D-Mark BĂŒndel haben eine ganz andere Anziehungskraft auf Kriminelle als die DDR-Mark.
Gemeinsam mit zwölf Beamten soll Ermittler Rogalla die FĂ€lle aufklĂ€ren. Doch obwohl sie sorgfĂ€ltige Ermittlungsarbeit leisten - sie sammeln FingerabdrĂŒcke, Tatortfotos aus dutzenden Bankfilialen, befragen Zeugen und bitten die Ăffentlichkeit um Mithilfe - fĂŒhrt zunĂ€chst keine der Spuren zu den TĂ€tern.
Denn zur Wahrheit gehört auch, dass in den Umbruchsjahren Mangel herrscht - vor allem an Personal. Im Einigungsvertrag ist festgeschrieben, dass alle Polizisten mit Verbindungen zur Staatssicherheit nicht mehr fĂŒr den bundesdeutschen Polizeidienst geeignet sind. Damit sind ostdeutschlandweit einige tausend Polizisten vom Dienst suspendiert, die nun bei der Verbrechensverfolgung fehlen. AuĂerdem gibt es AltersbeschrĂ€nkungen und Einsparvorgaben. Die Polizeistationen bleiben unterbesetzt und eine lĂ€nderĂŒbergreifende Ermittlungsarbeit, wie Gerhard Rogalla sie anregt, ist personell nicht umsetzbar: "Wir hatten schon nach einiger Zeit das GefĂŒhl, dass es sich um die gleichen TĂ€ter handelte, weil die RaubzĂŒge immer nach dem gleichen Muster abliefen. Ich hatte angeregt, von Neubrandenburg aus eine lĂ€nderĂŒbergreifende Ermittlungsgruppe zu grĂŒnden, doch Anfang der 1990er-Jahre war die Polizei noch nicht so gut vernetzt, jede Polizeistation war noch mit sich und dem Systemumbruch beschĂ€ftigt und so hatten die Kriminellen leichtes Spiel."
Das alles spielt den BankrĂ€ubern in die HĂ€nde - und sie stehlen hunderttausende Mark aus den Bankfilialen des Ostens. Ihren gröĂten Coup landen die Gangster im Februar 1997, als sie die Stadtsparkasse von Lychen um 589.680 D-Mark erleichtern.
Bild: Hoferichter & Jacobs GmbH
Aber 1997 ist auch das Jahr, in dem die TĂ€ter den entscheidenden Hinweis in einem Fluchtfahrzeug hinterlassen: Eine Tankquittung fĂŒhrt die Ermittler zu einer Tankstelle. Und hier gibt es erstmals Fotos von den TĂ€tern ohne Maske - ein Durchbruch. AuĂerdem hat einer der TĂ€ter eine markante Adidas-Lederjacke an, die er auch bei anderen ĂberfĂ€llen trĂ€gt.
Im Mai 1997 kann die Polizei einige VerdĂ€chtige festnehmen. Und tatsĂ€chlich packt einer von ihnen aus. Der in Frankfurt/Oder hinzugezogene Oberstaatsanwalt Ulrich Scherding erinnert sich daran, wie sich dank dieses Verhörs nach und nach die Puzzleteile zusammensetzen: "Sie suchten schlecht gesicherte Banken mit langen Anfahrtswegen fĂŒr die Polizei aus, wie zum Beispiel die Sparkasse Wredenhagen im Mai 1993. In der Regel haben drei MĂ€nner die Bank ĂŒberfallen, wĂ€hrend sich an jeder ZufahrtstraĂe ein Wachposten positionierte, um per Handy mitzuteilen, wenn die Polizei kommt und aus welcher Richtung, damit noch genĂŒgend Zeit fĂŒr die Flucht blieb." Erst jetzt wird das ganze AusmaĂ der Raubserie deutlich.
Bild: Hoferichter & Jacobs GmbH / Quelle: "Zugriff"
Einige der TĂ€ter hat die Polizei bis heute nicht ermitteln können. Am Ende gehen mehr als 50 BankĂŒberfĂ€lle auf das Konto der Gruppe, deren AnfĂŒhrer der Usedomer Dietmar T. und der Stralsunder A. R. sind. Von 1992 bis 1997 erbeuten die gelernten SchweiĂer auf diese Weise allein bei ihren BankĂŒberfĂ€llen im Nordosten etwa zehn Millionen D-Mark. Um eine Ăbersicht ĂŒber die Vielzahl an Taten und Tatorten zu erhalten, erstellt die Staatsanwaltschaft umfangreiche Tabellen, die Klarheit darĂŒber bringen sollen, wer an welchem Ăberfall beteiligt war. Die Ermittlungen ergeben, dass etwa 42 TĂ€ter zu der Bande gehören.
Die beiden HaupttÀter werden 1997 zu mehrjÀhrigen Haftstrafen verurteilt. Einen der beiden hÀlt das jedoch nicht davon ab, gleich nach seiner Entlassung wieder in alte Muster zu verfallen.
Zwischen 2004 und 2008 folgt eine weitere Serie von 54 Bank- und GeldtransporterĂŒberfĂ€llen vom Nordosten Deutschlands bis nach ThĂŒringen. Dieses Mal jedoch kann die Polizei schneller zugreifen und die TĂ€ter von damals kommen erneut in Haft. Von der Millionen-Beute, die bis 1997 gestohlen wurde, konnte bisher jedoch nur ein Teil sichergestellt werden. (IB)
Quellen: Infratest Dimap 2014; Allbus 2016 id01, Supplement, S.31 (51,7 Prozent der Ostdeutschen glauben, dass sie weniger als ihren gerechten Anteil erhalten); Allbus 2014 V180, Supplement, S.148 (86,2 Prozent stimmen nicht zu, dass Gewinne in der BRD gerecht verteilt werden).
Quelle: Der Osten nach 1989 - Ein Eldorado fĂŒr Kriminelle -MDR 05.05.2019