zur Erinnerung

Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?

Interview Das letzte Jahr der DDR: "Der Westen hat alles niedergemacht, was ostdeutsch war"

Anja Reich

08.11.2025 , 16:25 Uhr

Der Westdeutsche Martin Gross zog 1990 nach Dresden, um die Wende zu beschreiben. Im Interview sagt er: "Es war ganz roher, brutaler Kapitalismus."

Martin Gross
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Das Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wurde oft beschrieben. Aber das genaueste, schonungsloseste Zeugnis war lange kaum bekannt. Es ist das Buch "Das letzte Jahr", geschrieben von Martin Gross, einem Westdeutschen, der im Januar 1990 nach Dresden gezogen war. Sein Bericht bricht mit dem Mythos, das Jahr der Wiedervereinigung sei vor allem eine Phase der Euphorie, des Freiheitsrausches für die Ostdeutschen gewesen. Und es ist sicher kein Zufall, dass es damals niemand lesen wollte und es erst drei Jahrzehnte später wiederentdeckt wurde - durch den Ostdeutschen Jan Wenzel, der für Recherchen zu einem eigenen Buch darauf stieß.

Martin Gross: Wusste nicht mehr, was er da eigentlich geschrieben hatte.
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Sechs Jahre ist das her. Martin Gross steht im Regen auf dem Bahnhof von Bienenbüttel, einer Gemeinde in Niedersachsen. Sein Haar ist grau, sein Gesicht jungenhaft. Auf der Fahrt in sein Dorf erzählt er, wie überrascht er von der Wiederentdeckung seines Buches war. Dass er es erst noch einmal selbst lesen musste, um zu wissen, was er damals in Dresden alles erlebt hatte.

Sein Haus steht zwischen einer Pferdekoppel und einem Teich. Er wohnt allein hier, aber heute ist seine Familie zu Besuch. Samuel, sein Sohn, kocht Espresso. Christine Garbe, seine Ex-Frau, stellt Kuchen auf den Tisch, setzt sich dazu, manchmal ergänzt sie seine Erinnerungen durch ihre.

Martin Gross: "Schnell absehbar war dieser irre Zusammenbruch"

Herr Gross, wie sind Sie auf die Idee gekommen, im Januar 1990 in den Osten zu ziehen?

Meine Frau ist in Dresden geboren. Ihre Familie ist 1955 in den Westen gegangen, aber ihre Verwandtschaft war noch da. Im Dezember 1989 haben sie uns in West-Berlin besucht und gesagt, kommt doch mal rüber. Und wir haben gesagt, gut, dann kommen wir im Januar für ein paar Tage.

Christine Garbe: Beim ersten Besuch war ich dabei. Wir haben bei einer früheren Nachbarin gewohnt, ein bisschen außerhalb. Von da aus sind wir in die Stadt gezogen. Da hat es dich gepackt.

Die Westler sind in den Osten eingefallen: Foto von Martin Gross aus dem Jahr 1990
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Was hat Sie gepackt, Herr Gross?

Das alles von Nahem zu erleben, zu sehen, was noch übrig ist von dieser friedlichen Revolution. Erst wollte ich nur einen Artikel für die Zeitschrift Lettre International schreiben, hatte dann aber das Gefühl, noch viel mehr beschreiben, noch länger bleiben zu wollen.

Weil so viel passierte?

Ja, alles veränderte sich rasend schnell. Jede Woche passierte was Neues. Im März fanden die Wahlen statt, die wollte ich mir unbedingt noch ansehen. Danach war klar, dass demnächst die Währungsunion kommen würde. Ich dachte, das nehme ich auch noch mit. Und sehr schnell absehbar war dieser irre Zusammenbruch, den man im Westen gar nicht mitbekam. Ich dachte, im Osten gibt es jetzt einen riesigen Aufbruch. Dabei war es ein riesiger Abbruch. Und der Aufschwung fand im Westen statt.

Christine Garbe: Ich habe Martin immer wieder in Dresden besucht, und er hat mir Briefe nach Berlin geschrieben. Wir waren schockiert, wie schnell der Westen im Osten einfiel. Mit diesen unglaublich brutalen Methoden.

Sie waren überall ganz dicht dabei, Herr Gross. Im Krankenhaus, in der Redaktion einer Zeitung, in der ehemaligen Stasizentrale. Wie haben Sie das geschafft?

Durch die Kontakte meiner Frau, ihre Onkel und Tanten. Ich war in Dresden, aber auch in Magdeburg. Christines Bruder ist Dermatologe, und er hatte Kontakt in die Klinik. Ohne ihn wäre ich dort nicht reingekommen.

Also war es leicht für Sie, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen?

Ja, die Menschen damals in dieser Situation waren sehr offen. Es gab einen großen Gesprächsbedarf. Da war etwas geschehen, über das man reden musste, unbedingt reden, reden, reden, und sei es mit dem dahergelaufenen Wessi. Aber die Gesprächsbereitschaft ist dann allmählich verstummt, einer Enttäuschung gewichen.

Dresden 1990: Ostdeutsche im Kaufrausch.
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Wurden Sie immer gleich als Westdeutscher erkannt?

Ja, immer. An der Westkleidung, an der Art, Gespräche zu führen. Ich habe die Unterschiede an einer Stelle im Buch ganz brutal formuliert.

Westdeutsche tragen ihren Bauch stramm voraus, schreiben Sie. Und die Ostdeutschen beschreiben Sie als unbeholfen. Sie wollen nicht auffallen, nichts falsch machen.

Genau. Den ostdeutschen Journalisten, die ich in Dresden kennenlernte, fiel es zum Beispiel schwer, einfach Knall auf Fall eine Frage zu stellen, sie sind auf Umwegen dahin gekommen, haben erstmal die Stimmung und die Interessen ihres Gesprächspartners sondiert, bevor sie mehr aus sich herausgegangen sind. Ich fand dieses Bescheidene, Zurückgenommene angenehmer als die lauten, selbstbewussten Westjournalisten oder Westpressesprecher.

Viele Westjournalisten sind damals in den Osten gekommen, waren aber auch schnell wieder weg. Hatten Sie Kontakt zu ihnen?

Nein, ich war ganz für mich, hatte eher Kontakt zu DDR-Journalisten, zu Uta Dittmann zum Beispiel, die am 10. Oktober 1989 in ihrer Zeitung, der "Union", über die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof berichtet hatte - und zwar nicht als rowdyhafte Ausschreitungen, sondern als Bürgerprotest. Durch die Gespräche in ihrer Redaktion bekam ich sehr intime Einblicke, da hat es mich wirklich gepackt.

Paulus Ponizak / Berliner Zeitung

Martin Gross
geboren 1952, wuchs in Böblingen auf, zog kurz vor dem Abitur nach West-Berlin. Er studierte Germanistik und Politologie, arbeitete als Lehrbeauftragter an der FU, schrieb einen Roman und Texte für Zitty und taz. 1990 zog er nach Dresden und Magdeburg und schrieb "Das letzte Jahr". Von 1998 bis 2016 arbeitete er für verschiedene Universitäten in Kooperationen mit russischen, indischen und europäischen Partnern. 2019 entdeckte Jan Wenzel Gross' Buch "Das letzte Jahr". 2020 wurde es im Verlag Spector Books neu aufgelegt und verkaufte seitdem rund 4000 Exemplare. Gross schrieb wieder Romane: "Ein Winter in Jakuschevsk" und "Nadjas Geschichte".

Martin Gross: "Die ostdeutschen Reformer wollten Helmut Kohl"

Inwiefern?

Uta Dittmann war die erste Journalistin im Osten, die sich getraut hat, so einen Bericht zu veröffentlichen. Vor diesem Hintergrund sind Hans Modrow, der ehemalige SED-Bezirkschef in Dresden, und Wolfgang Berghofer, der damalige Bürgermeister, auf die Demonstranten zugegangen. Die Polizei hat sich von nun an zurückgehalten, es gab keine Verhaftungen mehr und auch nicht mehr diese üblen Verfahren in der Haftanstalt und so weiter. Das im Detail zu beschreiben, hat mich interessiert, das Leben einer Person über ein ganzes Jahr zu verfolgen. Auch die Konflikte in der Redaktion der "Union", die ja zu DDR-Zeiten eine CDU-Parteizeitung war.

Erinnern Sie sich noch an einen dieser Konflikte?

Ja, es gab dort ein großes Misstrauen den Ost-CDUlern gegenüber. Menschen, die zu den Reformern zählten, stützten sich lieber auf Helmut Kohl als auf ihre eigenen Leute. Das war für mich ein bisschen befremdlich. Denn Kohl war ja nicht gerade eine Person, die für Erneuerung stand. Aber die ostdeutschen Reformer wollten Kohl und seine Mannschaft, weil sie eben ihren eigenen Leuten nicht getraut haben. Das hatte auch mit den ganzen Stasienthüllungen zu tun. Beim Demokratischen Aufbruch Wolfgang Schnur, bei der ostdeutschen SPD Ibrahim Böhme. Viele unserer Bekannten haben gesagt: Bevor wir eine Partei wählen, in der dann doch wieder die Stasi mit sitzt, nehmen wir lieber den Westen.

Uta Dittmann arbeitete dann aber nicht mehr lange bei der "Union", erfährt man aus Ihrem Buch.

Das hatte mit einem anderen Konflikt zu tun. Sie stellte sich eine Zeitung vor, in der gestritten und reflektiert, die lang erkämpfte Meinungsfreiheit ausgekostet wird. Aber dann kam der Westverlag, in dem Fall war es der Süddeutsche, und der kommissarisch eingesetzte Chefredakteur sagte, ihr könnt schreiben, was ihr wollt, Hauptsache, der Artikel ist um 16 Uhr fertig und es gibt Fotos dazu und keine Bleiwüste. Das, was Uta Dittmann gegen ihre Chefs durchgekämpft hatte, die eigene Meinung zu schreiben, Debatten zu führen, war nicht mehr wichtig. Das hat sie unendlich enttäuscht und frustriert. Sie hat sich zurückgezogen.

Beim Interview in Niedersachsen: Martin Gross mit seiner Ex-Frau Christiane Garbe
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Auch Ihre Enttäuschung ist beim Lesen Ihrer Schilderungen oft zu spüren. Woher kam die?

Aus meinen Erwartungen. Es war eine Revolution, und dann auch noch eine in Deutschland. Sowas gibt es ja nicht oft. Aber als ich in Dresden ankam, war von der Revolution nicht mehr viel übrig geblieben.

Was war noch übrig?

Der Runde Tisch, an dem es darum ging, die Kultur in Dresden zu organisieren. Aber auch das war enttäuschend. Es hieß, nun macht mal Vorschläge, wie es weitergeht, aber wir haben leider noch kein Telefon, ihr müsst sie uns mit der Post schicken. Zu dem Zeitpunkt war bereits klar: Der Westen kommt, schickt seine Beamten, um seine Konzepte von Kulturpolitik mit den künftigen Bürgermeistern besprechen. Alles sollte nach Westvorbild aufgebaut und strukturiert werden. Steuer, Stadtplanung, Baugenehmigungen. Das war keine Revolution mehr, das war eine gewendete Revolution.

Christine Garbe: Das beschreibst du ja auch gut, dass zweitklassige Leute aus der alten Bundesrepublik plötzlich Leitungspositionen im Osten hatten. Das habe ich auch an den Universitäten erlebt.

Martin Gross: "Ganz roher, brutaler Kapitalismus"

Originalausgabe von "Das letzte Jahr", erschienen 1992
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

So ein Westprofessor kann sich hier nochmal in seinem ganzen Glanz präsentieren, schreiben Sie. Ein Satz, wie man ihn selten hört.

Die Arroganz, mit der der Westen wirklich alles niedergemacht hat, was ostdeutsch war - damit waren wir überhaupt nicht einverstanden. Der Westen war als System gewollt, und seine Leute konnten plötzlich im Osten eine unglaubliche Karriere machen. Ich habe bei meinen Recherchen einen Filialleiter eines Supermarkts getroffen, der gerade noch ein kleiner Angestellter in Düsseldorf war und jetzt ein Riesenzelt auf einem matschigen Gelände aufgebaut hatte, das von fünf Sattelschleppern pro Tag beliefert wurde. Er hatte nicht mal eine Genehmigung dafür, die Waren wurden einfach nur abgeladen, nicht mal mehr in Regale sortiert. "Was glaubst du, was das für eine Chance ist", sagte der zu mir. "In ein paar Jahren bin ich ganz oben." Die Freiheit, die sich die Ostdeutschen erkämpft hatten, war eben vor allem für die Westler ein Freiheitsrausch.

Gibt es eigentlich so eine Art Unrechtsbewusstsein bei Westdeutschen?

Also ich kenne niemanden. Die Ostperspektive ist gar nicht im Bewusstsein der Westdeutschen gelandet, die Erkenntnis, dass es sich um einen raffgierigen Frühkapitalismus, wirklich ganz rohen, brutalen Kapitalismus gehandelt hat.

Aber Sie haben das erkannt, schreiben, die Kolonnen von Lastwagen transportieren die Arbeitslosigkeit in den Osten. Haben Sie sowas auch mal zu einem Mann wie diesem Filialleiter gesagt?

Nein. Ich habe ihn ausgefragt. Ich wollte ja seine Sicht kennenlernen und darüber schreiben können.

Und hatten Sie manchmal das Bedürfnis, die Ostdeutschen in ihrem Kaufrausch wachrütteln zu wollen, sie zu warnen?

Ja, ich habe es auch versucht. Aber für Leute wie Christines Onkel war ich ein Schwarzmaler. Er hat gesagt, bei euch im Schwarzwald sind alle Straßen asphaltiert, die Häuser beleuchtet, die Warenangebote stimmen, und du bist hier der Miesepeter. Leute wie er wollten so leben wie wir. Ich musste ständig ihre Fragen beantworten. Welche Versicherungen sie brauchen: Vollkasko, Teilkasko, ADAC? Welche Steuerklasse, drei oder fünf?

Christine Garbe: Sie haben ja nicht gesehen, was auf sie zukommt, die Treuhand, die westliche Konkurrenz, der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, die Massenarbeitslosigkeit. Von einem Tag auf den anderen war ihnen die Existenzgrundlage entzogen. So etwas hatten wir bei uns im Westen noch nie erlebt.

Martin Gross: Nicht einmal nach Kriegsende war das so krass, wie das in der DDR 1990 war.

Martin Gross: "Die ganze Wendezeit stand unter einem enormen Zeitdruck"
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Hätte man das Ihrer Meinung nach verhindern können?

Martin Gross: Schwer zu sagen. Die ganze Wendezeit stand unter einem enormen Zeitdruck, es sollte verhindert werden, dass noch mehr Leute abhauen. Bei einer Montagsdemo in Dresden haben mir Jugendliche gesagt, also wenn die D-Mark nicht sofort kommt, dann sind wir weg hier. Klar, der Westen hat die DDR geschluckt. Aber es waren natürlich auch die Ostdeutschen selbst, die den Westen wollten und keine Interesse hatten, wie Polen, Rumänien oder Ungarn ein eigenes System, einen eigenen souveränen Staat aufzubauen. Und als mit den Wahlen klar war, sie wollen das westliche System, kamen aus dem Westen eben die Leute, die sich damit auskannten. Man hätte den Ostdeutschen nicht so viel Hoffnung machen sollen, stattdessen das Bewusstsein dafür schärfen, dass es eine schwierige Situation wird. Und darauf achten, dass man sie mit einbindet in die neuen Strukturen.

Martin Gross: "Die Russen wollten unser System gar nicht"

Im Januar 1991 haben Sie Dresden verlassen. Als 1992 Ihr Buch "Das letzte Jahr" erschien, waren Sie wieder im Westen. Wie haben Sie das erlebt?

Mein Buch ist erschienen, als unser Sohn Samuel geboren wurde, im Oktober '92. Wir lebten wieder im Schwarzwald, wo ich herkomme, und waren geistig ganz woanders. Es gab eine einzige Rezension, in der taz, ansonsten hat mein Buch keinen Menschen interessiert. Das Thema war im Westen abgegessen, weil die Ostdeutschen ja angeblich sowieso nur jammerten. Und die Ossis wollten sich nicht mehr an ihre Hoffnungen und Enttäuschungen von vor zwei Jahren erinnern. Es hieß, Martin Gross erzählt nur das, was wir längst wissen.

Es sind dann dreißig Jahre vergangen, bis Ihr Buch entdeckt wurde. In der Zwischenzeit haben Sie kein einziges mehr geschrieben. Warum nicht?

Naja, es gab die Familienphase, und ab 1998 stand für mich Russland im Vordergrund.

Martin Gross beim Interview in seinem Haus in Niedersachsen
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Russland?

Wir waren inzwischen hierhergezogen, in die Nähe von Lüneburg, wo meine Frau eine Professur hatte. Es gibt hier sehr viele Deutschrussen und einen Bürgerverein, der eine Partnerschaft mit einer russischen Stadt in die Wege leiten wollte. Es wurde für die dortige Uni ein Gastdozent für das Fach Deutsch gesucht, und ich war neugierig darauf, Russland hautnah zu erleben, auch mit dem Hintergrund, noch einmal eine Wendezeit zu erleben. Diesmal wollte ich aber nicht mehr der skeptische Beobachter sein, sondern mithelfen, die Demokratie aufzubauen. Die EU hatte riesige Programme für Hochschulkooperationen mit Russland. Ich dachte, das ist eine einmalige Chance. Aber ja, es hat nicht funktioniert, man sieht ja heute das Ergebnis.

Warum hat es nicht funktioniert?

Im Nachhinein würde ich sagen, es war ein fundamentales Missverständnis, dass Russland wirklich von Demokratie, Zivilgesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, Parteienvielfalt begeistert war. Die Begriffe "Demokratie", "Marktwirtschaft" usw., standen aus russischer Sicht für die Katastrophenjahre unter Jelzin: Oligarchenkriege und Korruption. 1998 war das schwärzeste Jahr in der russischen Geschichte. Der Rubelkurs rutschte tief in den Keller, es gab die Ölkrise, der Staatshaushalt war pleite. Die Häuser waren Ruinen, noch viel schlimmer als in Dresden. Arbeit, Wohnen, medizinische Versorgung, alles war zusammengebrochen, alles ohne Absicherung. Und dann kamen wir und wollten den Russen die Vorteile der Demokratie erklären. Es hat ständig gekracht.

Können Sie ein Beispiel erzählen?

Deutsche Journalistikstudenten haben eine russische Zeitung besucht. Eine ihrer Fragen war: Wer ist eigentlich der Eigentümer dieser Zeitung, wem gehört sie? Und die zweite Frage: Wir haben gehört, dass die Zeitung sich auch dadurch finanziert, dass Politiker für ihre Interviews bezahlen. Am Abend bekam ich den Anruf von Nina, einer russischen Kollegin: Ihr seid doch Gäste, sowas fragt man doch nicht. Der Zeitungstermin für den nächsten Tag wurde dann gestrichen. Ein anderes Mal wurden deutsche Studenten durch den russischen Rektor verabschiedet, aber die russischen Studenten, bei denen sie gewohnt haben, sollten nicht dabei sein. Die Deutschen haben gesagt: "Nö, da kommen wir auch nicht". Das war natürlich arrogant von ihnen. Und ich verstehe Russen, wenn sie nach solchen Erfahrungen, die sie auch mit mir gemacht haben, sagen: Der Westen will uns bevormunden. Das war so.

Was meinen Sie mit: Erfahrungen, die Russen auch mit Ihnen gemacht haben?

Martin Gross: "Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern?"
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Weil von EU-Seite die Förderung von Kooperationen auf "Problem-Themen" konzentriert war, habe ich mich überall reingehängt: in die Arbeit mit schwierigen Jugendlichen und schwer Heroinsüchtigen. Ich war in Waisenhäusern, auch im Knast. Dass da jemand so sehr in ihren "Schmuddelecken" herumstöbert, war für die Russen schwer zu ertragen. 2002 wurde mir das Visum weggenommen und ein paar Jahre später, als ich wieder eins hatte, nochmal. Ich war eine unerwünschte Person und habe dann natürlich überlegt: Was ist da schiefgegangen? Die, mit denen ich in Kontakt bin, haben mir gesagt: Du bist zu offensiv gewesen, zu fordernd. Und es stimmt ja auch. Wir hatten die Vorstellung, Demokratie sieht so und so aus, die Russen wollten aber unser System gar nicht, haben gesagt, wir haben unser eigenes.

Sie haben immer noch Kontakt zu ihnen, auch jetzt, während des Krieges?

Ja, ich bin erschüttert über Putins Krieg, nichtsdestotrotz bin ich ein Freund der Russen und schreibe mir mit einigen Kollegen, und sie schreiben mir.

Was schreiben sie Ihnen?

"Lieber Martin, wir sind traurig." Oder: "Wir machen uns große Sorgen." Ohne zu sagen, worüber sie sich Sorgen machen. Andere schreiben: "Lieber Martin, du hast uns von Anfang an nicht verstanden, wir kämpfen hier um Leben und Tod". Und dann frage ich mich natürlich: Schreiben sie so, weil sie das wirklich denken, oder weil sie diejenigen fürchten, die insgeheim ihre E-Mails mitlesen? "Wir beten dafür, dass es besser wird", stand in einem Brief; von Krieg war keine Rede.

Martin Gross: "Ich würde wieder in den Osten gehen"

Sind die Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen, der Aufstieg der AfD, für Sie Entwicklungen, die aus den Fehlern der Vergangenheit resultieren?

In den großen Zügen, ja. Sie sagen auf diese Art: Wir wollen euer System nicht, wir machen das lieber selber. Es war ein Fehler, DDR-Bürger nicht mehr einzubeziehen beim Aufbau des westlichen Systems. Man hat sie verwaltet, aber nicht mit aktiviert. Und das zahlt sich massiv aus.

Martin Gross im Jahr 1988 privat

Vor fast genau 35 Jahren haben Sie über die Ostdeutschen geschrieben: "Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie ändert, denke ich, warum nur sie? Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern?" Denken Sie das heute noch?

Heute sehe ich keine große Chance, etwas zu ändern. Man kann eigentlich nur Millimeterarbeit leisten, im Sinne der Verständigung mit denen, die enttäuscht sind.

Ihre Stärke ist es, immer die Perspektive der anderen verstehen zu wollen. Wo haben Sie das gelernt?

Ich weiß nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass beide meiner Eltern praktisch gehörlos waren. Da spielte es eine große Rolle, den anderen jenseits von Worten zu verstehen.

Wie war das für Sie, als Ihr Buch wiederentdeckt wurde?

Ich bin aufgelebt, habe wieder geschrieben und publiziert, auch über meine Zeit in Russland. Das war für mich vor 20 Jahren nicht abzusehen, das ist ein neues schönes Lebensgefühl.

Haben Sie noch Kontakt zur Ostverwandtschaft in Dresden?

Die Dresdner leben nicht mehr. Aber zu einem Ost-Journalisten von damals habe ich noch Kontakt. In meinem Buch habe ich in "Stefan" genannt. Er hat mich neulich besucht und wir haben überlegt, ob wir eine Fortsetzung vom "Letzten Jahr" schreiben sollten.

Wo würden Sie heute hingehen, um ein Buch über so große gesellschaftliche Veränderungen zu schreiben?

Wieder in den Osten, klar.


Quelle:


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 08.11.2025 - 09:20