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Interview: Martin Debes
28. November 2022, 19:05 Uhr
© Claudio Reyes/AFP/Getty Images
ZEIT ONLINE: Herr Wagner, ĂŒber die Colonia Dignidad sind aktuell mehrere groĂe Dokumentationen abrufbar, auf Arte, Netflix oder Amazon: Erstaunt Sie das Interesse?
Jens-Christian Wagner: Nein. NatĂŒrlich ist die absolute Zahl der Opfer - bei den Deutschen die meisten Sektenmitglieder, bei den Chilenen die Gefolterten, die Ermordeten und die Zwangsadoptierten - im Vergleich zu anderen Massenverbrechen nicht groĂ. Aber diese Geschichte, diese Kombination krimineller Handlungen, von Missbrauch, Mord und Manipulation, sie ist schon sehr besonders, sehr extrem.
ist Professor an der UniversitĂ€t Jena sowie Leiter der Stiftung GedenkstĂ€tten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er ist Mitglied einer chilenisch-deutschen Arbeitsgruppe, die ein Konzept fĂŒr einen Erinnerungsort auf dem GelĂ€nde der ehemaligen Colonia Dignidad erarbeitete.
ZEIT ONLINE: Doch die deutsche Politik tut sich immer noch schwer mit der Aufarbeitung. Warum?
Wagner:
ZEIT ONLINE: Wie lieĂe sich das, was die Colonia Dignidad war, in wenigen Worten beschreiben?
Wagner: Es handelte sich um eine totalitĂ€re, auf Gewalt, Psychoterror und Denunziation basierende Organisation. Sie wurde gefĂŒhrt von dem Wanderprediger Paul SchĂ€fer, der in Nordrhein-Westfalen eine evangelikale Sekte gebildet hatte, dann aber wegen sexueller Gewalt gegen Kinder angezeigt wurde. Anfang der Sechzigerjahre floh er nach Chile und grĂŒndete dort mit einigen Getreuen eine Siedlung, die er Colonia Dignidad nannte, die "WohltĂ€tigkeits- und Bildungsgemeinschaft WĂŒrde". SpĂ€ter wurden Familien nachgeholt, aber auch viele einzelne Kinder, oft ohne EinverstĂ€ndnis der Eltern.
ZEIT ONLINE: Die Kinder wurden entfĂŒhrt.
Wagner: Richtig. Und dies in groĂer Zahl. Die Menschen lebten fortan in der tiefsten chilenischen Provinz, nach auĂen völlig isoliert, ein Modellfall totalitĂ€rer Herrschaft bis in die Sprache: Junge Frauen waren "Vögel", junge MĂ€nner, die SchĂ€fer als persönliche Bedienstete nutzte, "Sprinter". Eltern wurden von ihren Kindern getrennt, Jungen von MĂ€dchen. Alles stand unter der völligen Kontrolle einer MĂ€nnerclique um SchĂ€fer, die WachtĂŒrme errichten und das GelĂ€nde mit Stacheldraht umzĂ€unen lieĂ. Wer auch nur ansatzweise gegen die zumeist willkĂŒrlichen Regeln verstieĂ, wurde vor der Gemeinschaft erniedrigt, verprĂŒgelt oder mit Elektroschocks und Psychopharmaka ruhiggestellt. Und: In den Anfangsjahren der Pinochet-Diktatur diente die Colonia dem Geheimdienst Dina als Folter- und Mordzentrum. Dutzende, wenn nicht Hunderte Chilenen starben dort. Im Gegenzug stand die SektenfĂŒhrung unter dem Schutz der Junta ...
ZEIT ONLINE: ... und SchÀfer konnte Hunderte Jungen missbrauchen. Diente das gesamte Konstrukt nicht vor allem diesem Ziel?
Wagner: Das ist so. In der Kolonie konnte SchĂ€fer sich eine Opfergruppe aus Jungen und jungen MĂ€nnern regelrecht heranziehen, zum Zwecke des systematischen sexuellen Missbrauchs. Dank der totalen Kontrolle im Inneren und eines nach auĂen geknĂŒpften Beziehungsnetzwerks, das er bereits vor den Pinochet-Jahren aufgebaut hatte, hatte er dabei ein Vierteljahrhundert lang freie Bahn.
ZEIT ONLINE: Gehörte auch die Bundesrepublik zu den UnterstĂŒtzern?
Wagner: Einige ihrer Institutionen: ja.
ZEIT ONLINE: Wirkten deshalb das AuswĂ€rtige Amt und die Botschaft so wenig erfreut, als im Oktober der thĂŒringische LinkenministerprĂ€sident Bodo Ramelow das GelĂ€nde besuchte?
Wagner: Ăber die Motivation kann ich nur spekulieren. Es gab wohl tatsĂ€chlich Vorbehalte. Umso wichtiger ist es, dass Ramelow sich mit den Opfern traf, den deutschen, aber auch den chilenischen. Immerhin besuchte er als damaliger PrĂ€sident des Bundesrates das GelĂ€nde, war damit der bislang höchstrangige deutsche Besucher ĂŒberhaupt.
ZEIT ONLINE: An der Verzögerungstaktik scheint Ramelows Reise aber wenig geÀndert zu haben.
Wagner: Abwarten. Auch der Bundestag musste die Regierung ja förmlich treiben. Es bedurfte einiger engagierter Parlamentarier, zu denen die frĂŒhere GrĂŒnenministerin Renate KĂŒnast, der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand oder auch der heutige BundesverfassungsgerichtsprĂ€sident Stephan Harbarth gehörten, um im Jahr 2017 einen Beschluss zu erwirken, mit dem die Aufarbeitung endlich beginnen konnte.
ZEIT ONLINE: Es wurden erst einmal nur Kommissionen gebildet.
Wagner: Aber es war ein Beginn. Eine Kommission bestand aus Abgeordneten und Regierungsbeamten: Sie richtete einen Hilfsfonds ein, aus dem jetzt um die 150 ehemalige deutsche Sektenmitglieder jeweils 10.000 Euro erhielten - wohlgemerkt nicht als EntschĂ€digung, sondern als Hilfszahlung, denn die Bundesregierung wollte unbedingt einen PrĂ€zedenzfall vermeiden. DarĂŒber hinaus gibt es noch eine deutsch-chilenische Regierungskommission, die im November nach langer Pause wieder in Santiago tagte. Sie soll den vom Bundestag geforderten Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in der Colonia Dignidad vorbereiten. Wie ich höre, will die Kommission das GedenkstĂ€ttenprojekt vorantreiben.
ZEIT ONLINE: Sie gehören zu einer Arbeitsgruppe, die von der deutsch-chilenischen Regierungskommission beauftragt wurde, dafĂŒr ein Konzept zu entwickeln. Kann das nun umgesetzt werden?
Wagner: In seinen GrundzĂŒgen ist das Konzept seit 2019 fertig. Wir haben es der Kommission und auch der Ăffentlichkeit vorgestellt und mit den OpferverbĂ€nden diskutiert. Auch unsere Gruppe ist ĂŒbrigens paritĂ€tisch besetzt. Von chilenischer Seite ist Elizabeth Lira dabei, sie ist Dekanin der psychologischen FakultĂ€t an der Universidad Alberto Hurtado, dazu noch Diego Matte, der die Kulturabteilung der Universidad de Chile leitet. Aus Deutschland gehören Elke Gryglewski als Leiterin der GedenkstĂ€tte Bergen-Belsen und ich zu den Mitgliedern.
ZEIT ONLINE: Wie sieht Ihr Plan aus?
Wagner: Um das Konzept zu verstehen, muss man wissen, dass die Kolonie auf seltsame Art weiterexistiert. Als ich 2016 das erste Mal das GelÀnde besuchte, war ich fassungslos. Und eigentlich bin ich es bis heute. Die Zeit scheint eingefroren zu sein, die GebÀude stehen dort unverÀndert, teils mit dem Interieur aus den Siebzigerjahren und Bildern, auf denen SchÀfer mit den Kindern, die er missbrauchte, zu sehen ist. Und es wohnen etwa 100 der ehemaligen Sektenmitglieder noch dort. Die meisten von ihnen sind schwer traumatisierte Opfer des Systems, aber einige von ihnen sind Opfer, die zu TÀtern wurden. Das Ganze wirkt wie ein bewohntes Museum des Terrors.
ZEIT ONLINE: ... in dem Hochzeiten gefeiert werden und HotelgĂ€ste ĂŒbernachten.
Wagner: Es heiĂt ja jetzt auch Villa Baviera, bayerisches Dorf. Die Bezeichnung Villa Baviera wurde schon 1988 von SchĂ€fer erfunden, sie sollte die Tarnung vervollkommnen. Es gab ja schon lĂ€ngst Trachtengruppen, die vor den GĂ€sten sangen und tanzten. Es gab ein Krankenhaus, das offiziell die Bauernfamilien aus der Umgebung umsonst behandelte. Und es gab eine beeindruckende landwirtschaftliche Produktion, mit Ackerbau und Viehzucht. Doch das war Fake. Hinter der Fassade wurden die Chorjungen missbraucht, wĂ€hrend die Klinik unter anderem dazu diente, chilenischen MĂŒttern die kleinen Söhne wegzunehmen, damit SchĂ€fer neue Opfer erhielt. Und die Landwirtschaft basierte auf Zwangsarbeit, auch von Kindern, sieben Tage die Woche. Dieser Schrecken hat ein Ende gefunden, aber die alte Fassade steht noch - und wir wollen sie umgestalten. Die zentralen GebĂ€ude, in denen die TĂ€ter operierten, sollen zu einem Gedenk- und Bildungsort werden. Auch zwei HĂ€user, in deren Kellern der Pinochet-Geheimdienst mithilfe von SchĂ€fers Leuten folterte und mordete, sollen zur GedenkstĂ€tte gehören.
ZEIT ONLINE: DafĂŒr mĂŒsste aber ein Teil der Menschen umziehen?
Wagner: Ja, in andere oder neu zu bauende HĂ€user. Wir setzen auch darauf, dass sich dann Chilenen aus der Umgebung auf dem GelĂ€nde niederlassen. Aber vorher muss die Regierungskommission Ergebnisse vorlegen, damit ein TrĂ€ger fĂŒr die GedenkstĂ€tte gefunden werden kann.
ZEIT ONLINE: Warum dauert das so lange?
Wagner: Das frage ich mich auch. Ja, es gab die Corona-Pandemie. Und ja, in beiden LÀndern gibt es neue Regierungen, die erst einmal andere PrioritÀten haben. Am Ende wird das alles auch viel Geld kosten.
ZEIT ONLINE: Ist das nicht ein schmaler Grat: Deutsche erklÀren dem Rest der Welt, wie Erinnerungskultur geht?
Wagner: Das ist in der Tat ein Vorbehalt, der uns in Chile zuweilen begegnet. Umso wichtiger ist es, dass Chilenen und Deutsche jeden Schritt gemeinsam auf Augenhöhe gehen. Es geht um Verbrechen, die von Deutschen an Deutschen und Chilenen begangen wurden, aber eben auch, zumindest wĂ€hrend der Pinochet-Zeit, um Verbrechen von Chilenen an Chilenen. Daraus resultieren diverse Opfergruppen mit teils unterschiedlichen Interessenlagen. Es gibt die ehemaligen Bewohner der Kolonie, die dort noch leben, und jene, die bewusst weggezogen sind. Es gibt die zwangsadoptierten chilenischen Kinder, die lĂ€ngst Erwachsene sind, und ihre Familien. Und es gibt die Folteropfer des chilenischen Geheimdienstes und die groĂe Gruppe der Angehörigen der Verschwundenen und Ermordeten.
ZEIT ONLINE: Ist das Konfliktpotenzial nicht groĂ, zumal es um Geld und Anteile geht?
Wagner: Das Potenzial existiert. Aber auch der Besuch Ramelows und die GesprĂ€che dort haben wieder gezeigt: Die Idee der GedenkstĂ€tte stiftet Konsens, und dies inzwischen auch mehrheitlich bei jenen, die noch auf dem GelĂ€nde leben. Doch die Zeit der AnkĂŒndigungen und Versprechungen muss vorbei sein. Ich wĂŒnsche mir sehr, dass 2023 zu dem Jahr wird, in dem die Umgestaltung der einstigen Colonia Dignidad startet. Am 11. September jĂ€hrt sich der Pinochet-Putsch zum 50. Mal: Dies wĂ€re doch ein guter Tag fĂŒr den ersten Spatenstich.