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Jens-Christian Wagner ĂŒber Colonia Dignidad: Missbrauch, Mord und Manipulation In der Siedlung Colonia Dignidad in Chile wurden Menschen jahrelang gefoltert und misshandelt. Ein Experte erklĂ€rt, wie es soweit kommen konnte.

Interview: Martin Debes

28. November 2022, 19:05 Uhr

1961 floh der deutsche Wanderprediger Paul SchĂ€fer nach Chile und grĂŒndete dort mit Mitgliedern seiner Sekte die Siedlung Colonia Dignidad. Das war eine totalitĂ€re Organisation, in der Hunderte Jungen sexuell missbraucht wurden. Der GedenkstĂ€ttenleiter Jens-Christian Wagner erzĂ€hlt im GesprĂ€ch mit ZEIT ONLINE, wie es dazu kommen konnte und inwieweit die Bundesrepublik Mitverantwortung fĂŒr diese Verbrechen trĂ€gt.

Ein deutsches MĂ€dchen fĂ€hrt in einem Lastwagen in Villa Baviera oder Bavaria Village, frĂŒher bekannt als Colonia Dignidad in der NĂ€he von Parral, am 7. Januar 2016, etwa 400 Kilometer sĂŒdlich der chilenischen Hauptstadt Santiago.
© Claudio Reyes/AFP/Getty Images

ZEIT ONLINE: Herr Wagner, ĂŒber die Colonia Dignidad sind aktuell mehrere große Dokumentationen abrufbar, auf Arte, Netflix oder Amazon: Erstaunt Sie das Interesse?

Jens-Christian Wagner: Nein. NatĂŒrlich ist die absolute Zahl der Opfer - bei den Deutschen die meisten Sektenmitglieder, bei den Chilenen die Gefolterten, die Ermordeten und die Zwangsadoptierten - im Vergleich zu anderen Massenverbrechen nicht groß. Aber diese Geschichte, diese Kombination krimineller Handlungen, von Missbrauch, Mord und Manipulation, sie ist schon sehr besonders, sehr extrem.

Jens-Christian Wagner
ist Professor an der UniversitĂ€t Jena sowie Leiter der Stiftung GedenkstĂ€tten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er ist Mitglied einer chilenisch-deutschen Arbeitsgruppe, die ein Konzept fĂŒr einen Erinnerungsort auf dem GelĂ€nde der ehemaligen Colonia Dignidad erarbeitete.

ZEIT ONLINE: Doch die deutsche Politik tut sich immer noch schwer mit der Aufarbeitung. Warum?

Wagner: Die Bundesrepublik trĂ€gt Mitverantwortung fĂŒr diese Verbrechen, sei es durch Unterlassung oder sogar durch Beihilfe. Es wird höchste Zeit, dass die geplante GedenkstĂ€tte errichtet wird und die beschlossenen Hilfen weiter zĂŒgig ausgezahlt werden. Die Angehörigen der Ermordeten sind zum Teil schon alt. Sie benötigen endlich einen Ort, an dem sie trauern können.

ZEIT ONLINE: Wie ließe sich das, was die Colonia Dignidad war, in wenigen Worten beschreiben?

Wagner: Es handelte sich um eine totalitĂ€re, auf Gewalt, Psychoterror und Denunziation basierende Organisation. Sie wurde gefĂŒhrt von dem Wanderprediger Paul SchĂ€fer, der in Nordrhein-Westfalen eine evangelikale Sekte gebildet hatte, dann aber wegen sexueller Gewalt gegen Kinder angezeigt wurde. Anfang der Sechzigerjahre floh er nach Chile und grĂŒndete dort mit einigen Getreuen eine Siedlung, die er Colonia Dignidad nannte, die "WohltĂ€tigkeits- und Bildungsgemeinschaft WĂŒrde". SpĂ€ter wurden Familien nachgeholt, aber auch viele einzelne Kinder, oft ohne EinverstĂ€ndnis der Eltern.

ZEIT ONLINE: Die Kinder wurden entfĂŒhrt.

Wagner: Richtig. Und dies in großer Zahl. Die Menschen lebten fortan in der tiefsten chilenischen Provinz, nach außen völlig isoliert, ein Modellfall totalitĂ€rer Herrschaft bis in die Sprache: Junge Frauen waren "Vögel", junge MĂ€nner, die SchĂ€fer als persönliche Bedienstete nutzte, "Sprinter". Eltern wurden von ihren Kindern getrennt, Jungen von MĂ€dchen. Alles stand unter der völligen Kontrolle einer MĂ€nnerclique um SchĂ€fer, die WachtĂŒrme errichten und das GelĂ€nde mit Stacheldraht umzĂ€unen ließ. Wer auch nur ansatzweise gegen die zumeist willkĂŒrlichen Regeln verstieß, wurde vor der Gemeinschaft erniedrigt, verprĂŒgelt oder mit Elektroschocks und Psychopharmaka ruhiggestellt. Und: In den Anfangsjahren der Pinochet-Diktatur diente die Colonia dem Geheimdienst Dina als Folter- und Mordzentrum. Dutzende, wenn nicht Hunderte Chilenen starben dort. Im Gegenzug stand die SektenfĂŒhrung unter dem Schutz der Junta ...

ZEIT ONLINE: ... und SchÀfer konnte Hunderte Jungen missbrauchen. Diente das gesamte Konstrukt nicht vor allem diesem Ziel?

Wagner: Das ist so. In der Kolonie konnte SchĂ€fer sich eine Opfergruppe aus Jungen und jungen MĂ€nnern regelrecht heranziehen, zum Zwecke des systematischen sexuellen Missbrauchs. Dank der totalen Kontrolle im Inneren und eines nach außen geknĂŒpften Beziehungsnetzwerks, das er bereits vor den Pinochet-Jahren aufgebaut hatte, hatte er dabei ein Vierteljahrhundert lang freie Bahn. Doch es wĂ€re falsch, das System auf einen Mann zu reduzieren. Das ist ein Muster der Schuldabwehr, das wir schon aus der frĂŒhen Bundesrepublik und der Verteidigung vieler NS-TĂ€ter kennen. Herrschaft besteht nie nur aus einer Person. TatsĂ€chlich war die Colonia Dignidad ein System gegenseitiger Überwachung und kollektiver Strafen. Jeder war Teil des Systems, und viele wurden durchs Mitmachen korrumpiert. Und dann gab es auch außerhalb UnterstĂŒtzer, nicht nur in der Pinochet-Regierung, sondern auch unter deutsch-chilenischen Unternehmern, etwa den MilliardĂ€r Horst Paulmann, den Sohn eines hochrangigen SS-Richters.

ZEIT ONLINE: Gehörte auch die Bundesrepublik zu den UnterstĂŒtzern?

Wagner: Einige ihrer Institutionen: ja. Die deutsche Botschaft in Santiago de Chile, aber auch das AuswĂ€rtige Amt haben nicht nur in den meisten FĂ€llen weggeschaut, wenn es VorwĂŒrfe und Anzeigen von Opfern gab. Sie haben sogar geflohene Siedler an die Sekte ausgeliefert. DarĂŒber hinaus existierten Kontakte von SchĂ€fer, einem pĂ€dokriminellen Mörder, bis hinein in deutsche Regierungsparteien wie die CDU und insbesondere die CSU. Es gibt bislang keinerlei ernsthafte Versuche, heute in der Bundesrepublik lebende Helfer SchĂ€fers zur Rechenschaft zu ziehen. Alles geschah allein auf Initiative der chilenischen Behörden. Nur weil deren Verfolgungsdruck so groß wurde, floh SchĂ€fer 1997 nach Argentinien, wo er schließlich 2005 verhaftet wurde. Auch einige seiner engsten Getreuen mussten ins GefĂ€ngnis. Deutschland scherte sich hingegen wenig um die Verbrechen der deutschen StaatsbĂŒrger.

ZEIT ONLINE: Wirkten deshalb das AuswĂ€rtige Amt und die Botschaft so wenig erfreut, als im Oktober der thĂŒringische LinkenministerprĂ€sident Bodo Ramelow das GelĂ€nde besuchte?

Wagner: Über die Motivation kann ich nur spekulieren. Es gab wohl tatsĂ€chlich Vorbehalte. Umso wichtiger ist es, dass Ramelow sich mit den Opfern traf, den deutschen, aber auch den chilenischen. Immerhin besuchte er als damaliger PrĂ€sident des Bundesrates das GelĂ€nde, war damit der bislang höchstrangige deutsche Besucher ĂŒberhaupt.

ZEIT ONLINE: An der Verzögerungstaktik scheint Ramelows Reise aber wenig geÀndert zu haben.

Wagner: Abwarten. Auch der Bundestag musste die Regierung ja förmlich treiben. Es bedurfte einiger engagierter Parlamentarier, zu denen die frĂŒhere GrĂŒnenministerin Renate KĂŒnast, der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand oder auch der heutige BundesverfassungsgerichtsprĂ€sident Stephan Harbarth gehörten, um im Jahr 2017 einen Beschluss zu erwirken, mit dem die Aufarbeitung endlich beginnen konnte.

"Das Ganze wirkt wie ein bewohntes Museum des Terrors"

ZEIT ONLINE: Es wurden erst einmal nur Kommissionen gebildet.

Wagner: Aber es war ein Beginn. Eine Kommission bestand aus Abgeordneten und Regierungsbeamten: Sie richtete einen Hilfsfonds ein, aus dem jetzt um die 150 ehemalige deutsche Sektenmitglieder jeweils 10.000 Euro erhielten - wohlgemerkt nicht als EntschĂ€digung, sondern als Hilfszahlung, denn die Bundesregierung wollte unbedingt einen PrĂ€zedenzfall vermeiden. DarĂŒber hinaus gibt es noch eine deutsch-chilenische Regierungskommission, die im November nach langer Pause wieder in Santiago tagte. Sie soll den vom Bundestag geforderten Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in der Colonia Dignidad vorbereiten. Wie ich höre, will die Kommission das GedenkstĂ€ttenprojekt vorantreiben.

ZEIT ONLINE: Sie gehören zu einer Arbeitsgruppe, die von der deutsch-chilenischen Regierungskommission beauftragt wurde, dafĂŒr ein Konzept zu entwickeln. Kann das nun umgesetzt werden?

Wagner: In seinen GrundzĂŒgen ist das Konzept seit 2019 fertig. Wir haben es der Kommission und auch der Öffentlichkeit vorgestellt und mit den OpferverbĂ€nden diskutiert. Auch unsere Gruppe ist ĂŒbrigens paritĂ€tisch besetzt. Von chilenischer Seite ist Elizabeth Lira dabei, sie ist Dekanin der psychologischen FakultĂ€t an der Universidad Alberto Hurtado, dazu noch Diego Matte, der die Kulturabteilung der Universidad de Chile leitet. Aus Deutschland gehören Elke Gryglewski als Leiterin der GedenkstĂ€tte Bergen-Belsen und ich zu den Mitgliedern.

ZEIT ONLINE: Wie sieht Ihr Plan aus?

Wagner: Um das Konzept zu verstehen, muss man wissen, dass die Kolonie auf seltsame Art weiterexistiert. Als ich 2016 das erste Mal das GelÀnde besuchte, war ich fassungslos. Und eigentlich bin ich es bis heute. Die Zeit scheint eingefroren zu sein, die GebÀude stehen dort unverÀndert, teils mit dem Interieur aus den Siebzigerjahren und Bildern, auf denen SchÀfer mit den Kindern, die er missbrauchte, zu sehen ist. Und es wohnen etwa 100 der ehemaligen Sektenmitglieder noch dort. Die meisten von ihnen sind schwer traumatisierte Opfer des Systems, aber einige von ihnen sind Opfer, die zu TÀtern wurden. Das Ganze wirkt wie ein bewohntes Museum des Terrors.

ZEIT ONLINE: ... in dem Hochzeiten gefeiert werden und HotelgĂ€ste ĂŒbernachten.

Wagner: Es heißt ja jetzt auch Villa Baviera, bayerisches Dorf. Die Bezeichnung Villa Baviera wurde schon 1988 von SchĂ€fer erfunden, sie sollte die Tarnung vervollkommnen. Es gab ja schon lĂ€ngst Trachtengruppen, die vor den GĂ€sten sangen und tanzten. Es gab ein Krankenhaus, das offiziell die Bauernfamilien aus der Umgebung umsonst behandelte. Und es gab eine beeindruckende landwirtschaftliche Produktion, mit Ackerbau und Viehzucht. Doch das war Fake. Hinter der Fassade wurden die Chorjungen missbraucht, wĂ€hrend die Klinik unter anderem dazu diente, chilenischen MĂŒttern die kleinen Söhne wegzunehmen, damit SchĂ€fer neue Opfer erhielt. Und die Landwirtschaft basierte auf Zwangsarbeit, auch von Kindern, sieben Tage die Woche. Dieser Schrecken hat ein Ende gefunden, aber die alte Fassade steht noch - und wir wollen sie umgestalten. Die zentralen GebĂ€ude, in denen die TĂ€ter operierten, sollen zu einem Gedenk- und Bildungsort werden. Auch zwei HĂ€user, in deren Kellern der Pinochet-Geheimdienst mithilfe von SchĂ€fers Leuten folterte und mordete, sollen zur GedenkstĂ€tte gehören.

ZEIT ONLINE: DafĂŒr mĂŒsste aber ein Teil der Menschen umziehen?

Wagner: Ja, in andere oder neu zu bauende HĂ€user. Wir setzen auch darauf, dass sich dann Chilenen aus der Umgebung auf dem GelĂ€nde niederlassen. Aber vorher muss die Regierungskommission Ergebnisse vorlegen, damit ein TrĂ€ger fĂŒr die GedenkstĂ€tte gefunden werden kann.

ZEIT ONLINE: Warum dauert das so lange?

Wagner: Das frage ich mich auch. Ja, es gab die Corona-Pandemie. Und ja, in beiden LÀndern gibt es neue Regierungen, die erst einmal andere PrioritÀten haben. Am Ende wird das alles auch viel Geld kosten.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht ein schmaler Grat: Deutsche erklÀren dem Rest der Welt, wie Erinnerungskultur geht?

Wagner: Das ist in der Tat ein Vorbehalt, der uns in Chile zuweilen begegnet. Umso wichtiger ist es, dass Chilenen und Deutsche jeden Schritt gemeinsam auf Augenhöhe gehen. Es geht um Verbrechen, die von Deutschen an Deutschen und Chilenen begangen wurden, aber eben auch, zumindest wĂ€hrend der Pinochet-Zeit, um Verbrechen von Chilenen an Chilenen. Daraus resultieren diverse Opfergruppen mit teils unterschiedlichen Interessenlagen. Es gibt die ehemaligen Bewohner der Kolonie, die dort noch leben, und jene, die bewusst weggezogen sind. Es gibt die zwangsadoptierten chilenischen Kinder, die lĂ€ngst Erwachsene sind, und ihre Familien. Und es gibt die Folteropfer des chilenischen Geheimdienstes und die große Gruppe der Angehörigen der Verschwundenen und Ermordeten.

ZEIT ONLINE: Ist das Konfliktpotenzial nicht groß, zumal es um Geld und Anteile geht?

Wagner: Das Potenzial existiert. Aber auch der Besuch Ramelows und die GesprĂ€che dort haben wieder gezeigt: Die Idee der GedenkstĂ€tte stiftet Konsens, und dies inzwischen auch mehrheitlich bei jenen, die noch auf dem GelĂ€nde leben. Doch die Zeit der AnkĂŒndigungen und Versprechungen muss vorbei sein. Ich wĂŒnsche mir sehr, dass 2023 zu dem Jahr wird, in dem die Umgestaltung der einstigen Colonia Dignidad startet. Am 11. September jĂ€hrt sich der Pinochet-Putsch zum 50. Mal: Dies wĂ€re doch ein guter Tag fĂŒr den ersten Spatenstich.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 09.07.2024 - 18:47