Wider dem Vergessen
FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Dienstag, 02.04.2019, 18:43
Der flüchtige Iraker Farhad A., mutmaßlicher Messer-Angreifer von Chemnitz.
Es ist eines der größten Rätsel im Fall des Messer-Angriffs von Chemnitz und zugleich eine der spannendsten Fragen für die Ermittler: Wie konnte der mutmaßliche Totschläger Farhad A. unbehelligt vom Tatort verschwinden - und wohin ist er geflohen?
Der 22-jährige Iraker gilt neben dem Syrer Alaa S. als zweiter Beschuldigter in dem Verfahren um die Tötung des Deutsch-Kubaners Daniel H. Während der 23-jährige Alaa S. derzeit in Dresden vor Gericht steht, ist Farhad A. nicht auffindbar. Nach dem Flüchtigen wird weltweit gefahndet. Die Polizei stuft ihn als hochgefährlich ein.
FOCUS Online hat die Spur des beschuldigten Irakers ab dem Zeitpunkt der Bluttat verfolgt und das Geschehen anhand vertraulicher Ermittlungsakten sowie von Zeugenaussagen rekonstruiert. Die wichtigsten, in der Öffentlichkeit großteils unbekannten Erkenntnisse:
- Die ersten beiden Nächte nach dem Messer-Attentat versteckte sich Farhad A. zusammen mit seinem Bruder bei Freunden in Chemnitz. Die beiden Wohnungen, in denen der mutmaßliche Messerstecher Unterschlupf fand, liegen jeweils nur rund zwei Kilometer vom Tatort entfernt.
- Am frühen Morgen des 28. September 2018 - zwei Tage nach der Tat - floh der Verdächtige unbemerkt aus Chemnitz: Unter einem Vorwand ließ er sich zusammen mit seinem Bruder in einem Auto nach Leipzig fahren. Von dort aus entkam er ins Ausland. Der nach eigener Aussage ahnungslose Fahrer fürchtet mittlerweile um sein Leben.
- In den ersten Wochen nach der Tat gingen bei der Polizei 42 Hinweise aus dem gesamten Bundesgebiet zum möglichen Aufenthaltsort von Farhad A. ein. Nach FOCUS-Online-Informationen befindet sich unter den Informanten auch ein V-Mann - eine Vertrauensperson - der Polizei, dem strikte Geheimhaltung zugesichert worden ist. Die Quelle teilte den Fahndern mit, Farhad A. und dessen Bruder seien "von einem Polen" aus Deutschland herausgebracht worden und hätten sich in den Irak abgesetzt. Es gibt aber auch Hinweise, nach denen der Beschuldigte in der Türkei sein könnte.
Wie auch immer sich Farhad A. dem Zugriff der Strafverfolger entziehen konnte - die Polizei geht fest davon aus, dass er von mehreren Helfern unterstützt wurde.
Einer von ihnen: Ein 19 Jahre alter Syrer aus Chemnitz, der mit Farhad A. befreundet ist und einige Zeit mit ihm zusammen in einem Flüchtlingsheim lebte. Nach FOCUS-Online-Recherchen tauchte Farhad A. kurz nach der tödlichen Messerattacke am 26. August 2018 in der Wohnung des Dönerverkäufers auf. Sein Bruder war auch mit dabei.
Die Polizei geht davon aus, dass die beiden gegen 3.30 Uhr klingelten, rund 15 Minuten nach dem Messer-Angriff. In dieser Zeit konnten die Brüder die Wohnung - sie ist nur 2,1 Kilometer vom Tatort entfernt - problemlos zu Fuß erreichen, heißt es in einem Aktenvermerk.
Der 19-jährige Syrer sagte bei der Polizei aus, er habe sich gewundert, dass Farhad A. und dessen Bruder zu einer so ungewöhnlichen Zeit bei ihm auftauchten. Er habe vermutet, dass etwas Schlimmes passiert sei, doch die beiden hätten sich nichts anmerken lassen. Man habe sich unterhalten, Zigaretten geraucht und sei dann schlafen gegangen. Zwischendurch habe einer der beiden versucht, jemanden vom Handy aus anzurufen. Am nächsten Morgen verließen die Brüder gemeinsam mit dem Dönerverkäufer die Wohnung.
Die nächste Nacht verbrachte das Duo in einer Wohnung, die ebenfalls rund zwei Kilometer vom Tatort entfernt liegt. Ihr Gastgeber war ein 21-jähriger Iraker, der in Chemnitz als Reinigungskraft in einer Kirche arbeitet. Am Abend aßen die Männer gemeinsam mit Freunden. Es gab Döner und Pommes. Der 21-Jährige erklärte gegenüber der Polizei, dass Farhad A. in der Wohnung mit mehreren Leuten telefoniert habe. In den Gesprächen sei erörtert worden, wie man am besten in die Türkei komme.
Zunächst einmal aber musste der mutmaßliche Totschläger aus dem sächsischen Chemnitz flüchten. Um das zu schaffen, organisierte er mit Hilfe eines Freundes eine hochkonspirative Flucht. Nach Informationen von FOCUS Online erfuhr die Polizei erst 14 Tage nach dem Messerangriff von der abenteuerlichen Aktion - durch den Hinweis eines Zeugen, der in den Akten aus Sicherheitsgründen nur anonymisiert als "Fahrer" geführt wird.
Der Mann meldete sich am Morgen des 9. September 2018 beim Autobahnrevier Leipzig. Er habe möglicherweise wichtige Informationen zu dem gesuchten Messerstecher von Chemnitz, kündigte er an. Ein Beamter der Polizeidirektion Leipzig machte sich umgehend auf den Weg, um den Zeugen zu vernehmen.
Noch bevor das eigentliche Gespräch begann, erklärte der Mann - es handelt sich um einen Iraker, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt -, dass er große Angst um sich und seine Familie habe. Denn was er berichten könne, sei äußerst brisant. Der Zeuge aus Leipzig bestand darauf, dass sein Name nicht in den Ermittlungsakten auftaucht. Daraufhin sagte ihm der Polizist zu, dass die Personalien separat abgeheftet würden - in einem verschlossenen Briefumschlag. Nach FOCUS-Online-Informationen liegt das versiegelte Kuvert bis heute bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz.
Nach Festlegung der Sicherheitsmaßnahmen kam der Mann zur Sache: Er habe den mutmaßlichen Messerstecher Farhad A. und dessen Bruder zwei Tage nach der Tat von Chemnitz nach Leipzig gefahren. Zu diesem Zeitpunkt habe er jedoch noch nicht gewusst, dass die beiden in das Verbrechen verwickelt sein könnten. Erst jetzt habe er das Fahndungsbild der Polizei gesehen und Farhad A. eindeutig wiedererkannt.
Von der zeitlichen Abfolge ist das gut möglich. Denn der Verdächtige wurde erst ab dem 4. September 2018 per Öffentlichkeitsfahndung gesucht.
Detailliert erläuterte der Geheim-Zeuge, wie er unwissentlich zum Fluchthelfer des mutmaßlichen Messertäters geworden sei.
Am 28. August 2018, früh um zwei, bekam er über seinen Facebook-Messenger eine Audionachricht von einem gewissen "Shakr Kochr" (sein richtiger Name ist Shakir M.), den er persönlich nicht kannte. Der 27-Jährige nannte ihn respektvoll "Onkel" und bat um ein Telefonat. Um 2.09 Uhr rief der ahnungslose Leipziger zurück.
In dem viereinhalbminütigen Gespräch fragte der Facebook-Bekannte den Mann, ob er ihn von seinem Asylheim rund 50 Kilometer südlich von Chemnitz nach Leipzig bringen könne. Dort müsse er etwas klären. Es gehe um eine Familienangelegenheit und sei sehr wichtig.
Der Mann aus Leipzig willigte ein. Er ist in der irakischen Gemeinde als hilfsbereit bekannt. Mit dem Auto - ein schwarzer Mercedes Kombi - brach er auf. Auf Wunsch von "Shakr Kochr" steuerte er das Asylbewerberheim in Crottendorf an, wo er gegen 3.30 Uhr eintraf. Der Facebook-Bekannte kam aus seiner Unterkunft. Im Auto fragte er den Fahrer, ob er noch seine beiden "Freunde aus Chemnitz" aufgabeln könne.
Der Mann tippte die gewünschte Adresse in die Google-Maske seines Handys ein und fuhr nach Chemnitz. Dort stiegen zwei weitere Männer zu. Es waren - wie man heute weiß - Farhad A. und dessen Bruder.
Während "Shakr Kochr" auf dem Beifahrersitz saß, nahmen die beiden Brüder auf der Rückbank Platz. Sie rauchten und warfen die Kippen aus dem Fenster, sprachen über die Türkei und Istanbul, schimpften über die vielen Nazis in Chemnitz. Im CD-Player lief türkische Musik.
In Leipzig wollten die Männer in den Stadtteil Kleinzschocher gebracht werden. In der Dieskaustraße, Ecke Rolf-Axen-Straße, stiegen die beiden Brüder zusammen mit "Shakr Kochr" aus und verschwanden. Es war gegen sechs Uhr morgens.
Am Abend rief "Shakr Kochr" den Fahrer nochmals an und fragte, ob er ihn und die beiden anderen nach Italien bringen könne. Möglich wäre aber auch die Türkei. Wörtlich sagte er laut dem Zeugen, die Brüder wollten "weiter in die Türkei". Der Fahrer hatte ein mulmiges Gefühl, außerdem war ihm die Strecke zu lang. Er sagte ab - und hörte von den drei Männern nie wieder etwas.
Die Polizei recherchierte aufgrund der Zeugenaussage intensiv in Leipzig, fand jedoch laut Protokoll "keine weiteren Ansätze".
Auf Anfrage von FOCUS Online erklärte die Staatsanwaltschaft Chemnitz an diesem Dienstag, der Tatverdächtige Farhad A. sei "noch immer auf der Flucht". Das gilt auch für dessen Bruder und den Fluchthelfer Shakir M. alias "Shakr Kochr".
Quelle: focus vom 02.04.2019