Wider dem Vergessen
FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Freitag, 05.04.2019, 22:09
Es gibt Situationen im Leben, auf die kann man sich nicht vorbereiten, man will sie sich nicht einmal vorstellen. Weil einen schon der Gedanke daran überfordert. Weil man fürchtet, dass man sich vor Erschrecken und Angst kaum regen könnte.
Ralf Schmidt* war nicht überfordert. Er hatte auch keine Angst. Er hat einfach gehandelt.
Der 50-Jährige tat, was er glaubte tun zu müssen in all dem Chaos, das am frühen Morgen des 26. August 2018 auf der Chemnitzer Brückenstraße um ihn herum herrschte: Menschen schrien und rannten wild durcheinander, andere standen wie angewurzelt da und starrten fassungslos zu Boden.
Auf den Gehwegplatten lag ein Mann mit schwarzer Lederjacke. Er regte sich nicht. Offenbar war er schwer verletzt.
Noch bevor gegen 3.19 Uhr die ersten Notrufe in der Chemnitzer Leitstelle eingingen, beugte sich Ralf Schmidt über den Mann und versuchte, ihn zu retten. Seine verzweifelten Bemühungen sind in der Öffentlichkeit bislang nicht bekannt. Bei den Recherchen zum Messer-Angriff von Chemnitz machte FOCUS Online den mutigen Ersthelfer ausfindig.
Obwohl sein Einsatz mehr als sieben Monate zurückliegt, wirkt Ralf Schmidt noch immer traumatisiert. Natürlich kennt er - wie Millionen Deutsche - mittlerweile den Namen des Mannes, dessen Tod er ebenso wenig verhindern konnte wie Notärzte und Sanitäter: Daniel H., 35 Jahre alt, ein Tischler aus Chemnitz.
Das Schicksal des Opfers und die dramatischen Szenen am Tatort wühlen Ralf Schmidt bis heute auf. Am liebsten würde er alles vergessen und endlich zur Ruhe kommen. Es fällt ihm schwer.
Ralf Schmidt war in der Nacht vom 25. auf den 26. August auf dem Chemnitzer Stadtfest unterwegs. Als die letzten Fahrgeschäfte und Imbissbuden schlossen, ging er gemeinsam mit einem Freund auf die Brückenstraße. Die beiden wollten noch ein Bier trinken.
Sie standen vor einem Döner-Laden, als in der Nähe plötzlich Unruhe ausbrach und eine Gruppe von mehreren Leuten losrannte. Ralf Schmidt wusste zunächst nicht, worum es ging, dann sah er einen Mann reglos auf dem Boden liegen. Er lief zu ihm und schaute ihn an. Viel konnte er nicht erkennen, denn die Lederjacke verdeckte den Brustbereich des Mannes.
Dann schob er die Jacke zur Seite. Er sah, wie Blut aus der Brust und dem Bauch des Mannes geschossen kam. Geistesgegenwärtig riss Ralf Schmidt sein T-Shirt vom Leib und drückte es auf den Oberkörper des Verletzten, auf die Brust. Er versuchte, die Blutung in der Herzgegend zu stillen und hob er den Kopf des Mannes leicht an.
Der Verletzte verfiel in eine Art Schnappatmung und drohte das Bewusstsein zu verlieren. Ralf Schmidt gab ihm mit der Hand immer wieder kleine Schläge auf die Wangen. Er hoffte, den Mann auf diese Weise wach halten zu können.
Dann trafen die ersten Polizisten am Tatort ein und lösten den Ersthelfer ab. Ein Beamter kümmerte sich um den Verwundeten, dessen Zustand sich zusehends verschlechterte. Laut einem Aktenvermerk der Polizei verlor der Mann "langsam das Bewusstsein und der Puls wurde deutlich schwächer".
Unmittelbar danach kamen ein Notarzt sowie mehrere Sanitäter und Rettungsassistenten am Tatort an und versuchten, den Verletzten zu reanimieren. Mit einer Kleiderschere wurde ein Jackenärmel aufgeschnitten, um Infusionen legen zu können. Die Helfer führten bei dem nunmehr bewusstlosen Patienten eine Herzdruckmassage durch und beatmeten ihn mit einer Maske. Allerdings konnten sie keine Vitalwerte mehr messen. Der Notarzt sah kaum noch Überlebenschancen.
Mit Sirene und Blaulicht wurde der Verwundete in die Notaufnahme gefahren. Dort konnten die Mediziner keine Herztöne mehr feststellen. Aufgrund der aussichtslosen Situation wurde "von einer Notoperation Abstand genommen", heißt es im Klinikprotokoll. Als Todeszeit trug ein Arzt ein: 26. August 2018, 04.04 Uhr.
Ersthelfer Ralf Schmidt wurde zweimal von der Polizei vernommen und musste seine blutverschmierte Kleidung für kriminaltechnische Untersuchungen abgeben. Im Gespräch mit den Beamten sagte der 50-Jährige, dass er während seiner Bemühungen um den Verletzten "eigentlich keinen Plan" gehabt habe. "Ich wollte dem Mann einfach nur helfen."
Dass seine Schilderungen der Wahrheit entsprechen, hat die Analyse von Schmidts Kleidern im Labor eindeutig ergeben: An den Jeanshosen und an der Jacke des Ersthelfers fanden sich großflächige DNA-Spuren des Opfers Daniel H.
* Name der Redaktion bekannt, aber aus Schutzgründen geändert
Quelle: focus vom 05.04.2019