Von Joseph Croitoru
04.01.2021, 11.30 Uhr
"Am Mittag kehrte ich nach Tiberias zurück und fand es pogromiert vor", notierte Yosef Nachmani am 22. April 1948 empört in seinem Tagebuch. Nachmani war jüdisches Mitglied des Stadtrats von Tiberias am See Genezareth. Detailliert beschrieben er und weitere Augenzeugen, was sie als große Schande empfanden für den ersehnten, aber noch nicht gegründeten jüdischen Staat.
"Zahlreich und in Gruppen zogen die Juden durch die Stadt und plünderten Häuser und Läden der Araber. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Es ist so hässlich. Es befleckt unsere Fahne", schrieb Nachmani. Selbst Angehörige der jüdischen Miliz Haganah hätten die Menschenmenge nicht unter Kontrolle bringen können. "Sie waren mit schlechtem Beispiel vorangegangen und hatten sich selbst am Raub beteiligt. (...) Mit Fahrzeugen und Booten waren sie angerückt und luden allerlei Gegenstände wie Kühlschränke, Betten etc. auf. Sie führten Genehmigungen ihrer Kommandanten mit sich, die es ihnen erlaubten, die Sachen mitzunehmen."
Für den Lokalpolitiker lag es "geradezu auf der Hand", dass die Zivilisten den Milizionären unheilvoll nacheiferten.
Als Yosef Nachmani dies schrieb, lag der Uno-Beschluss vom November 1947, der eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsah, ein halbes Jahr zurück. Die meisten Araber hatten ihn abgelehnt. Unmittelbar nach der Uno-Resolution waren jüdische Wohnviertel und Siedlungen Ziel von Übergriffen geworden; dabei stießen Araber auf heftige Gegenwehr. Schnell eskalierten die Kämpfe zu einem Bürgerkrieg, der nach der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 zu einem Krieg ausuferte, als Armeen mehrerer arabischer Staaten den jungen jüdischen Staat angriffen.
Foto: AFP
Schon in der Bürgerkriegsphase waren die Palästinenser den bewaffneten jüdischen Kräften, bestehend aus der großen Haganah-Untergrundarmee und den ultranationalistischen Kampforganisationen Irgun und Lechi, weit unterlegen. Mit einer großen Offensive ab April 1948 gelang es den jüdischen Milizionären, binnen weniger Wochen wichtige Städte wie Tiberias, Haifa und Jaffa sowie zahlreiche palästinensische Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen.
Nach der Eroberung von Tiberias am 18. April mussten die nicht jüdischen, arabischen Bewohner die Stadt verlassen. Als die Briten, die das Land noch bis Mitte Mai verwalteten, endgültig abzogen, fiel die letzte Hemmschwelle für massenhafte Plünderungen der verlassenen Wohnviertel. Obwohl die jüdische Führung im Ort, wie auch Yosef Nachmani in seinem Tagebuch beschrieb, dies ausdrücklich untersagte und ein Teil der Kämpfer die plündernde Meute zum Teil sogar mit Warnschüssen aufzuhalten versuchte, stürzten sich zahlreiche Zivilisten auf die leer stehenden Wohnhäuser und Läden.
Von den Plünderern in Tiberias, darunter auch jüdische Milizionäre, wurde kaum jemand zur Rechenschaft gezogen. Nach Ansicht des israelischen Historikers Adam Raz war Tiberias ein Präzedenzfall, der zur totalen Enthemmung auf jüdischer Seite und schließlich zum Raub des meisten arabischen Besitzes in allen anschließend eroberten Gebieten geführt habe.
Sein kürzlich in Israel auf Hebräisch erschienenes Buch "Die Plünderung arabischen Besitzes im Unabhängigkeitskrieg" schlägt derzeit hohe Wellen. Raz zeichnet anhand zahlreicher, bislang unbekannter Quellen diese Vorgänge nach. Mit seiner umfassenden Untersuchung greift er ein Thema auf, das die israelische Öffentlichkeit seit Jahrzehnten verschwiegen und tabuisiert hat.
Der 37-jährige Historiker konzentriert sich weniger auf die Einverleibung palästinensischen Grunds und Immobilieneigentums durch den israelischen Staat, die größtenteils aufgearbeitet ist. Vielmehr beschreibt er den bis heute nicht erforschten Raub am mobilen Besitz der Palästinenser, also am Inhalt Abertausender Häuser und Wohnungen: von Haushaltsgegenständen über Mobiliar und Teppiche bis hin zu Grammofonen, Büchern und persönlichen Dingen.
Ausgeräumt wurden zudem Läden, Werkstätten, Fabriken, ja sogar Moscheen und Kirchen. Zur Beute zählten auch Nutztiere und, soweit nicht mutwillig zerstört, landwirtschaftliche Maschinen und Erzeugnisse.
Foto:?Israelisches Staatsarchiv
Mit den rasch grassierenden Raubzügen befasste sich die von der jüdischen Führung bald eingerichtete "Abteilung für arabischen Besitz", später ausgebaut zum Ministerium für Minderheiten. Doch den Ansturm der Plünderer konnten auch diese Kontrollinstanzen nicht aufhalten. Im Gegenteil: Das Ausmaß wurde immer gewaltiger.
Das zeigte sich bei der Einnahme der wohlhabenden arabischen Viertel der Hafenstadt Haifa am 22. April 1948. Am Raub beteiligten sich nicht nur jüdische Milizionäre sowie Stadtbewohner aller Gesellschafts- und Altersklassen. Mit Lastwagen rückten nun auch gut organisierte Gruppen aus benachbarten Ortschaften und Kibbuzim an. Der Einsatz von Ordnungskräften kam verspätet und war beschränkt. Die Ordnungshüter konnten die noch monatelang wütenden Plünderungen auch deshalb nicht verhindern, weil sich ein Teil von ihnen selbst am Diebstahl beteiligte; so schildert es Adam Raz.
Ähnliche Szenen spielten sich in Jerusalem Ende April ab, nachdem arabische Bewohner ihre Wohnviertel außerhalb der Altstadtmauern fluchtartig verlassen hatten. In den Villenvierteln Katamon, Talbija und Baka machten die Plünderer besonders reiche Beute. Auch hier beteiligten sich neben den bewaffneten Kämpfern Angehörige aller möglichen Bevölkerungsschichten - getrieben von unersättlicher Gier, wie ein Zeitzeuge Jahrzehnte später zu Protokoll gab: "Männer, Frauen und Kinder rannten hin und her wie berauschte Mäuse."
Foto: AP
In seinem autobiografischen Roman "1948" erinnerte sich der Schriftsteller Yoram Kaniuk, damals Mitglied der Eliteeinheit Palmach, an eine geradezu orgiastische Szene mit geraubten Champagnerflaschen: "Wir - alle, die nicht umgekommen waren - zogen uns nackt aus und überschütteten einander der Reihe nach mit Champagner. Wir standen da wie Soldaten im Paradies, unter dem angenehm prickelnden Strahl eines Getränks, das wir damals noch gar nicht kannten. Vermutlich waren wir die ersten Soldaten der Weltgeschichte, die mit perlendem Champagner duschten, statt ihn zu trinken."
Auch die bereits vollständig geplünderten Häuser wurden nicht verschont. Organisierte Banden höhlten sie buchstäblich aus: Wasserhähne, Fliesen, Türen und Fenster samt Rahmen und sogar Dachziegel wurden abmontiert, um wiederverwertet oder auf dem florierenden Schwarzmarkt verkauft zu werden.
Von dem hemmungslosen Raub waren auch die Städte Jaffa, Akko, Lod und Ramla betroffen, wo vor allem Moscheen, Kirchen und Friedhöfe geplündert und stark beschädigt wurden. Diese Vorgänge riefen im Land zwar allgemeines Entsetzen hervor; dafür fand Historiker Raz Belege in zahlreichen privaten wie auch internen amtlichen Korrespondenzen sowie von Partei- und Kabinettsitzungen. Dennoch ging es mit den Plünderungen weiter. Warum nur?
Raz erklärt dies mit der Rolle von David Ben-Gurion, der damals die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft, den Jischuv, anführte. Der spätere Staatsgründer habe alle Appelle der herrschenden Elite ignoriert, konsequent gegen die Plünderer vorzugehen. Aktiv verhindert habe Ben-Gurion zudem entsprechende Bemühungen des jungen "Ministeriums für Minderheiten" und es bereits Anfang Juli 1949 aufgelöst.
Nur selten tadelte er als Israels erster Premier das beschämende Verhalten seiner Landsleute - vorzugsweise mit Pauschalvorwürfen wie etwa im Juni 1948 bei einem Treffen mit hochrangigen Militärs: "Es hat sich gezeigt, dass das jüdische Volk ein Volk von Dieben ist." Direkte Kritik übte Ben-Gurion zumindest an den schwer disziplinierbaren Milizen Irgun und Lechi, allerdings vermutlich mit Hintergedanken: Er wollte diese Milizen diskreditieren und auflösen, um ihre Kämpfer nach und nach in die regulären israelischen Streitkräfte zu integrieren.
Dass er Plünderungen duldete, so Adam Raz' These, fügte sich in Ben-Gurions Gesamtstrategie ein, möglichst viele der einheimischen Araber aus dem Land zu treiben. Der Raub ihres gesamten Besitzes - wie später auch die Konfiszierung ihrer noch vorhandenen Häuser und die Zerstörung Hunderter arabischer Dörfer - sollte sie entmutigen, Rückkehrpläne zu hegen. Später wurden geflohene und vertriebene Palästinenser ohnehin mit Gewalt daran gehindert, in ihre Heimat zurückzukehren.
Der israelische Historiker wirft auch die Frage auf, ob die Plünderer neben ihrer Habgier eine ähnliche Motivation wie Ben-Gurion trieb. Eine eindeutige Antwort darauf gibt er nicht. Letztlich ist das für ihn auch zweitrangig, da sich die Plünderer zu Komplizen eines Verbrechens gemacht hätten, über das man in Israel fortan einfach nicht mehr redete.
Ein "Schweigebündnis" nennt das Raz. Es sei über Jahre bis auf wenige, eher vage Äußerungen nie ernsthaft gebrochen worden - besonders erstaunlich, weil eine große Zahl von Menschen aus allen Schichten Zeugen oder Mittäter des Raubes geworden waren. Das Schweigen hat Raz zufolge dazu beigetragen, dass palästinensische Erbe aus dem kollektiven Gedächtnis der jüdischen Israelis zu verbannen. Er hält das für einen bewussten politischen Akt.
Über sein Buch berichtete die linksliberale israelische Zeitung "Haaretz" schon kurz nach dem Erscheinen im Oktober 2020. Aus der Flut von Leserbriefen druckte die Redaktion eine Auswahl, begleitet von einer persönlichen Anmerkung des Chefredakteurs Aluf Benn: Kurz vor ihrem Tod habe seine Tante ihm verraten, dass der ältere Bruder, Aluf Benns Vater, ihr damals aus dem arabischen Ramla ein Fahrrad mitgebracht habe. Und die Mutter habe irgendwann von Halsketten erzählt, Mitbringsel von Kämpfern aus dem zerstörten palästinensischen Dorf Tantura.
Unter den Leserreaktionen fanden sich auch solche von Kriegsveteranen. Ein ehemaliges Haganah-Mitglied nahm seine damals in Haifa eingesetzten Kameraden gegen den Vorwurf der Plünderung in Schutz. Andere wiederum verurteilten den Raub. Ähnliches hätten sie auch in späteren Kriegen erlebt.
Während die Debatte in Israel bislang nur im linken Spektrum geführt wird, ist Adam Raz' Buch besonders auf palästinensischer Seite auf großes Echo gestoßen. Das Ostjerusalemer Blatt "Al-Quds" veröffentlichte umgehend den Beitrag aus "Haaretz" auf Arabisch. Und in Ramallah wird bereits an einer arabischen Übersetzung des Buches gearbeitet. Das auf Israel-Studien spezialisierte palästinensische Forschungsinstitut "Madar" will sie im kommenden Juni veröffentlichen.
Foto: AFP
Foto: Jim Pringle / AP
Foto: imago images / Photo12
Foto: AP
Foto: United Archives International / imago images
Foto: AP
Foto: Frank Scherschel / The LIFE Picture Collection / Getty Images
Foto: United Archives International / imago images
Quelle: spiegel vom 04.01.2021