zur Erinnerung
Vietnamkrieg 1964 - 1975 Die vergessenen Opfer von Neak Loeung Im Vietnamkrieg warf ein B-52-Bomber der amerikanischen Luftwaffe seine Ladung versehentlich auf eine kambodschanische Kleinstadt ab. Der Fehler sorgte kurz für Aufsehen, dann ging er fast vergessen. Drei Zeitzeugen erinnern sich.

Manfred Rist, Neak Loeung 10.06.2021, 05.30 Uhr

Die kambodschanische Kleinstadt Neak Loeung nach der irrtümmlichen Bombardierung durch die Amerikaner am 6. August 1973.
Bettmann / Getty

Als Keo Chem sich bei Tagesanbruch Neak Loeung näherte, sah er nur Häuserskelette, Rauchsäulen und herumliegende Leichen. Im Zentrum des Städtchens, wo früher die Marktbuden gestanden waren, klafften nach den Explosionen tiefe Gräben. Bomben im Gesamtgewicht von 20 Tonnen waren in den frühen Morgenstunden des 6. August 1973 auf die kambodschanische Kleinstadt am Mekong gefallen.

Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
NZZ / paz.

Die Schneise der Verwüstung entlang der Hauptstrasse reichte bis an die angrenzenden Reisfelder. Der Bombenteppich zeichnete die Flugrichtung des B-52-Bombers nach. Ein Viertel der Stadt lag in Trümmern, darunter Militärunterkünfte amerikafreundlicher Truppen von Marschall Lon Nol, dem damaligen starken Mann in Kambodscha. Die meisten Opfer aber waren Zivilisten. Noch heute rätselt man, warum die Stadt bombardiert wurde.

"Es war ein Missverständnis"

Das Brummen der schweren Bomber, die sich auf Missionen nach Vietnam befanden, kannten die Bewohner. Ständig gab es Überflüge. Auch das Brüllen amerikanischer Kampfflugzeuge, die Stellungen der Vietcong-Truppen und der Roten Khmer in grenznahen Gebieten beschossen, gehörte zum Alltag. Aber von Bomben waren die Einwohner von Neak Loeung bis dahin verschont geblieben.

Das änderte sich an jenem verhängnisvollen Augustmorgen.

Aufnahmen der Nachrichtenagentur AP vom 10. August 1973, kurz nach der Bombardierung.

"Es war ein Missverständnis", sagt der heute 84-jährige Chem mit fester Stimme und wachem Blick. "Ich war damals als Ausbildner bei der Armee. Es gab zu jenem Zeitpunkt im Umkreis noch keine grösseren gegnerischen Verbände, schon gar nicht mitten in der Stadt."

Keo Chem, ein grossgewachsener Khmer, der immer noch täglich seine Joggingrunden dreht, ist einer der wenigen ehemaligen Soldaten, die sich noch genau an die Tragödie an jenem Montagmorgen erinnern. Über der Stadt hätten nach dem Abwurf ein seltsamer Dunst und eine gespenstische Ruhe gelegen.

Und Konsternation: Das Missgeschick forderte das Leben von 137 Personen; etwa 300 Bewohner wurden verletzt. Warum die amerikanische Luftwaffe plötzlich auch hier Bomben abgeworfen habe, habe sich niemand erklären können, erinnert sich Chem.

Fast täglich seien amerikanische Kampfflugzeuge von Militärbasen in Thailand herkommend über die Stadt geflogen, erklärt er. Das hing allerdings nicht nur mit der Nähe zur vietnamesischen Grenze zusammen. Im Stadtzentrum befand sich eine "homing beacon", ein stationäres Funkfeuer. Diese Navigationshilfe sendet ein Hochfrequenzsignal aus, an dem sich Piloten und Navigatoren vor allem nachts oder bei schlechtem Wetter orientieren können.

Die Militärflugzeuge flogen meistens Ziele im Nachbarland Vietnam an, wo sie ihre Bombenlast den vorrückenden Nordvietnamesen und Vietcong entgegenwarfen. Oder sie bombardierten im kambodschanischen Grenzgebiet kommunistische Dschungelkämpfer.

Erschütternde Eindrücke

Der "New York Times"-Journalist Sydney Schanberg (mitte) interviewt mit seinem Assistenten Dith Pran (rechts) nach der Bombardierung von Neak Loeung einen kambodschanischen Soldaten.
Bild aus dem Buch "The Death and Life of Dith Pran" von Sydney H. Schanberg (Viking). PD

Die amerikanische Botschaft in Phnom Penh erklärte daraufhin, dass es in einem Dorf am Mekong zu "minimalen Gebäudeschäden" gekommen sei. Offenbar sollte der folgenschwere Irrtum vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Es sei nicht der Rede wert, sagte ein Sprecher der Botschaft den Reportern, die damals aus der kambodschanischen Hauptstadt über den Indochinakrieg berichteten.

Es war vor allem dem damaligen Korrespondenten der "New York Times" in Kambodscha, Sydney Schanberg, zu verdanken, dass die Lüge der Militärpropagandisten bald aufflog. Im 1984 erschienenen Film "The Killing Fields" gibt es eine entsprechende Szene. Schanberg stellt Bob, einen Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft, zur Rede. Als Bob merkt, dass sich Schanberg nicht abwimmeln lässt, sagt er beschwörend: "Hast du schon von Pilotenfehlern gehört? Von Computerproblemen? Sie haben die Koordinaten verwechselt. Eine einzige B-52 hat ihre ganze Ladung auf Neak Loeung abgeworfen." "Wie viele Tote?", fragt Schanberg. Bob druckst herum, bis er flüstert: "Hunderte." Und schiebt dann schnell nach: "Zitiere mich aber nicht!"

Als Schanberg die 50 Kilometer ausserhalb von Phnom Penh gelegene Stadt am Tag danach aufsucht, bieten sich ihm erschütternde Bilder: Massive Zerstörungen, umherirrende Menschen, Verwesungsgerüche aus den Trümmern und ein überfülltes kleines Spital.

Die Niederlage zeichnete sich schon ab

"Irrtümliche Bombardierung richtet Verwüstung an", titelte die "New York Times" daraufhin. Es handle sich, so schreibt Schanberg, vermutlich um den bisher schwerwiegendsten Fehlabwurf im Indochinakrieg. Es war eine Hiobsbotschaft aus einem Kriegsgebiet, wo der Rückzug der amerikanischen Truppen bereits beschlossen und im Gang war. Keine Bomben aus der Luft konnten die Niederlage Amerikas mehr abwenden.

Neak Loeung ist heute ein unscheinbares Städtchen, das man von Phnom Penh aus über die Nationalstrasse 1 mit dem Auto in gut einer Stunde erreicht. Nach zwei weiteren Stunden auf der Route Coloniale gen Südosten stösst man an die vietnamesische Grenze, hinter der sich alsbald die Vororte der Millionenmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt ankündigen. Die Stadt hiess zu Kriegszeiten noch Saigon und war die Hauptstadt Südvietnams.

Das moderne Wahrzeichen - aus Japan

Neak Loeung fügt sich auf idyllische Weise in die Flusslandschaft ein. Hochhäuser, die anderswo in Kambodscha in den Himmel schiessen, gibt es hier noch nicht. Das höchste Bauwerk spannt sich über den majestätisch breiten Mekong: die von Japan finanzierte Tsubasa-Brücke. Das zwei Kilometer lange Viadukt wurde 2014 eingeweiht und beseitigt an dieser Stelle das alte Nadelöhr im Ost-West-Verkehr. Nur an dieser Stelle gab es nämlich eine Fährverbindung über den Strom. Die Stadt hatte damals strategische Bedeutung: Wer sie beherrschte, kontrollierte den Transport auf dem Land- und dem Wasserweg.

Darum war das Schicksal von Phnom Penh besiegelt, als die vorrückenden Roten Khmer Anfang April 1975 Neak Loeung nach kurzem Kampf eroberten: Pol Pots Truppen schnürten die auf zwei Millionen Einwohner und Flüchtlinge angeschwollene Hauptstadt ab. Am 17. April ergaben sich die Truppen von Lon Nol. Zwei Wochen später fiel auch Saigon.

Im August 1970 waten Truppen Südvietnams in der Nähe von Neak Loeung durch den Mekong. Die Bombardierung der kambodschanischen Stadt steht im Zusammenhang mit dem Krieg im Nachbarland Vietnam.
Nick Ut / AP

Eine Handvoll Dollar als Entschädigung

Der Marktplatz in Neak Loeung ist heute wieder ein verwirrendes Gewusel, Früchte-, Gemüse-, Fleisch- und Fischstände reihen sich aneinander, auf Schritt und Tritt reizen scharfe Gerüche die Sinne. Es fällt nicht schwer, sich gedanklich in die siebziger Jahre zurückzuversetzen: Beim Anblick der wackeligen Holzhütten, der Stände und Kleinbauten kann man sich die verheerende Wirkung jenes Bombenangriffs wahrhaftig vorstellen.

Sor Mony, der damals dreizehn Jahre alt war, erlebte das Chaos hautnah. Sein Vater zählte zu den Verwundeten. Sor Mony ist heute Dorfvorsteher der Nachbargemeinde Prek Ta Sor. Er erzählt, dass die Verletzten später von den Amerikanern eine Entschädigung von je 35. 000 Riel erhalten hätten. Nach heutigem Umrechnungskurs entspricht das 9 Dollar - laut geheimen, mittlerweile aber veröffentlichten amerikanischen Depeschen entsprach das damals 152 Dollar oder 17 durchschnittlichen Monatslöhnen der kambodschanischen Landbevölkerung. Den Angehörigen der Toten wurden 50.000 Riel ausgehändigt.

Im August, als Neak Loeung bombardiert wurde, herrschte in Kambodscha Regenzeit. Das Land liegt dann normalerweise unter dicken Wolkenschichten. Die Sichtverhältnisse müssen damals schlecht gewesen sein. Bergketten als Orientierungshilfe gibt es in diesem zentralen Landesteil nicht.

Lichtet sich die Wolkendecke zwischendurch, sieht man bestenfalls ein Mosaik aus dunkelgrünen Feldern, Sümpfen und braunen Flüssen, die das Land wie Kapillaren durchziehen. Gerade zu nächtlicher Stunde lassen sich Details am Boden also kaum ausmachen. Die damalige Besatzung der B-52 musste sich folglich ganz auf die Navigationsinstrumente verlassen.

Eine Untersuchung der amerikanischen Luftwaffe kam noch im August 1973 zu dem Schluss, dass die unglückliche Verkettung von zwei Faktoren für die Bombardierung verantwortlich war. Erstens hatten kambodschanische Soldaten das Funkfeuer vorschriftswidrig im Stadtzentrum platziert statt in unbewohntem Gebiet. Zweitens unterlief dem Navigator, der sich auf seiner ersten Kampfmission überhaupt befand, ein fataler Bedienungsfehler: Er gab in den Bordcomputer statt den Koordinaten des Angriffsziels jene des Funkfeuers ein.

"Solche Sachen passierten damals"

"Oh, dieser Zwischenfall in Neak Loeung!" Auch der amerikanische Kriegsveteran John Muller erinnert sich an den Bombenabwurf. Der 74-Jährige leitet heute eine Sicherheitsfirma in Kambodscha. Neak Loeung kennt er von Ausflügen mit einem amerikanischen Patrouillenboot, das er nach dem Krieg erwarb und restaurierte.

"Das war eine Pick-up-Crew", sagt Muller über die B-52. So wird im Militärjargon eine Besatzung genannt, die wild zusammengewürfelt ist. "Solche Sachen passierten damals halt", fügt er lakonisch an.

Fast ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen. Der Fall ist nahezu vergessen. Wäre ein Gedenkstein für die Opfer vom 6. August 1973 nicht angemessen? Der Dorfvorsteher Sor Mony wirkt ob der Frage leicht irritiert und schüttelt den Kopf. Auch der ehemalige Soldat Keo Chem hebt seine kräftige Hand - und winkt ab. "Sie wissen doch, was kurz nach dem Bombenabwurf mit diesem Land passierte", fügt er an. Er spielt an auf die viel grössere Katastrophe, die Kambodscha zwei Jahre nach dem Bombenabwurf auf Neak Loeung erfasste: die Terrorherrschaft der Khmer Rouge, die in viereinhalb Jahren gegen zwei Millionen Opfer forderte.


Quelle: NZZ vom 10.06.2021


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 17.07.2023 - 09:04