Erschienen FP am 08.02.2019
Foto: Michael Rothe
Dung entzündet drei Räucherstäbchen, steckt sie in eine mit Sand gefüllte Schale, wo schon Hunderte Bambussticks qualmen, schaut auf die Betongräber im Rund des Märtyrerfriedhofs - und schweigt. Er, der als Reiseleiter so viel zu erzählen hat über Pagoden, Urwälder, Traumstrände, Lebensfreude und unbändigen Optimismus der vom Krieg geschundenen Vietnamesen.
Fast würden auch für ihn solche Stäbchen schwelen, mit denen Vietnamesen ihre Ahnen verehren. "Zweimal bin ich im Krieg verwundet worden", erzählt der 72-Jährige, der Ende der 60er-Jahre in Dresden Maschinenbau studiert hatte und nach der Rückkehr fünf Jahre an die Front musste. Das ist gut vier Jahrzehnte her, eine halbe Ewigkeit für ein Volk, das im Schnitt keine 30 ist. Dennoch, und obwohl sich die Natur langsam erholt und die Infrastruktur auch ohne US-Wiedergutmachung wächst, sind die Folgen von Bomben, Napalm und Entlaubungsgift Agent Orange auch noch drei Generationen später allgegenwärtig: Verstümmelte und missgebildete Menschen, Krebsleiden, vergiftete und verminte Gebiete. Täglich sterben Menschen durch explodierende Blindgänger.
In Vietnam gibt es 3200 Soldatenfriedhöfe. Auf dem größten in Truong Son nördlich von Hue liegen über 10.000 Kämpfer. Auf diesem kleineren, auf halbem Weg von Hanoi zur Halong-Bucht mit fast 2000 Kalkfelsen in smaragdgrünem Wasser, tragen rosafarbene Betongräber die Inschrift "Liet Si" für Märtyrer, einige ein Foto, manche nicht mal einen Namen. Dung hat die Geschichte seines Volkes aufgeschrieben: 5000 Jahre auf 56 A-4-Seiten. Gut die Hälfte erzählt vom Krieg - gegen die Franzosen, vor allem aber gegen die Amerikaner. Speziell im Norden gibt es kaum Familien ohne Kriegstote. Quyen (56), der Touristen die alte Kaiserstadt Hue in Zentralvietnam zeigt, das pulsierende Da Nang, die Marmorberge und das bezaubernde Lampionstädtchen Hoi An, hat Vater und Bruder verloren. Zwei Schwestern starben, zehn- und zwölfjährig, im Bombenhagel - vier von 3,2 Millionen Vietnamesen, die der Krieg das Leben kostete. Auch mehr als 58.000 US-Soldaten wurden getötet. "Wir vergessen nicht, schauen aber nach vorn", sagt Quyen - wie die meisten seiner Landsleute. Die Feinde von einst sind als Touristen, Investoren und Devisenbringer willkommen.
(Bild: Nick Ut)
Mit gut sechs Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr geht es aufwärts. Das sieht, hört und riecht man auch an Millionen Mopeds, welche Fahrräder als wichtigstes Verkehrsmittel ablösten. Der Ex-Reisimporteur versorgt sich selbst und ist dank dreier Ernten im Jahr zweitgrößter Produzent der Welt - wie beim Kaffee. Und als Pfefferexporteur sind Ho Chi Minhs Erben sogar die Nummer 1.
Ostdeutsche Touristen können unter den Guides alte Bekannte treffen. Viele hatten in der DDR gelernt oder studiert, nach der Rückkehr aber keinen Job gefunden und sich als Fremdenführer verdingt. Sie erzählen auch von B-52-Bombern und Sirenengeheul, das mancher noch im Ohr hat..
Phong hatte Glück, das Töten endete vor den Toren von Saigon. Der 48-Jährige kennt den Krieg nur vom Hörensagen, durch Touren zu den Tunneln von Cu Chi und Führungen im "Kriegsrestemuseum" seiner Heimatstadt, die offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt heißt. Dennoch ist er betroffen - und wenn Besucher über das 250 Kilometer lange unterirdische Labyrinth der Partisanen staunen, sogar stolz. Blitzschnell scharrt ein Ranger ein paar Blätter beiseite, öffnet eine Klappe, verschwindet bis zum Hals. Mit so getarnten Einstiegen und Schießscharten waren die Tunnel eine gute Autostunde nordwestlich von Saigon der Albtraum für US-Soldaten. Dann öffnet sich eine Klappfalle, in der Feinde von vergifteten Bambusstäben aufgespießt wurden. "Ein bisschen übel", sagt Phong. "Der Krieg war schlimm - für beide Seiten."
Die Tunnel, durch dessen Reste sich heute im Entengang weiße Langnasen zwängen, beherbergten Wohn- und Schlafräume, Lazarette, Schulen und Werkstätten für 30.000 Bewohner. 8000, meist Frauen und Kinder, überlebten. Da wirkt manches skurril: ein erbeuteter M-41-Panzer als Klettergerüst und Selfie-Kulisse, und am Schießstand können Touristen mit Maschinengewehren herumballern. 20 Kilometer rund um Cu Chi birgt jeder Quadratmeter im Schnitt drei Kilo Kriegsschrott.
Im "Kriegsrestemuseum", so der eigenwillige Name, ist es leise. Was es zu sehen gibt, nimmt Besuchern den Atem, treibt manchem Tränen in die Augen, macht fassungslos. Dokumente, Kriegsrelikte und Fotos zeigen das Grauen - auch Bilder von 133 Reportern aus elf Ländern, die ihre Mission mit dem Leben bezahlten. Einige verlassen die Schau, brauchen eine Pause, flüchten ins Erdgeschoss. Die Solidaritätsposter dort kennen gelernte DDR-Bürger...
Auf Vietnam fielen doppelt so viele Bomben wie im Zweiten Weltkrieg und im Korea-Krieg zusammen - symbolisiert an der Fassade über dem Museumseingang. Hoffnungsvoll davor: eine weiße Taube.
Am Montag erhält das "Napalm-Mädchen" Phan Thi Kim Phuc den Dresdner Friedenspreis. Die 55-Jährige lebt heute in Kanada und engagiert sich als Botschafterin für den Frieden. 1972 war ihr Bild um die Welt gegangen, als sie als Neunjährige verbrannt, nackt, schreiend mit anderen Kindern vor einer Napalmwolke flieht. In Trang Bang unweit der Tunnel von Cu Chi.