Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Von Katja Iken
und Solveig Grothe
13.01.2016, 13.24 Uhr
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Kampfbereit erheben die Löwen ihre Tatzen, Wächtern gleich thronen sie über dem blau gekachelten Pool des Samsara-Spa. Doch niemand ist mehr da, um sich in der luxuriösen Wellness-Oase zu erholen. Rote Sicherheitsnetze decken das mit Staub überzogene Schwimmbad ab, die Uhr an der Wand blieb um 0.35 Uhr stehen. Die "Costa Concordia" ist zum Symbol menschlicher Unzulänglichkeit geworden.
4429 Menschen waren an Bord, als das Kreuzfahrtschiff am 13. Januar 2012 vor der italienischen Insel Giglio einen Felsen rammte und leck schlug. 32 Passagiere starben, darunter zwölf Deutsche.
Zweieinhalb Jahre nach der Katastrophe verschaffte sich Jonathan Danko Kielkowski Zutritt zum havarierten, dann aufgerichteten und in den Hafen von Genua geschleppten Luxusliner. Der Nürnberger Fotograf und 3-D-Künstler lichtete das Innere des Wracks ab - kurz bevor die Demontage begann.
Foto: David Rasche
Am 30. August 2014, einem Samstag, machte sich Kielkowski um Mitternacht auf zum Wrack - mit einem gelben Kinderschlauchboot, darin seine Kamera, ein Stativ und ein paar Kleidungsstücke, eine Flasche Wasser und ein Snack.
An den Füßen ein Paar Flossen, schob er das Schlauchboot langsam vor sich her. Rund 250 Meter trennten das Festland von der Außenmole im Hafen von Genua, wo das Wrack lag, nur über den Wasserweg erreichbar. Zwei Wochen zuvor hatte Kielkowski, 27, schon einmal versucht, zum verunglückten Kreuzfahrtschiff zu schwimmen. "Doch die Küstenpolizei hat mich herausgefischt und zurück an Land gebracht", sagt er.
Als Kielkowski abermals aufbrach, nun im Schutz der Nacht, wusste er: Dies war seine letzte Chance auf einen Blick ins Innere des Wracks. Denn im September 2014 würden die Aufräumarbeiten beginnen. Leise schwamm Kielkowski los und erreichte unentdeckt die Außenmole. Noch eine gute halbe Stunde Fußmarsch - und Kielkowski stand vor den Überresten des gigantischen Schiffs.
Sechs Stunden lang, bis zum Morgengrauen, harrte der Fotograf vor dem Koloss aus, er wollte das natürliche Licht für seine Arbeit nutzen. Dann packte er die Kamera aus und betrat das, was einmal das größte italienische Kreuzfahrtschiff gewesen war.
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Seine Fotos, nun im Bildband "Concordia" erschienen, lassen die Tragödien erahnen, die sich am Unglücksabend auf dem Schiff ereigneten. "Ich habe die Panik der Menschen verspürt, die damals in Todesangst über die Gänge rannten. Das war extrem beklemmend", sagt Kielkowski.
Auf dem Boden verteilt lagen kaputte Kinderwagen und Rollstühle, aufgeweichte Koffer, Taschen und Kleidungsstücke. Zwischen umgekippten Möbeln, fleckigen Matratzen und herabgefallenen Dachteilen entdeckte er die persönliche Habe der Passagiere im stinkenden, braunen Schlamm.
Am 27. Juli 2014, vier Wochen vor Kielkowskis Ankunft an Bord, war das Wrack nach der bislang teuersten Bergung der Geschichte im Hafen von Genua angekommen. "Das Innere war quasi unberührt", so der Fotograf.
Einzig Strom- und Lichtleitungen hatte das Abwrackunternehmen bereits legen lassen. Auch um die Suche nach dem letzten Opfer zu erleichtern, dem Inder Russel Rebello, der als Kellner auf dem Schiff gearbeitet hatte. Kielkowski wusste nicht, dass sich noch eine letzte Leiche im Wrack befand; erst im Oktober 2014 wurde sie von einem Bergungsteam entdeckt.
Kielkowski rechnete damit, binnen weniger Minuten entdeckt und verjagt zu werden. Doch an dem Sonntagmorgen bahnte der junge Fotograf sich ungestört seinen Weg durch den Schiffsbauch, watete durch Pfützen und stieg über Trümmerberge, in der Hand den Bordplan der "Costa Concordia".
Hier und da hingen noch Fernseher und Gemälde an den Wänden; im Spa standen, völlig unversehrt, aufgereihte Laufbänder. Auch bis in die Kabine von Francesco Schettino drang Kielkowski vor: der Kapitän, der die knapp 300 Meter lange "Costa Concordia" viel zu nah an die gefährlich felsige Küste gesteuert hatte und sich dann von Bord seines kenternden Schiffs stahl. Und der nicht einmal dann zurückkehrte, als ihn die Hafenbehörde energisch und wiederholt dazu aufforderte.
Der Fotograf wird sich den Vorwurf des unverblümten Voyeurismus gefallen lassen müssen, des Katastrophentourismus. Anders als bei anderen Katastrophen sind die Wunden im Fall der "Costa Concordia" recht frisch: Die Angehörige der Opfer leben noch, die Menschen, die sich von Bord retten konnten, haben Unvorstellbares erlitten und kämpfen mit Traumata.
Doch trieben Kielkowski, wie er sagt, ganz andere Gründe als Sensationslust: "Mit den Fotos wollte ich die sichtbaren Folgen des Unglücks dokumentieren, bevor sie entsorgt wurden, um in Vergessenheit zu geraten." Die Verantwortlichen bei der Reederei Costa Crociere versuchten, die Havarie und ihr eigenes Versagen möglichst rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein zu drängen. Dem müsse man entgegenwirken, so Kielkowski - auch mit verstörenden Fotos.
Das Unternehmen einigte sich 2013 auf einen Vergleich mit der Justiz: Costa Crociere zahlte eine Strafe von einer Million Euro. Im Gegenzug wurden die Ermittlungen gegen die Reederei eingestellt. Vorgeworfen worden war ihr unter anderem, die Crew unzureichend geschult, Sicherheitsnormen verletzt und zu spät Alarm ausgelöst zu haben - neben der Beschäftigung eines unzuverlässigen Kapitäns. Bereits 2005 soll die Reederei ein Schiffsunglück vertuscht haben, wie Medien unter Berufung auf die Schilderung eines Bordfotografen berichteten.
Zudem, so erklärt Kielkowski, wolle er mit seinen Bildern die Kehrseite der Kreuzfahrtindustrie offenlegen. Das zeigen, was die Hochglanz-Broschüren nicht zeigen: "Es ist eben nicht ohne Risiko, Tausende von Menschen auf so ein Schiff zu pferchen", sagt er.
Sieben Stunden lang durchforstete Kielkowski das Innere der "Costa Concordia", entkräftet und verdreckt lief er am Nachmittag in der Augusthitze die Außenmole zurück. Ein Fischer erbarmte sich, nahm den Fotografen ins Boot und fuhr ihn an Land.
Kielkowski rechnet mit juristischen Konsequenzen seiner Fotoaktion, Angst hat er davor nicht. Schließlich sei das Wrack weder umzäunt noch bewacht gewesen: "Niemand hat mich daran gehindert, es zu betreten." Rein rechtlich gesehen war es Hausfriedensbruch.
Die Deutsche Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU), wegen der zwölf deutschen Todesopfer zur Aufklärung des Falls verpflichtet, hatte bei der Aufklärung helfen sollen. Doch im Dezember 2015 stellten die Beamten zornig ihre Nachforschungen ein: Lange erhielten sie keinen Zutritt zum Wrack, konnten sich nie ungehindert umsehen. Die Staatsanwaltschaft habe über Monate die Ermittlungen erschwert, weitere Aktivitäten seien "offensichtlich sinnlos", so die Behörde.
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Foto: Jonathan Danko Kielkowski
Die "Costa Concordia" verlässt den Hafen Civitavecchia in Richtung Savona. Für manche Passagiere ist es der Auftakt einer einwöchigen Mittelmeer-Kreuzfahrt, für andere die letzte Etappe ihres Urlaubs. An Bord sind mehr als 4200 Menschen, darunter etwa 1000 Besatzungsmitglieder.
Es ist ein angenehmer Abend, die See ist ruhig. Um kurz nach 19.30 Uhr steuert Kapitän Francesco Schettino das Schiff dicht an die Küste der Insel Giglio heran. Er habe einen ehemaligen Costa-Kapitän grüßen wollen, der ein Haus auf Giglio besitzt, wird Schettino später zu Protokoll geben. "Verneigung" wird das Manöver in der italienischen Seefahrt genannt - und das Grüßen von Küstenbewohnern mit der Sirene ist keine Seltenheit. Erst im August 2011 hatte die "Costa Concorida" Giglio ähnlich dicht passiert. Doch damals ging alles gut.
Bei Kapitän Schettino auf der Brücke soll sich neben Costa-Mitarbeiterin Domnica Cemortan aus der Republik Moldau auch ein Oberkellner befinden, der auf Giglio geboren ist. "Antonello, schau mal, wir liegen direkt vor deiner Insel", soll jemand gesagt haben. "Achtung, wir sind ja total nah an der Küste", hat der Mitarbeiter laut "Corriere della sera" angeblich geantwortet.
Foto: Str/ dpa
Foto: VINCENZO PINTO/ AFP
Ein Beamter der Hafenkommandantur ruft auf der Brücke der "Costa Concordia" an und fragt, was los sei. Sein Gesprächspartner wiegelt ab: "Wir haben einen Stromausfall", sagt er. "Wir sind dabei, die Ursachen zu überprüfen." Man habe durch einen Verwandten eines Besatzungsmitglieds erfahren, dass den Passagieren "während des Abendessens Dinge auf den Kopf gefallen sind", sagt der Mitarbeiter der Hafenwache. Auf die Frage, ob die Passagiere angewiesen worden seien, ihre Schwimmwesten anzulegen, antwortet der Mann auf der "Costa Concordia" ebenfalls ausweichend: "Wir überprüfen, was es mit dem Stromausfall auf sich hat." Mehr sagt er nicht.
Ein Boot der Finanzpolizei nähert sich dem Unglücksort. Die "Costa Concordia" bekommt durch den Wassereinbruch immer mehr Schlagseite. Das Schiff wendet und fährt auf den Hafen der Insel zu.
Der Neigungswinkel des Schiffes liegt bereits bei 20 Grad. Alle in der Gegend verfügbaren Schiffe werden zum Unglücksort gerufen. Schettino weigert sich allerdings weiter, eine Evakuierung des Schiffes vorzubereiten. Auf der Brücke kommt es offenbar zu einer Meuterei der Offiziere. Roberto Bosio, ein Kapitän, der als Gast an Bord ist, gibt den ersten Räumungsbefehl.
Foto: REUTERS
Das Evakuierungssignal ertönt. An Bord bricht Panik aus. Teilweise prügeln sich Passagiere um die Plätze in den Rettungsbooten. Menschen flüchten ins Meer, um an Land zu schwimmen. Augenzeugen berichten hinterher von chaotischen Zuständen während der Evakuierung. Einige Passagiere sollen in bereits überfüllte Rettungsboote gesprungen sein. Die Schräglage des Schiffes erschwert es zusätzlich, die Rettungsboote auf der Backbord-Seite ins Wasser zu lassen.
Auf Giglio eilen die Einwohner zum Hafen, sie bringen heiße Getränke und Decken für die Schiffbrüchigen. In den Rettungsbooten werden Tausende Passagiere in Sicherheit gebracht. Viele finden in der Kirche eine Notunterkunft. Schettino gibt an, noch seien rund 300 Menschen an Bord der "Costa Concordia". Vermutlich noch vor Mitternacht verlässt auch er das Schiff - und verstößt damit gegen den Ehrenkodex der Kapitäne. Er habe bei der Evakuierung geholfen und sei dann in ein Rettungsboot gestolpert, wird er später behaupten.
Der Hafenkommandant versucht laut der Zeitung "La Repubblica", den Kapitän an Bord zu erreichen. Niemand antwortet. Das Patrouillenboot fordert zusätzlich Hubschrauber an, um die letzten 70 bis 80 Passagiere zu retten, die noch an Bord sind.
Foto: HANDOUT/ REUTERS
Gregorio de Falco von der Hafenkommandantur in Livorno erreicht Schettino auf dem Handy. In einem dramatischen Telefonat fordert er den Kapitän auf, an Bord zurückzukehren. Sein wütender Befehl, "Vada a bordo, cazzo!", (auf deutsch etwa: "Kehren Sie an Bord zurück, verdammt noch mal!") verpufft: Schettino kehrt nicht zurück.
Foto: Rolf Niemeyer/ dpa
Es gibt erste Berichte über Todesopfer. "An Bord soll es fünf Verletzte und drei Tote geben", heißt es vom Patrouillenboot der Finanzpolizei. Knapp anderthalb Stunden später wird die Rettungsaktion vorläufig beendet. Schettino hat es da längst wohlbehalten an Land geschafft. Ein Taxifahrer erzählt, er habe den Kapitän am Morgen zu einem Hotel gebracht: "Er sah aus wie ein geprügelter Hund, frierend und verängstigt."
Bei Tagesanbruch suchen die Rettungsmannschaften weiter nach Vermissten. Bis zum Mittag sind 4179 Gerettete an Land registriert. Auch in den folgenden Tagen hangeln sich Rettungstaucher immer wieder vorsichtig durch das Wrack - auf der Suche nach den Vermissten. Die Staatsanwaltschaft wirft Schettino fahrlässige Tötung, Havarie und das Verlassen der "Costa Concordia" während der Evakuierung vor.
Foto: FILIPPO MONTEFORTE/ AFP
Erstmals nach 20 Monaten liegt die havarierte "Costa Concordia" wieder aufrecht vor der italienischen Insel Giglio. Die Bergungsaktion, bei der das Schiff zunächst gegen weiteres Abrutschen gesichert und dann in die Vertikale gezogen wurde, hatte am Morgen des Vortages begonnen.
Foto: AFP/CNES /Distribution Astrium Services
Das Wrack hat den Hafen von Genua erreicht. Die Demontage des Schiffes soll voraussichtlich zwei Jahre dauern.
Foto: Luca Zennaro/ picture alliance / dpa
Kapitän Francesco Schettino soll für 16 Jahre ins Gefängnis. Das Gericht im italienischen Grosseto macht den 54-Jährigen verantwortlich für den Tod von 32 Menschen und die Havarie des Kreuzfahrtschiffs.
Im Strafmaß enthalten sind zehn Jahre für mehrfache fahrlässige Tötung, fünf Jahre für das fahrlässige Verursachen des Schiffbruchs, ein Jahr für das Zurücklassen Minderjähriger oder hilfsbedürftiger Personen sowie ein Monat dafür, dass er nicht Meldung erstattet hat.
Schettino selbst zeigt sich "enttäuscht" von der Tatsache, dass er wegen vorzeitigen Verlassens des Schiffs verurteilt wurde. "Ich werde kämpfen, um zu beweisen, dass ich die 'Costa Concordia' nicht verlassen habe", sagt er. Im Prozess hatte er erklärt, er sei nicht willentlich von Bord gegangen, vielmehr habe ihn "die Schwerkraft" in ein Rettungsboot gezogen. Schettino will in Berufung gehen.
Foto: MAX ROSSI/ REUTERS