Thore Schröder - 02.02.2021
Aus dem Fenster von Tanios Ghanems Wohnung im vierten Stock ist die Autobahn zu sehen, dahinter erstreckt sich die Skyline von Beirut. Bis vor wenigen Jahren schien dort alle paar Wochen ein neues Hochhaus in den Himmel zu wachsen. Die Stadt leuchtete. Der 77-Jährige war stolz auf diesen Ausblick. Stolz, dass er mit anderen dieses Haus im Viertel Karantina gebaut hatte, dass er und seine Familie es aus ihrem Bergdorf nach Beirut geschafft hatten.
"Heute ist alles tot und kaputt", sagt er nun. Ohne Scheiben und unbewohnt wirken viele Gebäude in der Gegend wie hohle Zähne, nachts bleiben sie dunkel. Im angrenzenden Hafen klafft seit dem 4. August 2020 ein Krater, ringsherum herrscht noch immer Zerstörung. Die Ruine des Getreidesilos, auf der Unkraut wuchert, gekenterte Schiffe, bizarr verformte Container, Schrotthaufen. Die Folgen der Explosion.
Foto: Marwan Naamani/dpa
Vor einem halben Jahr detonierte mitten in der libanesischen Hauptstadt eine riesige Menge Ammoniumnitrat. Waren es, wie anfangs vermutet, 2750 Tonnen oder weniger? Das ist bis heute genauso ungeklärt wie die Frage, wer die Verantwortung für die Katastrophe trägt. 200 Menschen starben, 6500 wurden verletzt, 300.000 verloren ihre Wohnung.
Der Staatspräsident wusste von der jahrelangen Lagerung des hochgefährlichen Stoffes mitten in der Hauptstadt, genauso wie der Ministerpräsident. Die Regierung musste zurücktreten - und ist doch weiter geschäftsführend im Amt. Macht wird im Libanon über ein kompliziertes Konfessionssystem verteilt. Das bestimmt auch darüber, was aufgeklärt und angeklagt werden kann. Transparenz bleibt auf der Strecke, insbesondere im Hafen, an dem sich seit Jahrzehnten alle politischen Gruppen bereichern.
Foto: Thore Schröder
Was macht das mit den Bürgern, wie geht es weiter für die Bewohner dieses besonders schwer getroffenen Teils von Beirut, dem Stadtteil Karantina?
"Vom Staat haben wir bis heute keine einzige Lira bekommen", sagt Tanios Ghanem. Das Sofa im Wohnzimmer ist seit der Explosion von Scherben durchlöchert, im Treppenhaus klebt noch getrocknetes Blut an den Wänden. Der Nachbar aus dem fünften Stock hatte sich mit schweren Schnittwunden ins Freie geschleppt, insgesamt wurden im Gebäude zwölf Personen verletzt.
Von außen wirkt das weiße Haus mit den dunkelgrau verkleideten Balkonen fast wieder intakt. Private Organisationen haben Fenster und Türen instandgesetzt, auch den Fahrstuhl, was entscheidend ist, denn Ghanem und seine Frau Mona, 73 Jahre alt, wären sonst in ihrer Wohnung gefangen. Sie können kaum noch laufen. Beide sind Diabetiker, sie leidet an Bluthochdruck, Atemnot, Epilepsie, ihm wurde nach der Explosion der Vorderfuß amputiert.
"Wir waren Gott sei Dank nicht in der Stadt, als es passierte, aber das alles hat mich so aufgeregt, dass ich eine Entzündung bekam", erzählt er leise. Er steht auf, humpelt in die Küche, bringt für die Gäste Clementinen und Schokowaffelbiscuits, dazu Seven-Up light. Als er zurück ins Wohnzimmer kommt, zieht ihm seine Frau den Überstrumpf über seinem Stumpf zurecht. Dann atmet sie schwer und schaut wieder ins Leere.
In den 1830er-Jahren richteten die Osmanen in der Nähe des Beiruter Hafens eine Quarantänestation ein: La Quarantaine - Karantina. Später kamen Geflüchtete aus Armenien, Kurdistan, Palästina und Syrien, dazu Leute vom Land wie die Ghanems. Tanios' Onkel Antonios hatte in einer Beiruter Bank gearbeitet, in den 50er-Jahren kaufte er in Karantina ein Grundstück, baute ein kleines Haus mit Bananen- und Feigenstauden im Garten. Im Bürgerkrieg herrschten die Milizen in der Gegend, eines der blutigsten Massaker ereignete sich in der Nähe.
Foto: Thore Schröder
Erst nach Ende der Kämpfe 1990 konnten die Ghanems ihr Erbe antreten. Jahrzehntelang hatte Tanios für das Wasserwerk in seinem Bergdorf gearbeitet, nun fand er Arbeit bei einer Spedition im Hafen Beiruts. "Unser Nachbar hier war Architekt, er hatte die Idee für den Neubau", erzählt er. Anfang der 90er-Jahre entstand der siebengeschossige Turm auf zwei kleineren Grundstücken, anstelle der alten Häuser. Die Ghanems nahmen drei Etagen darin in Besitz. In ein Stockwerk zog die Familie, zwei weitere vermietete sie an Handelsgesellschaften. Ein Lebenstraum ging in Erfüllung.
"Die Miete der Firmen war unsere Rente", sagt Mona Ghanem. Vor zwei Jahren brach Libanons Wirtschaft zusammen. Die Banken hatten sich jahrelang durch eine Art Schneeballsystem finanziert. Nun kam kein Geld mehr nach, die Blase platzte. Die Währung hat 80 Prozent ihres Wertes verloren. Ein Mieter der Ghanems wurde zahlungsunfähig, die anderen Firmen sind nach der Explosion nicht zurückgekehrt. "Die Versicherungen zahlen nicht für die Schäden", sagt Tanios Ghanem.
Er hat früh gelernt, nicht zu klagen, selbst wenn er von seinem zerstörten Leben erzählt. "Charbel war 29 Jahre alt, frisch verlobt", sagt er über seinen Sohn, dessen Fotos im Wohnzimmer zwischen Heiligenbildern stehen. Vor 13 Jahren erschoss sich der junge Mann versehentlich beim Putzen eines Jagdgewehrs. Rita, die jüngste Tochter, ist unverheiratet, kümmert sich um die Eltern, doch ihr Sekretärinnengehalt genügt kaum für ihre eigene Versorgung. Marie-Claude, die ältere, muss als alleinerziehende Witwe auch ihre Eltern finanzieren, aber ihre Ersparnisse gehen langsam zur Neige. Allein die Medikamente von Tanios und Mona Ghanem kosten umgerechnet 170 Dollar im Monat, in Inflationszeiten ein Vermögen.
Foto: Thore Schröder
Unten, im Erdgeschoss, wohnt der syrische Hausmeister Khalaf Faraj mit seiner Frau und fünf Kindern. Vor knapp zehn Jahren flohen sie aus dem Bürgerkriegsland. Die Ein-Zimmer-Wohnung der Farajs ist mit 15 Quadratmetern gerade groß genug, um abends für jeden der sieben eine dünne Matratze auszubreiten. Der älteste Sohn ist geistig behindert, liegt jede Nacht wach, manchmal wimmert er leise. Einen Weg zurück in die Heimat gibt es nicht. "Dann müssten meine Söhne zum Militärdienst oder ich müsste stattdessen 15.000 Dollar Entschädigung zahlen, die ich nicht habe", sagt der Vater. Faraj hat einst in Syrien Straßen asphaltiert, schon Ende der 90er-Jahre kam er zeitweise nach Beirut: "Hier gab es Arbeit und Dollars."
Ein Land für Aufsteiger ist der Libanon schon lange nicht mehr. Mittlerweile ist Khalafs Monatsgehalt auf 60 Dollar zusammengeschrumpft, kaum genug, um die Familie zu ernähren. "Oft gibt es bei uns nur ein paar Linsen", sagt Mutter Kamila. Seit 2010 ist keines der Kinder in der Schule gewesen. "Doch wir versuchen, ihnen zumindest etwas selbst beizubringen", erklärt Khalaf Faraj. Seine fünfjährige Tochter Alim kommt aus dem Haus gestürmt, verlangt nach seinem Handy. Sie setzt sich auf seinen Schoß, schaut eine Unterrichtsstunde, Englisch auf Youtube: "Up and down, left and right". "Eines Tages wird sie auf eine internationale Schule gehen, in Europa, so Gott will", sagt der Vater. Die Farajs klammern sich an ihre Träume, auch und besonders, wenn alles zusammenbricht, wie am 4. August.
Foto: Thore Schröder
"Ich bin aufgewacht von diesem gewaltigen Knall, da lag die Badezimmerwand auf meinem Bein", erzählt der 20-jährige Sohn Faris und zieht sein Hosenbein hoch, um eine breite Narbe zu zeigen. Auf seinem Handy hat er einen Film der Sekunden nach der Druckwelle gespeichert: herabgestürzte Bäume und Bauteile, blutende, herumirrende Menschen.
Mit Unterstützung einer privaten Hilfsorganisation hat Khalaf Faraj die Wände der Wohnung rekonstruiert und aus Altmetall einen Schrank unter die Decke geschraubt. "Jetzt hat jeder von uns zumindest ein eigenes Fach", sagt seine zwölfjährige Tochter Ayad.
"Karantina ist ein Ort der multiplen Traumata", erklärt Howaida Al-Harithy, Architekturprofessorin an der American University von Beirut und Leiterin eines Projekts zum Wiederaufbau des Viertels. Knapp 3000 Menschen leben in dem Stadtteil, der zwar mitten in Beirut liegt, aber zwischen Hafen, Schnellstraßen und Müllhalden wie mutwillig abgeschnitten wirkt, immer noch isoliert wie eine Quarantänestation. 70 Prozent der Bewohner sind Libanesen, die meisten anderen kommen aus Syrien.
"Es sollte eine langfristige Strategie geben", sagt Al-Harithy. Nicht nur Wiederaufbau sei gefordert, sondern neue Strukturen. Die großen Militärkasernen müssten verschwinden, es bräuchte endlich eine Schule, mehr Parks und Baurichtlinien, die auch kleinere Neubauten ermöglichen. Die Gefahr der Gentrifizierung durch Spekulanten sei durch die Wirtschaftskrise durchaus nicht gebannt. "Diese Leute denken sehr langfristig", warnt sie.
Die Notversorgung nach dem 4. August leisteten private Hilfsorganisationen und tausende junge Freiwillige. Der Staat, der die Katastrophe verantwortet hatte, war nicht zu sehen. "Wir haben uns schon in der Nacht nach der Explosion zusammengesetzt", erzählt Rami Al-Hayek, ein 29-Jähriger, der die Arbeiten von Offre Joie im Viertel leitet. Seine Organisation, deren Name übersetzt "das Glück des Gebens" bedeutet, wurde im Bürgerkrieg gegründet und ist im ganzen Land tätig, über Konfessionsgrenzen hinweg.
Al-Hayek wirkt mit seinem Augenbrauenpiercing und dem Holzfällerhemd wie ein Pfadfinder, spricht bisweilen aber wie ein Manager und Ingenieur, in drei Sprachen fließend. "Im August haben wir zunächst aufgeräumt, die Menschen mit Lebensmitteln versorgt, Müll entsorgt und Obdachlose evakuiert, dann begann der Wiederaufbau", sagt der Architekt. Er zeigt auf ein von innen und außen eingerüstetes Haus aus Sandsteinblöcken: "Das ist um die hundert Jahre alt, war einsturzgefährdet, wir haben es erst einmal gestützt."
Foto: Thore Schröder
Zunächst haben sich Offre Joie und die anderen NGOs über Whatsapp koordiniert, erst nach einigen Wochen stellte die Armee zumindest eine digitale Karte zur Verfügung. Die verwüsteten Stadtteile wurden in Sektoren eingeteilt und diese den NGOs zugewiesen. "Vieles können wir Bürger leisten, aber ganz ohne den Staat geht es nicht", sagt Al-Hayek. Seine Arbeit in Karantina wird bald beendet sein, dann will er zurück nach Abu Dhabi, wo er schon vor der Pandemie gearbeitet hat. "Oder nach Amerika oder Europa, Hauptsache, in ein Land, das stabil ist."
Vor einigen Jahren, als es im Libanon zumindest noch ein bisschen beständiger und sicherer zuging, war Karantina dabei, sich zu einer hippen Adresse zu entwickeln. Ausgerechnet die Gegend auf der anderen Seite des Viertels, wo es stinkt, weil dort Abfall entsorgt wird, erlebte den Zuzug teurer Geschäfte, Clubs und Galerien. Vom "Meatpacking District" Beiruts war die Rede, in Anspielung auf das angesagte ehemalige Gewerbegebiet in New York.
Eine Vorreiterrolle hierbei spielte die Galerie Sfeir-Semler. Deren Gründerin Andrée Sfeir-Semler stammt aus einer Beiruter Bürgerfamilie, ging in den 70er-Jahren nach Deutschland und gründete dort ihre erste Galerie, zunächst in Kiel, dann zog sie nach Hamburg. 2005 eröffnete sie ihre Beiruter Dependance auf 1200 Quadratmetern in einer ehemaligen Eisenfabrik. Auch dieses Gebäude wurde am 4. August schwer getroffen, im vierten Stock bei Sfeir-Semler stürzte eine Decke herunter.
"Dieser Ort ist längst Teil unserer DNA geworden", sagt Direktorin Léa Chikhani, als sie durch die nun wieder strahlend weißen Hallen führt. Sfeir-Semler ist eine der wichtigsten Kunstadressen des Landes, die Galerie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass libanesische Gegenwartskunst heute in den wichtigsten Museen und Sammlungen der Welt vertreten ist. Der Standort in Beirut sei dafür maßgeblich, so Chikhani: "Es war sofort klar, dass wir wieder aufbauen werden."
Als die Druckwelle der Explosion die Galerie traf, fuhr sie gerade nach Hause. "Normalerweise arbeite ich um diese Zeit", sagt die Managerin, "doch wegen der Pandemie war weniger zu tun." 2020 gab es nur eine Ausstellungseröffnung, dann kam die Seuche, dann das Inferno.
Foto: Thore Schröder
Die Räume sind nun renoviert. Als nächstes soll Marwan Rechmaoui hier ausstellen. Der 56-Jährige hat aus industriellen Werkstoffen Modelle bekannter libanesischer Gebäude geschaffen, darunter des Messegeländes von Oscar Niemeyer in Tripoli und des Burj al Murr, eines Hochhaus-Rohbaus, von dem aus im Bürgerkrieg die Scharfschützen zielten. Dazu zeigt er geradezu dekorativ wirkende Werke, geschraubt aus den Resten der zerstörten Galeriefenster. Kunst als Wiederaufbau, zumindest als Verwertung.
Rechmaoui steht zwischen seinen in Kisten verpackten Modellen und spricht über das Gefühl, immer wieder von vorn zu beginnen. "In der jüngeren Geschichte ging es los mit der Ermordung von Rafiq al-Hariri", sagt er über das Attentat auf den damaligen Premierminister 2005. Es folgten der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, die Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten. "Die Revolution war unsere letzte Chance, hier etwas zu ändern", sagt Rechmaoui über den Aufstand vom Herbst 2019. Doch statt Reformen folgten neue Rückschläge.
In diesen Tagen kreisen israelische Kampfjets über Beirut, als Warnung an die Hisbollah-Miliz im Süden der Stadt - und als Erinnerung an die Bevölkerung, dass es jederzeit wieder Krieg geben könnte. Der Libanon ist in einem strikten Corona-Lockdown, das Gesundheitssystem bricht zusammen, gleichzeitig hat es in Tripoli Hungerproteste mit Toten gegeben. "Dieses Triumphgefühl, jede Katastrophe zu überstehen, habe ich schon lange nicht mehr", sagt der Künstler. Wann seine Ausstellung endlich eröffnet, ist unklar.
Quelle: tagesspiegel vom 02.02.2021