zur Erinnerung
30 Jahre Deutsche Einheit, Zeit für eine Zwischenbilanz

Nachgefragt

So sehe ich das!

Prof. Madelaine Böhme, 53, heute Tübingen (Baden-Würtemberg) Böhme ist Professorin für Paläontologie, ihre Ausgrabungen führten zu den Knochen des ältesten aufrecht gehenden Menschenaffen

Welche Begriffe verbinden Sie mit der DDR?
Olsenbande, Märchenwald, Mosaik, Puhdys und Alte Juwel zählen zu den schönsten. Stasi, FDJ-Hemd, Klassenstandpunkt zu den hässlichsten.

Was hat Ihr Leben bis 1989 geprägt?
Die tollsten Eltern und die schönste Kindheit. Ich bin bikulturell aufgewachsen: in Deutschland zwischen Weimar und Dresden und in Bulgarien zwischen Plowdiw und Sonnenstrand. Aber auch eine 50 -seitige Stasi-Akte mit unwürdigen Beiträgen mir unbekannter Personen.

Wie verbrachten Sie Ihre Freizeit?
Ich habe gelesen, Gedichte geschrieben, gemalt. Und ich habe viel gesammelt, z. B. Fossilien von Arkona bis Slatograd (in Bulgarien).

Welchen Beruf haben Sie gelernt?
Ich bin nach der EOS direkt zum Geologie-Studium an die Bergakademie Freiberg gegangen.

Wo waren Sie, als Sie vom Mauerfall erfuhren?
Im Hörsaal während einer Informatik-Vorlesung.

Was haben Sie vom Begrüßungsgeld gekauft?
Zunächst nichts. Erst im Februar 1990 habe ich einen einwöchigen wissenschaftlichen Kurs an der Münchner Universität bestritten.

Welche Meinung hatten Sie zur Wiedervereinigung? Und welche haben Sie heute?
Ich bin 198911990 nicht auf die Straßen gegangen, dazu war ich politisch zu sehr verwirrt und indoktriniert. Diese Phase und die 1990er-Jahre waren für mich sehr schwer, auch ökonomisch. Aus der Distanz von 30 Jahren denke ich, dass es zur Wiedervereinigung politisch keine Alternative gab, wohl aber zu den wirtschaftlichen und sozialen Mafnahmen.

Wie ging es nach 1990 beruflich für Sie weiter?
1992 habe ich mein Studium in Freiberg abgeschlossen, 1997 in Leipzig promoviert, 2002 in München habilitiert. Seit 2009 bin ich Professorin in Tübingen. Was nach einer reibungslosen Karriere klingt, täuscht. Als Ossi hatte man es im Westen wegen fehlender Netzwerke bei Bewerbungen meist dreimal so schwer. Zumindest in den 1990ern und frühen Nullerjahren war man dort schon ein "Fremdkörper", wenn es um die Verteilung "westdeutscher Ressourcen" ging.

Was ist in den zurückliegenden 30 Jahren aus Ihrer Sicht gut, was schlecht gelaufen?
Ein extremer Gewinn für die Ostdeutschen war die Erlangung bürgerlicher Freiheiten, insbesondere der Meinungsfreiheit. Eine Katastrophe war die Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft und die teilweise Vernichtung des menschlichen Kapitals in diesen fünf Bundesländern.

Hätten Sie im Leben gern etwas andersgemacht?
Nein! Ich hatte und habe das Glück, Paläontologin zu werden und zu sein, die Welt in Freiheit zu entdecken. Dafür musste ich allerdings Ostdeutschland verlassen - das war mein Schicksal.

Was wünschen Sie sich?
Mein wichtigster Wunsch für meinen Sohn und folgende Generationen ist, dass wir die Freiheit und Demokratie behalten, die sich DDR-Bürger 1989 erkämpft haben - jeden Tag aufs Neue, denn "nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss" (J. W v. Goethe). Es gibt keine absolute und ewige Sicherheit.

Ihre Mutter war Bulgarin, Ihr Vater DDR-Bürger. Fühlen Sie sich ostdeutsch?
Ob ich mich mehr ostdeutsch oder bulgarisch empfinde, wurde ich als Kind (von bulgarischer Seite) öfter gefragt. Ich sag's mal SO: Ich empfinde beides. Vom Mutterland Bulgarien erhielt ich mein Herz, vom Vaterland Ostdeutschland meinen Geist.

Heft 51/2020


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08