Die Vorgeschichte erstaunte selbst die Amerikaner.
Von Stephan Finsterbusch
Dort, wo der 1-Megabit-Chip einst entwickelt worden war, ist heute Europas größter Halbleiterstandort: in Dresden. Hier werden jedes Jahr Milliarden Speicher- und Rechenbausteine gefertigt; hier sind Hunderte Branchenunternehmen mit 20 000 Beschäftigten tätig; hier gibt es ein Netz an Instituten und Hochschulen; hier stehen die Chipfabriken von ZMD, Infineon und Globalfoundries, hier zieht Bosch gerade ein neues Werk hoch. Das lässt sich der Stuttgarter Konzern eine Milliarde Euro kosten, die größte Einzelinvestition in der Geschichte des Unternehmens. Die Fabrik wird so groß wie ein Fußballstadion und eines der modernsten Werke der Welt sein.
Kommendes Jahr laufe die Produktion an, sagt Otto Graf, Geschäftsführer von Bosch Semiconductor Manufacturing Dresden. Dann werden 700 Mitarbeiter nicht nur sogenannte Asic-Chips und Leistungshalbleiter für Steuerungs-, Lenk- und Navigationssysteme von Autos herstellen, sondern auch Sensoren für die Ausstattung der Fabriken der Zukunft. Denn kein Gerät und keine Maschine werden dann noch ohne Chips auskommen. Für Jens Drews von Globalfoundries (GF) erlebt die Wirtschaft "eine neue industrielle Revolution". Das erste Dresdner Werk von Globalfoufndries ging schon vor zwanzig Jahren an den Start. Seitdem wurde es mit Milliarden modernisiert und erweitert. Während Bosch seine Chips ausschließlich in eigenen Produkten wie Fahrzeugmotoren verbaut, fertigte GF seine Prozessoren erst für Computer- und dann für Handyhersteller. Heute zählen auch Autoindustrie und Netzwerkausrüster zu den Kunden.
Der neue Mobilfunkstandard "5G braucht eine neue Infrastruktur, und auch dafür machen wir Chips", sagt Drews. Darüber hinaus hat Globalfoundries gerade einen KI-Chip vorgestellt, der ähnlich wie ein Gehirn arbeitet, je Sekunde Billionen Rechenoperationen ausführt und am belgischen Imec-Institut entwickelt wurde. GF will ihn von 2022 an in seinem Dresdner Werk in Serie fertigen. Ein Rechenwinzling für die Zukunft: Trieben einst Wasser und Dampf die Industrie an, dreht sich heute alles um Daten. Chips sind da entscheidend.
Das macht Dresden zu einem "Leuchtturm", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem letzten großen Auftritt in der Stadt sagte. Ein Leuchtturm für Europa, das in technischen Entwicklungen hinter Amerika und Asien "an vielen Stellen zurückgefallen" sei und rasch aufholen müsse. Dresden kennt sich mit solchen Aufholjagden aus. War der 1-Megabit Chip für die DDR doch das, was für die deutsche Wirtschaft heute 5G- und KI Chips sind: Wegbereiter neuer Industrien.
Schon in den sechziger Jahren hatte die SED die Mikroelektronik zur Schlüsseltechnologie erhoben. 1977 beschloss sie den Ausbau der Branche, zunächst durch das Kopieren westlicher Vorbilder. 1986 startete sie Projekt "Mikron", den Megabit-Chip. Das Zentrum für Mikroelektronik Dresden (ZMD) und der VEB Carl Zeiss Jena sollten ihn aus eigener Kraft entwickeln. Im Westen hielt man das für aussichtslos. Im Osten aber hatte Staats-und Parteichef Honecker im September 1988 den Muster-Chip in Händen, vor laufenden Kameras. Amerika war alarmiert.
Hatte Washington doch bis dahin niemandem im Ostblock zugetraut, diesen Chip zu bauen. Zwar kam IBM 1984 mit einem 1-Megabit-Chip auf den Markt. Zwar arbeiteten Toshiba und Siemens an 4-Megabit-Chips. Doch die wurden nicht hinter dem Eisernen Vorhang geliefert. Auch hinkte die DDR der Entwicklung im Westen um Jahre hinterher. Dennoch machte sie mit dem Chip einen großen Schritt nach vorn. Das überraschte die Amerikaner, hatten sie bis dahin doch geglaubt, über ihre Wirtschaftsspionage die HighTech im Osten gut zu kennen: vom ersten Transistor 1953 bis zum U880-Prozessor 1980. Bei Projekt "Mikron" aber tappten sie im Dunkeln. Sie kannten das Ziel, nicht die Details. Sie hatten die Ingenieure, Betriebe und selbst die Stasi im Blick. Das Scientific and Technical Intelligence Com mittee räumte 1985 jedoch ein:
Darüber hinaus machte Ost-Berlin sein Chip-Programm zum Staatsgeheimnis, da dafür Materialien und Anlagen nötig waren, die es im Osten nicht gab und die der Westen durch seine Embargo-Politik nicht liefern durfte: Vakuummolekülpumpen, Titansilizid, Siliziumchloroform. Dennoch entwickelte man in Dresden den Chip. Das warf Fragen auf: Hatte die Stasi den Westen angezapft? Und hatte der Osten vielleicht neben dem Chip gar noch die gesamte Zulieferindustrie aus den Boden gestampft?
Es sei schon kurios, dass Europas größter Halbleiterstandort heute just dort stehe, wo der Osten einst im Wettrennen mit dem Westen Boden gutmachen wollte, sagt Drews. Es sei kein Zufall, dass die neue Fabrik von Bosch in Dresden gebaut wird, unterstreicht Graf. Man finde hier Fachkräfte und ein enges Netz aus Wissenschaft und Wirtschaft: "Hier hat man jahrzehntelange Erfahrung." Kein Wunder: ZMD hatte die Wende überlebt und noch einige seiner Megabit-Chips produziert. Siemens-Ingenieure hielten sie für technisch gut. So erklärte der Konzern 1993, die Ressourcen in Dresden zu nutzen und hier eine Fabrik zu bauen. Später gründete Siemens seine Chipsparte als Infineon aus. Heute ist sie ein tragender Pfeiler für Dresden. Raik Brettschneider, Infineon Geschäftsführer in Sachsen, will weiter investieren. Der Standort habe Potential.
Das stellten auch die Amerikaner fest, als sie nach dem Mauerfall wissen wollten, wie die DDR zu ihrem Megabit-Chip gekommen war.
Quelle: FAZ vom 02.10.2020 Seite B3
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Auskünfte Junghans und Knobloch, MfS-Unterlagen (BStU), SED-Archive (Sächs. HStA, Bundesarchiv), Interview Landgraf-Dietz durch den Autor im Jahr 1995, Oiger-Archiv, Heiko Weckbrodt: Innovationspolitik in der DDR 1971-89, 2. Auflage, 2023
Veröffentlicht am 18. August 2023
Foto: Klaus Franke, ADN, Bundesarchiv, Bild 183-1988-0912-400, Wikipedia, CC3-Lizenz
In den Schaltkreis seien zwar internationale Vorbilder eingeflossen, dies sei aber überall so üblich, argumentiert Bernd Junghans: Kaum ein Unternehmen weltweit entwickele einen Schaltkreis vom Punkt Null aus von A bis Z selbst und vollkommen vorbildfrei. "Es gab zwar auch Fremdmuster-Analysen, doch letztlich war unser Megabit-Schaltkreis in vieler Hinsicht eine eigene Entwicklung", betont der ostdeutsche Mikroelektronik-Veteran. Im Übrigen seien japanische und nicht westdeutsche Chips für die Fremdmuster-Analyse aufgesägt worden, sagt Junghans mit Blick auf zirkulierende Thesen, der Megabit-Chip aus dem ZMD sei bei Siemens abgekupfert. "Wir wussten ja, dass Siemens mit einer Eigenentwicklung gescheitert war und deshalb Toshiba-Lizenzen verwendet hatte."
Abb.: hw
Um den ostdeutschen Eigenanteil abzuschätzen, lohnt ein näherer Blick auf die "Zutaten" für eine derartige Schaltkreis-Entwicklung und -Pilotproduktion. Benötigt werden dafür unter anderem ein besonderer Reinraum, spezielle Entwurfs-Software und -Rechner sowie die konkreten Schaltpläne. Davon leiten sich dann die Belichtungsmasken ab. Für die Fertigung braucht es dann lichtempfindliche Photo-Lacke, geeignete hochreine Materialien und vor allem technologische Spezialausrüstungen wie Lithografie-Anlagen, Chemische Gasphasenabscheider (CVD), Ätzer, Ionen-Implanter, Laser, aber auch besondere Mess- und Positionierungstechnik. Schließlich zerteilen Endmontage-Linien die Siliziumscheiben mit den Speicherchips, prüfen die Schaltkreise, kontaktieren sie und verpacken sie in Gehäuse.
Speziell für neue Speicherchips liegt der Schwerpunkt eher auf hochmodernen Anlagen und Materialien, um besonders feine Strukturen zu erzeugen und so viele Speicherzellen wie möglich pro Wafer-Quadratzentimeter unterzubringen. Insofern unterscheidet sich dies von der Nachentwicklung eines Prozessors: Die grundsätzlichen Schaltpläne für einen Speicherchip waren und sind in der Branche seit jeher allseits bekannt. Anders ist das bei den oft recht raffinierten Schaltungen in Logik-Chips, die für Industriespione durch bloßen Aufsägen der Chips nur schwer zu durchschauen sind - und für Nachahmer einen viel größeren Entwicklungsaufwand binden. In diesem Segment sind auch Beispiele zu finden, in denen sich die DDR-Ingenieure als "Copy Cats" (so bezeichnen die US-Amerikaner gerne Plagiatoren) betätigt haben: "Für den Taschenrechner Minirex haben wir 1973 tatsächlich einfach einen Schaltkreis von Texas Instruments abgekupfert", räumt Knobloch ein.
Foto: privat via J. Knobloch
Abb.: volksbund.de
Schauen wir zuerst auf die Technischen Spezialausrüstungen (TSA), weil die beim Megabit-Projekt eine besonders prominente Rolle spielten: Tatsächlich habe die Stasi wie auch das Beschaffungsimperium von Alexander Schalck-Golodkowski (SED) verschiedene Chipfertigungs-Anlagen, die auf der US-Embargoliste standen, konspirativ aus Amerika und Asien besorgt, räumt ZMD-Projektleiter Junghans ein. Dies habe etwa die Hälfte der technologischen Spezialausrüstungen für die Megabit-Pilotproduktion ausgemacht. Die andere Hälfte der Ausrüstungen entwickelten das Optik- und Technologiekombinat Carl Zeiss Jena, der VEB Elektromat, Hochvakuum Dresden und weitere DDR-Betriebe jedoch selbst. Das deckt sich mit früheren Aussagen vom ZMD-Technikdirektor Dieter Landgraf-Dietz: "Von den Geräten, die 1989 im ZMD standen, war vom Finanzvolumen und der Menge her etwa die Hälfte aus dem Westen, der Rest aus der DDR."
So hatten die staatlichen Beschaffungsorgane laut einer Aktennotiz der Stasi-Hauptabteilung XVIII/3 aus dem Jahr 1989 unter anderem "unter strengsten Embargo stehende Ätz- und Sputtertechnik sowie Kristallziehanlagen" über Mitarbeiter von Leybold-Heraeus besorgt. Auch bei Plasma-Ätzern, Hochstromimplantern, Diffusions- und Beschichtungsanlagen war die DDR-Mikroelektronik damals auf Importe aus dem "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" (NSW) angewiesen. Dabei bezahlten sie oft das Zwei- bis Dreifache der marktüblichen Preise, um den westlichen Zwischenhändlern die Embargo-Verstöße zu versüßen.
Repro: hw
Ursprünglich war all dies anders geplant gewesen: Eine "Grundkonzeption" für den VEB Elektromat Dresden aus dem Jahr 1987 hatte vorgesehen, dass je nur ein Drittel der Produktionsausrüstungen für das Mega-Projekt aus der DDR, aus der Sowjetunion und aus dem NSW kommen sollte. "Wir hatten gedacht, dass die SU durch ihre Verteidigungsindustrie recht gut imstande wäre, uns beispielsweise die Ionenimplanter, Sputter- und CVD-Anlagen zu liefern", erzählt der Projektleiter. Tatsächlich aber lieferten die russischen "Freunde" die vereinbarten Anlagen entweder stark verspätet, mit vielen Mängeln oder gar nicht. "Es ist nie zum Masseneinsatz der Plasmaätzanlagen aus der SU, die wir bis zum Erbrechen erprobt haben, gekommen", berichtete nach der Wende ZMD-Technikchef Landgraf-Dietz. "Daraufhin wurde in Zeiss-Regie begonnen, die Eigenproduktion von Trockenätzern und Ionenimplantern vorzubereiten." Und diese Eigenentwicklungen dauerten natürlich.
Angesichts dieses Fiaskos ließen die ZMD-Entwicklungsleiter immer öfter ihre direkten Kontakte zum Elektronik-Staatssekretär Karl Nendel, zu Stasi-Offizieren und zu Carl-Zeiss-Generaldirektor Wolfgang Biermann spielen, um die benötigten Anlagen für den weiteren Entwicklungsfortschritt doch noch zu bekommen - gerne auch aus dem Westen. Auch in den regelmäßigen Projektbesprechungen mit Kombinatsleitung und Ministerium brachten sie diese Wünsche vor, zudem hatte zumindest Junghans auch Direkt-Kanäle zu Nendel. Der als "Einpeitscher" bekannte Staatssekretär löste dann eine Beschaffungs-Anweisung an Schalck-Goldkowski aus, der sich auch um die Finanzierung zu kümmern hatte - wobei bei größeren Projekten auch SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag eingeschaltet wurde.
"Wir haben das vorgebracht und mit ein bisschen Glück stand dann plötzlich der gewünschte Computer oder die gewünschte Anlage bei uns im ZMD-Rechenzentrum beziehungsweise im Reinraum - wobei vorher alle Markenzeichen, Etiketten und Hinweise entfernt worden waren, woher das kam", erzählt Projektleiter Junghans. Diese Ausrüstungen waren oft über mehrere Länder mit falschen Zollpapieren in die DDR geschleust worden, um den Pfad vom Hersteller bis zum Ostblock zu verschleiern. Der Einbau in Dresden geschah anscheinend oft nachts durch einen sehr kleinen Kreis von Geheimnisträgern mit der Freigabe "Vertrauliche Verschlusssache" (VS), um die Konspiration zu wahren.
Ein anderer Teil der Anlagen, die eigentlich die SU hatte liefern sollen, wurde nun eben durch die DDR nachträglich entwickelt. Zum Beispiel lieferte das Kombinat Carl Zeiss Jena, zu dem das ZMD seit 1986 gehörte, Elektronenstrahlanlagen für die Maskenproduktion. "Mit dieser Eigenentwicklung konnte die DDR sogar weltweit mithalten", meint Junghans. Auch die Belichtungsanlagen - "Automatische Überdeckungsrepeater (AÜR)" genannt beziehungsweise Lithografie-Anlagen - kamen vom Optikkombinat Carl Zeiss.
Auch Elektronenstrahl-Schneider für Leiterbahnen baute die DDR schließlich selbst. Hintergrund: Eine gewisse Zell-Ausschussquote in Speicherchips ist normal. Daher bringen die Anlagen von vornherein als "Redundanz" etwas mehr Bauelemente auf die Wafer auf als eigentlich nötig. Nach der Endkontrolle isolierten damals in internationalen Chipfabriken spezielle Laser die defekten Zellen, damit der Kunde dennoch einen vollständigen und funktionierenden Megabit-Chip bekommt. Weil diese Laser aber in der DDR nicht erhältlich waren, setzte Zeiss statt dessen auf Elektronenstrahlen. Dies hatte Auswirkungen auf die Konstruktion des Chips und den technologischen Prozess hatte. "Auch das ist ein Beispiel, dass bei unserer Entwicklung einiges anders lief als im Westen", erinnert sich Junghans.
Allerdings hing an den recht kurzfristig eingetakteten Eigenentwicklungen anspruchsvoller Spezialausrüstungen oft ein ganzer Rattenschwanz an ebenfalls bis dahin nicht verfügbaren Zulieferungen. Ein Beispiel: Der ZMD-Schwesterbetrieb Elektromat Dresden scheiterte zunächst an der Konstruktion einer bestimmten Ätz-Anlage für die Chipproduktion, weil es in der DDR nicht die dafür nötigen Turbomolekularpumpen gab. Für solche Pumpen gab es damals nur zwei Hersteller weltweit, auf deren damals letztlich jeder angewiesen war, der Megabitchips produzieren wollen. Neben dem japanischen Anbieter ULVAC Co. war dies die westdeutsche Firma "Leybold-Heraeus". Die wollte jedoch wegen des US-Embargos keine solchen Pumpen an den Ostblock liefern. "Der Kompromiss war am Ende, dass wir Ingenieure rüber geschickt haben und die haben dann dort eine Komplett-Anlage unter Aufsicht und Mitwirkung von Leybold-Heraeus-Ingenieuren unsere gewünschte Komplettanlage konstruiert." Hier kam es insofern zu einer ost-westdeutschen Ko-Entwicklung. Die Ätz-Anlage wurde dann als Maschine für die Spielzeugproduktion getarnt und an das DDR-Kombinat Spielwaren Sonneberg geliefert - um von dort aus ins ZMD geschleust zu werden, berichtet Junghans.
Abb.: Hirndorf, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz
Und so näherte sich peu à peu der ostdeutsche-Eigenanteil an den benötigten Fertigungs-Anlagen der 50-Prozent-Marke, während der geplante sowjetische Anteil zu Gunsten von Westtechnik dahinschmolz. Mit dieser Eigenquote lag in der DDR übrigens weit über den in Europa üblichen Werten: Wenn damals oder heute eine größere Chipfabrik in Deutschland gebaut wurde oder wird, dann stammen die meisten Ausrüstungen aus Japan, den USA und den Niederlanden. In der Regel kommen heute immerhin einige Teilkomponenten von Zeiss, Jenoptik und anderen deutschen Technologieunternehmen - aber kaum komplette Chipfertigungs-Anlagen.
Diese vielen ungeplanten Eigenentwicklungen trieben die Projektkosten immer weiter in die Höhe. Allerdings hatten diese selbstgebauten ostdeutschen Ausrüstungen den Vorteil, dass sie später auch für die geplante Massenproduktion des Megabit-Speichers in Erfurt zur Verfügung gestanden hätten - wozu es wegen der Wende dann aber ohnehin nie kam. Denn auch dieser Punkt gehört zur Mega-Geschichte: Das ZMD brachte mit einem Mix aus NSW- und DDR-Anlagen zwar eine Pilotproduktion zustande. Vor einem Transfer in die Massenfertigung im Kombinat Mikroelektronik Erfurt hätten Zeiss & Co. allerdings die Westanlagen nachentwickeln müssen, denn die hätten die Stasi und das DDR-Elektroministerium keineswegs in ausreichenden Mengen unter dem Embargo-Radar beschaffen können, um eine ganze Großfabrik auszurüsten.
Foto: Heiko Weckbrodt
Nach der Präsentation des Megabit-Schaltkreise vor Erich Honecker (SED) im Jahr 1988 hatten die "Beschaffer" nämlich wachsende Probleme, ihre geheimen Lieferlinien noch aufrecht zu erhalten: Die US-Regierung verschärfte die Embargo-Bestimmungen, die CIA und andere Geheimdienste verstärkten die Überwachungsdichte und sprengten immer mehr Beschaffungsketten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Zudem übte der Siemens-Konzern, der 1988 selbst von den Amerikanern wegen des DDR-Megabitchips in die Mangel genommen worden war, nun starken Druck auf seine Geschäftspartner aus, der DDR bloß keine Embargo-Technik zu verkaufen. Ähnliches galt für die Japaner, die nach einer aufgeflogenen Spionage-Affäre ebenfalls von der Reagan-Administration massiv unter Druck gesetzt wurden.
Für mikroelektronische Schaltkreise brauchen Chipfabriken vor allem hochreines Silizium, aber auch eine Reihe von hochreinen Metallen, Photolacken, Prozessgase und andere Spezialmaterialien. Auch hier mussten die Entwickler teils ostdeutsche Sonderlösungen finden. Zum Beispiel nötigten die SED-Wirtschaftslenker und das Zeiss-Kombinat die Kollegen vom Orwo-Kombinat regelrecht, spezielle lichtempfindliche Lacke zu entwickeln und zu produzieren. Hintergrund: Um Chips herzustellen, werden die am Computer entworfenen Schaltplanentwürfe per Elektronenstrahl in spezielle Masken geschnitten. In der Chipfabrik projizieren dann die Belichter ("Lithografie") die Muster auf die Siliziumscheiben ("Wafer"), die mit Photolacken beschichtet sind. An den Stellen, auf die das Licht trifft, härtet der Lack aus. Dadurch ist dann für die nachfolgenden Prozessschritte klar, wo die Leiterbahnen, Transistoren und anderen Bauelemente auf dem Wafer platziert werden müssen. Allerdings brauchte das ZMD für seine Pilotproduktion nur etwa zehn Liter Speziallack pro Jahr. Was heißt: Allein für diesen einen Abnehmer lohnten sich Entwicklung und Produktion für für den VEB Filmfabrik Wolfen eigentlich gar nicht. Aber weil das ZMD eben wegen der Embargo-Politik der USA eben nicht bei den einschlägigen internationalen Anbietern einkaufen konnten, wurden die Orwo-Leute in der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR eben zur Photolack-Produktion regelrecht genötigt. Auch dies ist also dem DDR-Eigenanteil beim Megabitprojekt zuzurechnen.
Abb.: Siltronic-Archiv
Ein weiteres Beispiel: Den Dresdner Ingenieuren war durch ihre "Fremdmusteranalyse" recht rasch klar geworden, dass Toshiba die Elektroden für die Transistor-Schalttore ("Gate") im japanischen Megabit-Chip mit einer Verbindung aus hochreinem Titan (99,9999%) und Silizium (Titansilicid) erzeugt hatten. "Der VEB Spurenmetalle Freiberg war der einige Betrieb in der DDR, der für solche Zulieferungen in Frage kam", erinnert sich Bernd Junghans. Zwar hätten Nendel & Co. auch hier wieder quasimilitärisch reagieren und die Produktion in Freiberg befehlen können - doch das hätte wenig genützt: "Die Freiberger haben mir gesagt, dass sie mit der Titanaufbereitung keine Erfahrung haben und ich daher vielleicht in fünf Jahren wiederkommen könne, um mir mein Reinst-Titan abzuholen", erzählt Junghans. "Aber wir haben gerade nach jahrelanger Entwicklung ein Verfahren für hochreines Molybdän-Silicid entwickelt, aus dem wir hochreines Molybdänsilicid für Euch machen könnten, hieß es - und das haben wir dann genommen." Das machte freilich auch wieder DDR-spezifische Änderungen an den Schaltkreis-Entwürfen und -Fertigungsketten nötig.
Obwohl der Aufbau von Speicherzellen im Grundsatz damals auch den DDR-Ingenieuren natürlich bekannt war, bedurfte es dennoch konkreter Schaltkreis-Entwürfe. Und die wichen - auch wegen der erwähnten Materialfragen - ebenfalls in einigen Punkten von den internationalen Vorbildern ab.
Die Entwurfs-Software lag glücklicherweise bereits vor, als das Megabit-Projekt startete: Von 1982 bis 1986 hatten nämlich mehrere DDR-Partner ein Paket aus Design-, Layout- und Simulationsprogrammen für den Chipentwurf geschrieben. An diesem "Durchgängigen rechnergestützten Entwurfssystem" (DES) für Robotron-Rechner wirkten neben dem damaligen ZFTM (so hieß es ZMD von 1980 bis 1986/87) auch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt, Robotron, das Akademie-Institut für Mathematik Berlin, das VEB Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) sowie die Technischen Universitäten Dresden und Ilmenau mit.
Foto: Heiko Weckbrodt
Die Software eignete sich auch für das Megabit-Projekt. Aber bald taten sich praktische Probleme auf: "Wir haben das anfangs auf sowjetischen Rechnern laufen lassen", berichtet Megabit-Chefdesigner Jens Knobloch. "Aber wir haben rasch gemerkt, dass wir damit viel zu lange brauchen würden." Deshalb schalteten er und Junghans wieder ihre Geheimwaffe Nendel ein und quengelten, dass sie Westcomputer brauchen. Der Staatssekretär schickte Schalck in die Spur. Und das wirkte: "Ein paar Monate später standen dann plötzlich diese zwei VAX-Rechner bei uns im Rechenzentrum", erinnert sich Knobloch. Da die DDR von ihrem selbstgemachten Entwurfsprogramm natürlich auch den Quellcode besaßen, lief die DES-Software dann auch recht bald auf den konspirativ beschafften VAX-Rechnern des US-Herstellers DEC. Dies beschleunigte die Entwurfsarbeit am neuen Speicherchip wohl deutlich.
Foto: privat
Als diese Dresdner Entwürfe für den Megabit-Chip bereits recht fortgeschritten waren, stand dann plötzlich bei Knobloch im Büro - vermutet er zumindest. Denn die Herren stellten sich nicht weiter vor, sondern boten dem Chefdesigner plötzlich die Entwürfe für den Siemens-Megabitchip und einen vollständigen Maskensatz an. "Das war etwa Ende 1987", erinnert sich Knobloch. "Aber da was unserer Entwurf schon so gut wie fertig." Das sei ihm damals zwar als Arroganz ausgelegt worden - aber er habe das Angebot der geheimnisvollen Boten damals abgelehnt, schon allein, weil Entwurf, Materialien, Masken und Anlagen bei einer konkreten Schaltkreiskette eng miteinander verflochten sind. Später habe wohl das Kombinat Mikroelektronik in Erfurt mit diesem geheimdienstlich beschafften Maskensatz eine Abkürzung zur Megabit-Produktion versucht - und sei "kläglich gescheitert", erzählt Knobloch. "Die Leute von der Stasi haben vermutlich gedacht, wir brauchen nur die geklauten Masken in die Maschinen einlegen und die Massenproduktion geht los." Aber der Maskensatz habe vorne und hinten nicht zu den DDR-Anlagen, -Prozessen und -Materialien gepasst.
Abb.: Brüggmann/Bundesarchiv/Wikipedia, CC3-Lizenz
Hintergrund hier dürften die in der DDR gar nicht so seltenen Eifersüchteleien und Parallelstrukturen der vielen Partei- und Staatsstrukturen gewesen sein: Der Erfurter Generaldirektor Heinz Wedler (SED) war sauer, weil Zeiss-General Wolfgang Biermann ihn beim Megabit-Projekt ausgebootet und auch noch seine einstigen Töchterunternehmen ZMD und Elektromat in Dresden an sich gerissen hatte. So wollte er wohl einen Megabitspeicher noch vor Biermann massenhaft in Erfurt produzierten - mit den Masken, die die Stasi (vermutlich parallel und unabhängig von der Schalck-Beschaffungslinie) bei Siemens geklaut hatte. Solche Konstellationen konnten immer wieder mal auftreten, weil es in der DDR mehrere Akteure gab, die auf die eine oder andere Linie die Technologie-Embargos des Westens unterliefen: Dazu gehörte vor allem Schalck-Golodkowski, der in Personalunion eine DDR-abhängige Firmengruppe koordinierte, Staatssekretär im Außenministerium und Stasi-Oberst war. Daneben beschäftigten sich aber zum Beispiel auch die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) und das Elektroministerium mit "Beschaffungen". Außerdem war oft die Hauptabteilung XVIII der Stasi involviert.
Für die Pilotproduktion des Megabit-Schaltkreises war ein neuer Reinraum der Reinheitsklasse 1 notwendig. Den hat zu großen Teilen der VEB Luft- und Kältetechnik Dresden entwickelt und für das ZMD gebaut. Heute wird diese - inzwischen modernisierte - Reinraum übrigens immer noch genutzt, nämlich von Fraunhofer.
Festzuhalten ist: Die DDR hätte den Megabit-Schaltkreis höchstwahrscheinlich nicht bis 1988 ohne importierte Anlagen und Geräte - insbesondere aus den USA, der BRD und Japan - entwickeln und in Kleinserie bauen können. Die geplante Massenproduktion in Erfurt hätte noch größere Probleme aufgeworfen. Die wären zwar lösbar gewesen, hätten den Transfer in die Großfertigung und die kommerzielle Verwertung aber vermutlich gegenüber den ursprünglichen Plänen um viele Jahre verzögert.
Anderseits kann aber als gesichert gelten, dass der ostdeutsche Megabit-Chip zu wesentlichen Teilen auch eine DDR-Entwicklung war. Auf jeden Fall auszuschließen ist, dass der Schaltkreis selbst, die dafür unabdingbaren Prozesstechnologien und Fertigungslinien 100-prozentig von Siemens geklont oder geklaut wurden, wie gelegentlich angenommen. Ohnehin haben sich die Entwickler im ZMD stärker am Pionier "Toshiba" als an Siemens orientiert. Im ZMD selbst hat das Projekt viel Expertise gebunden: Zeitweise waren dort an die 350 Ingenieure, Wissenschaftler und andere Fachkräfte an der Megabit-Entwicklung beteiligt.
Abb.: Infineon
Weil allerdings die Arbeitsteilung im Ostblock (RGW-Raum) auch hier wieder mal nicht funktionierte, verlegte sich die DDR auf zahlreiche Eigenentwicklungen, die noch mehr Personal. Devisen und andere Ressourcen gebunden haben. Vor allem beim Ausrüstungspark lag die Eigenentwicklungsquote bei diesem Projekt bei mindestens 33 Prozent, wahrscheinlich aber eher 50 Prozent, war also auch im internationalen Vergleich sehr hoch. Wer heute eine moderne Großfabrik für Halbleiter außerhalb der USA oder Japans baut, muss den größten Teil seines Anlagenparks importieren und dennoch viele Schritte wie die Endmontage außerdem noch auslagern. Angesichts der extrem komplexen Produktionsketten in der Halbleiterbranche erscheint die Wertschöpfungstiefe in der ostdeutschen Mikroelektronik im Nachhinein gesehen sogar extrem lang.
Zu DDR-Zeiten hat sich der immense Entwicklungsaufwand für diesen Speicherchip nicht mehr finanziell oder volkswirtschaftlich ausgezahlt. Und da der Start einer Massenproduktion mit vernünftiger Ausbeute in einer noch zu bauenden Chipfabrik in Erfurt wohl noch Jahre gedauert hätte und der Preisverfall in der Chipindustrie anderseits groß ist, darf man zumindest leise bezweifeln, ob die erhofften Erlöse und Mehrwert-Produkte im Inland und im sozialistischen Ausland überhaupt in überschaubarer Zeit hätten realisiert werden können - selbst wenn die DDR fortbestanden hätte.
Zu recht verweisen Junghans und Knobloch aber auf die Zwänge in der abgeschotteten DDR-Ökonomie: "Das war kein Prestigeprojekt, wie oft gesagt, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit für die ostdeutschen Wirtschaft", argumentiert er: Wenn beispielsweise die ostdeutschen Maschinenbauer wettbewerbsfähig im Westen bleiben wollten, brauchten sie moderne Computersteuerungen mit schnelleren Prozessoren und mehr Speicher. Und auch wenn DDR-PCs zu rückständig für den Westexport waren, so exportierte doch das DDR-Computerkombinat Robotron seine Rechentechnik recht erfolgreich und profitabel in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock - die Robotroner hatten daher durchaus gesteigertes Interesse an den Megabit-Schaltkreisen. Ob die hochintegrierten Speicher in anderen DDR-Betrieben wirklich dringend gebraucht wurden, sei einmal dahingestellt.
Außerdem sei das Megabit-Vorgaben auch als eine Art technologisches Sprungbrett gedacht gewesen, argumentiert Projektleiter Junghans: "Wer erst mal eine neue Fertigungstechnologie mit den schaltungsmäßig relativ einfach geschalteten Speicherchips beherrscht, kann damit im nächsten Schritt auch bessere Prozessoren und andere komplexe Schaltkreise bauen." Aus dem damals im ZMD und in den Zulieferbetrieben akkumulierten Expertise sei der heutige Mikroelektronik-Standort "Silicon Saxony" hervorgegangen. Insofern führe eine Entwicklungslinie vom DDR-Megabit-Projekt zur Ansiedlung von AMD und Siemens nach der Wende und zum heutigen Hightech-Cluster in Sachsen und Thüringen.
Quelle: Oiger