Schockierend - für den Westen

Redakteurin im Ressort Gesellschaft bei FAZ.NET.
-Aktualisiert am 02.10.2020-08:56
Frau Ghodsee, Sie haben das Buch "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben" geschrieben. Was hat etwas so Privates wie Sex mit Politik zu tun?
Sehr viel. Wir leben in diesem Missverständnis, dass unser Privatleben nichts mit der politischen Ökonomie zu tun hat. Und dennoch kennen wir folgendes Szenario: Wenn wir geschafft von der Arbeit nach Hause kommen oder gestresst sind, weil wir unsere Rechnungen nicht bezahlen können oder weil wir Angst haben, unsere Jobs zu verlieren oder - wie die Corona-Pandemie uns gerade zeigt - weil wir neben dem Homeoffice noch die Kinderbetreuung zuhause organisieren müssen, dann sind wir am Abend, wenn unser Partner mit uns etwas Spaß haben will, viel zu müde dafür. In Gesellschaften mit solch einer hohen Prekarität wie der unseren gibt es diese psychologische Überlastung. Das ist ein Grund. Der zweite ist die derzeitige Ausrichtung des Kapitalismus auf Social Media, diese ganze Aufmerksamkeitsökonomie, in der verschiedene große Konzerne um unsere Aufmerksamkeit wetteifern. Intimität und Emotionen werden gerade so stark kommerzialisiert wie noch nie zuvor. Und besonders bei jungen Frauen sehe ich, dass Zuneigung, Aufmerksamkeit, Gefühle zu einem Gut werden, mit dem sie in dieser kapitalistischen Wirtschaft gegen Lohn handeln können. All das beeinflusst die Qualität unserer persönlichen Beziehungen.
Sie haben sich in Ihrer Forschung mit der sozialistischen Gesellschaft beschäftigt. Was haben die anders gemacht?
Zunächst muss ich kurz klarstellen, dass es nicht die eine sozialistische Gesellschaft gab, das sah überall anders aus. Die DDR oder die Tschechoslowakei und sogar ironischerweise das katholische Polen waren wesentlich progressiver als beispielsweise die Sowjetunion. Generell kann man aber feststellen, dass es in zwei Punkten eine Stärkung der Frauenrechte gab: zum einen die Mobilisierung der Frauen als Arbeitskräfte, was für den Aufbau der Staaten schlicht notwendig war, den Frauen aber erlaubt hat, autonom zu agieren, und ihnen Selbstbewusstsein gab. Das bestätigte selbst Angela Merkel, als sie sagte, dass die DDR sich zwar nicht um die Emanzipation scherte, aber doch die Bedingungen für Gleichberechtigung geschaffen hat. Dieser Punkt ist nicht zu unterschätzen,

Bild: Picture-Alliance
Eine Studie gab Ihrem Buch den Titel. Es gab in der DDR Untersuchungen zum weiblichen Orgasmus.
Sogar mehrere. In meinem Buch referiere ich unter anderem die Studie von Kurt Starke aus dem Jahr 1984, die sich mit Sex und Liebe bei jungen Ostdeutschen unter 30 befasste. Starke und seine Kollegen fanden heraus, dass in der DDR 82 Prozent der Frauen Sex befriedigend fanden. Im Westen gaben nur 52 Prozent der Frauen an, nach dem Sex glücklich zu sein. Das sind 30 Prozentpunkte Unterschied. Natürlich ist es schwierig, das zu messen, man muss sich dabei auf die Angaben der Befragten verlassen. Aber die Zahlen waren schockierend - für den Westen.
Die Kulturhistorikerin Ingrid Sharp ordnet diese Studien auch der Ost- West-Konkurrenz zu, die Orgasmusfähigkeit hat demnach im Kalten Krieg die nukleare Sprengkraft ersetzt.
Die Studie von Starke wurde fünf Jahre später, also nach der Wende 1989, wiederholt und kam zu fast identischen Ergebnissen. Auf diese Ergebnisse bezieht sich Sharps Ausspruch vom "Orgasmuskrieg". Im Osten fühlte man sich, als wenn man gerade alles im Prozess der Wiedervereinigung verlieren würde, also prägte man das Narrativ vom besseren Sex.
Welche Gründe haben Sie in Ihren Studien für die große sexuelle Zufriedenheit der ostdeutschen Frauen gefunden?
Das lässt sich auf Siegfried Schnabl zurückführen, den Autor von "Mann und Frau intim", einem Bestseller der Sexualaufklärung in der DDR. Die ersten Seiten handeln nur vom weiblichen Orgasmus, inklusive Zahlen über die Zufriedenheit von Männern und Frauen beim Sex, über die Lücke beim Erreichen des Orgasmus. Schnabl beschäftigte sich mit der Frage, warum es sie überhaupt gab, und kam zu dem Schluss, dass es auch damit zusammenhing, dass Männer nicht wussten, was sie taten, dass sie keine Ahnung von der weiblichen Anatomie hatten. In dem Buch findet man also eine anatomisch korrekte, detaillierte Darstellung der Geschlechtsorgane und eine Anleitung, wie die Frau beim Sex mehr Lust empfinden kann.

Darin gibt es auch respektvolle Darstellungen sexueller Stellungen.
Es kam 1969 heraus und war unfassbar progressiv für seine Zeit. Im gesamten sozialistischen Block wurde es in Übersetzungen verkauft. Ich fand bemerkenswert, wie schon die ersten Seiten die Prämisse haben, dass die Lustfähigkeit der Frau auch den Stand einer zivilisierten Gesellschaft reflektiert. Wenn Menschen in ihren Beziehungen glücklich sind, und das hat ja auch viel mit dem Sex zu tun, dann ist das am Ende wichtiger, als eine Jeans oder ein Auto zu besitzen. Guter Sex ist die ultimative Kritik am Konsum und am Materialismus.
Unterschiede lassen sich auch an der FKK erkennen. Warum war der Umgang mit Nacktheit im Osten natürlicher?
Im Westen wurden die Bilder von weiblichen Körpern durchweg genutzt, um etwas zu verkaufen. Wenn man Haut sah, war das im Zusammenhang mit Konsum, übersexualisiert und überdeterminiert.
Werbung erzieht junge Frauen dazu, ihren Körper zu optimieren?
In den Vereinigten Staaten teilen uns die Bilder kommerzialisierter Frauenkörper permanent mit, dass unsere Körper nicht perfekt sind. Es gibt vaginale Schönheitsoperationen, damit die Genitalien mehr aussehen wie in Pornoheften. Wir haben unrealistische Vorstellungen wegen retuschierter Hochglanzfrauenkörper. Auch das hat Auswirkungen darauf, wie gut der Sex ist.
Ihre Faszination für den Sozialismus begann schon zu Schulzeiten, das Ende der DDR haben Sie auf dem Alexanderplatz in Berlin erlebt. Wie kam es dazu?
Schuld daran ist die "Model United Nations", ein Debattierwettbewerb, bei dem Schüler die Vereinten Nationen nachstellen. Die einzige Großmacht, die zu meiner Schulzeit realistischerweise von einer Frau vertreten werden konnte, war die Sowjetunion, also wurde ich Expertin für den Ostblock. Als Kind der Reagan-Ara dachte ich lange, die Welt würde im Atomkrieg enden. Als diese Bedrohung plötzlich weg war, wollte ich unbedingt nach Osteuropa. Den Sommer 1990 reiste ich durch Jugoslawien, Bulgarien, Ungarn, Rumänien, die Tschechoslowakei und landete am Ende in der DDR, in der Nacht vor der Wiedervereinigung. Ich erinnere mich an all die Hoffnung.