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Aber trauen wir uns das überhaupt noch?
FOCUS-Online-Gastautor Wolfgang Bosbach
Wurde in Deutschland die Meinungsfreiheit abgeschafft? Natürlich NICHT! Art. 5 GG ist nach wie vor in Kraft und Bestrebungen des Bundestages oder des Bundesrates, diese Norm abzuschaffen oder auch nur zu relativieren, sind noch nicht einmal in Spurenelementen vorhanden.
Zwar garantiert unsere Verfassung (auch) die Meinungsfreiheit nicht schrankenlos, aber an dieser Stelle geht es ja auch ganz ausdrücklich nicht um die strafrechtliche Relevanz von Meinungsäußerungen, sondern um die gesellschaftliche und was sich in der Gesellschaft geändert hat, dass immer weniger Menschen glauben, die eigene Meinung frei äußern zu können.
Natürlich "darf" auch 2021 die eigene Meinung frei geäußert werden - und von diesem Recht wird ja auch millionenfach regen Gebrauch gemacht, Tag für Tag -, sofern mit dem Wörtchen "dürfen" die fehlende Sorge vor rechtlichen oder gar strafrechtlichen Konsequenzen gemeint ist.
Komplizierter wird es allerdings dann, wenn es nicht um rechtliche, sondern um
Maßlos übertrieben? Dann fragen Sie mal den ehemals für Sky tätigen Sportreporter Jörg Dahlmann ("Es wäre sein erster Treffer für 96 gewesen. Den letzten hat er im Land der Sushis geschossen"). Gemeint war Sei Muroya, Abwehrspieler von Hannover 96. Noch so eben akzeptabel wäre wohl die Formulierung "DES Sushi" gewesen, aber "der" ginge angeblich gar nicht. Es kam was, was nicht kommen musste, aber zu erwarten war: Das ist Rassismus!
Das gilt auch für RTL-Moderatorin Katja Burkard, die ebenfalls Menschen nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder religiöser Überzeugung beurteilt, sondern nach deren Charakter und Verhalten! Sie bezeichnete die vielen Umzüge einer Frau als "Zigeunerleben", da ließ natürlich der Vorwurf "Rassismus-Skandal" nicht lange auf sich warten. Aber selbst nachdem sich Katja Burkard glaubwürdig und formvollendet entschuldigte, hielt die Kritik an: "Das war nichts, Frau Burkard, aus der Nummer kommen Sie nicht mehr raus!" Übersetzt: Wir haben Dich erwischt, wir machen Dich fertig! Eine unpassende, unsensible Formulierung zweifellos, aber muss man jemanden deshalb öffentlich fertigmachen?
Immer häufiger kommt es auch vor, dass Sachdebatten schon fast reflexartig auf die persönliche Ebene verlagert werden, wenn dem Gegenüber eine bestimmte Meinung schlicht nicht passt. Beim Thema Energiewende, CO2-Vermeidung, Kernenergie verlaufen Diskussion sehr häufig so:
"Wir müssen auch bei der Energieerzeugung sofort und massiv CO2 einsparen!"
"Aber wäre es vielleicht dann nicht besser gewesen, zuerst aus der Kohleverstromung auszusteigen und erst dann aus der Kernenergie?"
"Aha. Ich sehe schon. Sie sind Atomlobbyist!"
Spätestens dann, wenn dieser Begriff fällt, ist der Fragesteller moralisch komplett diskreditiert. Selbst wenn er nicht für einen Energieversorger arbeitet, sondern für die Caritas.
Ähnlich verlaufen die Debatten beim Thema "Migration und Integration".
Mittlerweile werden die Dinge allerdings immer komplizierter: Irgendwelche schrägen Kommentare über "alte weiße Männer" sind nämlich völlig ok. Da klopfen sich selbst die sprachlich und kulturell Hochsensiblen laut jauchzend auf die Oberschenkel.
Allerdings bin ich von Hause aus relativ entspannt. Wenn mir jemand sagt, "Sie sind doch auch so ein alter weißer Mann!", dann texte ich nicht die bundesdeutschen Antidiskriminierungsstellen zu, sondern antworte mit ergreifender Schlichtheit: Stimmt. "Knapp 70, weiß, Mann - alles ok."
Quelle: focus.de