Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
In "Heimarbeit" hatten die Polizisten zum Stichtag 3. Oktober 1990 die Hoheitszeichen der DDR von ihren Mützen und den Schriftzug "Volkspolizei" von ihren Jacken entfernen müssen. Jetzt herrschte ein heilloses Durcheinander. Nach Feierabend paukten sie die neuen Gesetze, die von nun an Grundlage ihrer polizeilichen Arbeit waren: "Was darf ich als Polizist, was darf ich nicht?". Sie mussten eigene Überzeugungen ablegen, aber auch gegen Vorurteile kämpfen.
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Über allen schwebte zudem das Damoklesschwert der Entlassung, denn die ehemaligen Volkspolizisten wurden auf eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit überprüft. Bevor sie auf das Grundgesetz vereidigt wurden wollte man wissen, ob sie sich schuldig gemacht hatten in den Jahren vor 1990. Hatten sie Freunde, Kollegen, Nachbarn bespitzelt, Gefangene misshandelt, sich in der Vergangenheit so verhalten, dass eine Übernahme in den Staatsdienst eines demokratischen Landes ausgeschlossen war?
Der Zeitdruck war gewaltig, die Bevölkerung extrem verunsichert. Brennpunkte der Kriminalität in Berlin, Leipzig, Magdeburg und Rostock-Lichtenhagen machten deutlich, wie rechtsfreie Räume genutzt wurden.
Obwohl die Volkspolizei eine der entscheidenden Stützen des DDR-Regimes war, ist ihr Weg in das vereinte Deutschland von der Öffentlichkeit bisher erstaunlich wenig beachtet worden.
Für die Dokumentation "Was wurde aus der Volkspolizei?" haben die Autoren Jan N. Lorenzen und Marianne Harr ehemalige Volkspolizisten zu ihren Erfahrungen, Sorgen und Ängsten in den Jahren nach 1990 befragt. Parallel dazu kommen Bürgerrechtler, Politiker, Historiker und Journalisten zu Wort, die diesen Prozess kritisch begleitet haben. Entstanden ist ein Film, der das Bild einer zutiefst verunsicherten und dennoch für die Sicherheit zuständigen Organisation nachzeichnet und vom widersprüchlichen Anpassungsprozess an die neue Zeit erzählt.
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Stand: 27. November 2018,
1990 befand sich die Volkspolizei in einer "Identitätskrise". Die neue Lage und der Autoritätsverlust hatten sie zutiefst verunsichert. Ihre Aufgaben nahmen die einstigen "Büttel der SED" nur noch oberflächlich wahr. Eine Art rechtsfreier Raum entstand - der wilde Osten.
Berlin, Alexanderplatz, im Sommer 1990. Auf dem weitläufigen Areal im Zentrum der Hauptstadt der DDR breiteten Hehler und Schwarzhändler Tag für Tag ihre Waren aus - Teppiche, Unterhaltungselektronik, Jeans, Autoteile; Devisenschieber wechselten in aller Ruhe 350 Ostmark in 100 D-Mark um und Vietnamesen verkauften stangenweise unverzollte Zigaretten. Es herrschte stets ein buntes Treiben. Und obgleich ständig gegen mindestens ein halbes Dutzend DDR-Gesetze verstoßen wurde, fehlte von den einst allgegenwärtigen und gestrengen Volkspolizisten jede Spur.
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Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen - dies schien das Motto der Volkspolizei in dieser Zeit gewesen zu sein. Denn Schwarzmärkte wie auf dem Alexanderplatz hatten sich überall in der untergehenden DDR fest etabliert. Doch nicht nur an "Verstößen gegen das Devisengesetz", an Schwarzhandel und Hehlerei sahen die Ordnungshüter geflissentlich vorbei. Raser und Drängler hatten auf den ostdeutschen Straßen weitestgehend freie Fahrt und Neonazis konnten in aller Öffentlichkeit die Arme zum Hitlergruß ausstrecken, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Und als etwa in Berlin-Friedrichshain ein Schlägertrupp in Häuser einbrach und die Bewohner bedrohte, ließ "die alarmierte Polizei", wie die "Berliner Zeitung" empört berichtete, "tapfer die Telefone klingeln, während die berauschten Randalierer" auch noch "umliegende Häuser zerlegten". Das war Alltag überall in der Republik.
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An sich hatte die Volkspolizei noch alle ihre einstigen Befugnisse und die Gesetze, um gegen Rechtsbrecher vorzugehen, waren keineswegs außer Kraft gesetzt. Doch "die Ereignisse um den 7. und 8. Oktober 1989", als die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte gegen friedliche Demonstranten in Leipzig und Berlin vorgegangen war, "sitzen noch tief bei den Polizisten", entschuldigte der Chef der Polizeigewerkschaft, Hauptwachtmeister Guido Grützbach, im Herbst 1990 die Reserviertheit seiner Kollegen. Die Polizisten fürchteten sich, notfalls auch mit Gewalt gegen Kriminelle vorzugehen, weil sie Angst hätten, dass "die Gewalt wieder auf sie zurückschlägt", mutmaßte Grützbach. Und so würden die Ordnungshüter in brenzligen Situationen halt lieber gemeinschaftlich wegschauen.
In dieser Situation kam auch der damalige Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, nicht umhin, generell eine "Identitätskrise der Volkspolizei" zu konstatieren. Da die Volkspolizisten in der Vergangenheit des Öfteren für "sachfremde Aufgaben eingesetzt" wurden, seien sie nun verunsichert. Schleunigst, so Diestel, müsste den Ordnungshütern "das notwendige Selbstbewusstsein" zurückgegeben werden. Dies gestaltete sich aber durchaus schwierig, weil die Volkspolizei andererseits in weiten Teilen der Bevölkerung ihre Legitimität und Autorität eingebüßt hatte. Sie galt schlechthin als der alte "Büttel der SED". Furcht hatte vor den einst Respekt einflößenden Polizisten, die jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst waren, auch keiner mehr, zumal auch Richter und Staatsanwälte ihre Arbeit im wesentlichen eingestellt hatten und nur noch der Dinge harrten, die da kommen mochten.
Nach der Wende herrschte auf den ostdeutschen Straßen Narrenfreiheit: Jeder fuhr, wie er wollte - Gesetze waren außer Kraft, und die Polizei sah hilflos zu. So war die dahinsiechende Republik tatsächlich eine Art rechtsfreier Raum, in der sich auch Bürger aus dem Westen des Landes reichlich tummelten. "Raser aus Westberlin haben den Berliner Ring als neues Ausfahrgebiet entdeckt", titelte etwa die "Bild"-Zeitung 1990. Zwar zeigten die Volkspolizisten auf den Autobahnen durchaus Präsenz, aber schrecken konnten sie die Westdeutschen mit ihren PS-starken Automobilen nicht im Geringsten.
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Die Lage der Polizei verbesserte sich auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 zunächst nicht. Denn nun waren die an sich schon verunsicherten Polizisten auch noch mit einer gänzlich neuen Rechtslage und gänzlich anderen Dienstvorschriften konfrontiert, die ihnen samt und sonders wenig bis gar nicht vertraut waren. "Wir wissen nicht, gilt das Gesetz noch, gilt es nicht mehr", klagte Mitte Oktober 1990 ein Wachtmeister in Wittenberg. Den Einigungsvertrag jedenfalls und die neuen Dienstvorschriften hätten sie noch nicht in der Hand gehabt. "Wir sind auf uns allein gestellt", schloss der Wachtmeister betrübt seine Ausführungen. Die wilden Jahre im Osten waren noch lange nicht vorbei...
Quelle: MDR