Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
Die Einheit vollenden:
Mittwoch, 11.12.2019,
dpa
Die Bundesregierungen der vergangenen drei Jahrzehnte haben nicht nur das Kohl'sche Versprechen der blühenden Landschaften im Osten nicht eingelöst, sondern bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse weitgehend versagt.
Ein wichtiger Grund dafür wurde dem vereinten Land mit der Art und Weise gegeben, wie es die Einheit vollzog. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes - also einer nicht gleichberechtigten Vereinigung -, war strategisch ein Keim für viele gravierende Probleme des Einigungsprozesses gelegt, die die Menschen in Deutschland zum Teil bis heute beschäftigen. Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es die Führung der DDR je vermochte.
Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind. Dennoch erleben sie in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, gründet. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt.
Arbeitsmarkt (Arbeitslosenquote in %)
Dass auch heute noch Tarifverträge abgeschlossen werden mit niedrigeren Löhnen im Osten und es immer noch nicht gleiche Renten für die gleiche Lebensleistung gibt, schadet ungemein. Wer das Argument benutzt, dass einiges im Osten billiger sei (es gibt übrigens auch Teureres), hat die Einheit nicht begriffen. Im bayerischen Hof sind die Mieten auch niedriger als in München, aber niemand kommt auf die Idee, dort Löhne und Renten zu kürzen. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus dem Westen. Noch nicht mal einer unter zehn Vorsitzenden Richtern in den neuen Ländern ist dort geboren worden.
Der Respekt davor, wie im Osten unseres Landes die vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen, persönlichen Brüche der Wendezeit verkraftet wurden, darf sich nicht in Worten erschöpfen. Es geht dabei auch nicht um Almosen oder Dankbarkeit, sondern um die Gewissheit, dass es ohne den Mut der Ostdeutschen, Machtstrukturen infrage zu stellen, die deutsche Einheit nicht gegeben hätte. Gerade weil im Grundgesetz gleichwertige Lebensverhältnisse und die angemessene Berücksichtigung aller Länder in Führungspositionen als Politikziel verankert sind, müsste dies das Handeln von Bundestag und Bundesregierung nun wenigstens im 30. Jahr der deutschen Einheit bestimmen. Doch davon ist nicht auszugehen.
Wirtschaft (Veränderungsrate des BIP in %)
Wenn Deutschland 2020 wieder an Zusammenhalt, an wirklicher Einheit gewinnen will, muss es aber vor allem eine Frage beantworten: Wie kann und soll die sich immer weiter vertiefende soziale Spaltung im Land überwunden werden? Wenn 2017 die 45 reichsten Deutschen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland, also 41 Millionen Menschen, besaßen, wird die Schieflage deutlich. Und die Schere geht immer weiter auseinander. Mehr als 2,5 Millionen Kinder leben bei uns in Armut.
Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in der EU, in dem 3,38 Millionen Beschäftigte monatlich weniger als 2000 Euro bekommen. Die gesetzliche Rente schützt anders als zum Beispiel in Österreich weder vor Armut, geschweige denn sichert sie den Lebensstandard. Das Hartz-System, das eigentlich ein Existenzminimum sichern soll, muss vom Bundesverfassungsgericht immer wieder korrigiert werden. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Diese sich immer mehr vertiefende soziale Spaltung in Deutschland, Europa und der Welt kann die Gesellschaften, die Demokratie zerstören und eines Tages zu einer Art Explosion führen. Die Rechte knüpft an dieser neoliberalen Zerstörung der Demokratie an und stellt demokratische Strukturen und Grundrechte infrage.
Wenn wir das Land nicht einen, wenn die Menschen nicht wieder eine Perspektive für ein einigermaßen planbares Leben in sozialer und öffentlicher Sicherheit bekommen und der alte Grundsatz wieder Geltung erlangt, dass Eltern wissen, ihren Kindern wird es einmal besser gehen, führt das zu zerstörerischen Momenten.
Solange uns dies nicht gelingt, werden diejenigen, die scheinbar einfache Lösungen anbieten und einen nationalen Egoismus predigen, weiter zunehmende Resonanz finden.
Es ist also höchste Zeit, dies zu ändern.
Quelle: focus.de vom 11.12.2019