Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?
Ein Kommentar von Jürgen Kaube
Aktualisiert am 03.10.2020-11:21
Bild: dpa
Verhandelt wurde über die deutsche Einheit nicht viel. Warum auch, so die überwiegende Meinung im Westen. Galt es doch nur, alles Gute - die Demokratie, den Rechtsstaat und unter allen weiteren Institutionen vor allem die D-Mark - auf den Osten zu übertragen. Die Wiedervereinigung schien in erster Linie eine verwaltungs- und eigentumsrechtliche, sozialtechnokratische und personalpolitische Aufgabe im Übergang zu einem Land, dem am Ende eigentlich niemand mehr anmerken sollte, dass es vierzig Jahre lang (und 28 davon durch einen Todesstreifen) geteilt war in zwei denkbar unterschiedliche Staaten. Der "Kanzler der Einheit", Helmut Kohl, hatte seinen im Februar 1990 geäußerten Satz, er sei "ganz und gar dagegen", die Einheit in Form eines Anschlusses zu vollziehen, wohl schon während er ihn sagte wieder vergessen.
Welche Folgen die Aufwertung der Schulden ihrer ohnehin oft maroden Betriebe durch die Währungsunion haben würde, sah man ebenso wenig, wie die Wucht richtig eingeschätzt wurde, mit der sich die Angleichung auf allen gesellschaftlichen Gebieten vollzog. Fast möchte man sagen: Gerade in der DDR war Karl Marx in Vergessenheit geraten, weil man dort im Irrtum lebte, sein Hauptwerk heiße "Der Sozialismus". Andererseits hätte ihnen Karl Marx auch nicht viel geholfen, um die spürbare Missachtung und Selbstgerechtigkeit zu verwinden, die nicht nur alle ökonomischen Segnungen begleitete, sondern auch den Befund, an der DDR sei schlechterdings nichts erhaltenswert und nichts, wovon etwas zu lernen gewesen wäre. Jahre danach erst kam man beispielsweise im Westen darauf, was von den ostdeutschen Schulen hätte gelernt werden können. Oder ganz allgemein: von der Erfahrung, in einem solchen Land gelebt zu haben.
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Die große Aufmerksamkeit, die Schriftsteller und bildende Künstler aus dem Osten Deutschlands seit der "Wende" besonders dann auf sich ziehen, wenn sie sich als solche erkennbar machen, wurde den Trägern alltäglicher Biographien wenig zuteil. So als sei auch biographisch vor allem das Leben im Westen die Norm und als solche intakt. Mitunter wurde sogar denen, die sich selbst von der sozialistischen Diktatur befreit hatten, als diese keine Unterstützung aus Moskau mehr erhielt, zugemutet, die Freiheit als ein Geschenk der reichen Verwandten zu empfinden. Welcher Schluss aus all dem zu ziehen ist? Vielleicht der, wie viel Zeit ein Gemeinwesen benötigt, um selbst zu seinen glücklichsten Momenten ein ehrliches Verhältnis zu entwickeln.
Quelle: FAZ vom 03.10.2020