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Von Sven Felix Kellerhoff
Leitender Redakteur Geschichte
Veröffentlicht am 27.04.2016 | Lesedauer: 6 Minuten
Die Information ist so schlicht wie scheinbar eindeutig: "1942-1945 Reichsinnenministerium - Hauptmann Ordnungspolizei". So steht es im Landtagsinformationssystem Schleswig-Holstein im Eintrag des Abgeordneten Heinz Reinefarth (1903-1979).
Kein Wort darüber, was Reinefahrt in den drei Jahren seiner Tätigkeit für das Reichsinnenministerium getan hat. Dabei ist seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt, dass der Abgeordnete bei der Niederschlagung des Aufstandes in Warschau 1944 schlimmste Kriegsverbrechen begangen hatte.
Quelle: picture alliance / dpa
Seit 1962 nämlich veröffentlicht ist die knappe Zusammenfassung eines Telefonats, das Reinefarth, damals SS-Gruppenführer (entsprach einem Generalmajor der Wehrmacht), am 5. August 1944 um Mitternacht mit General Nikolaus von Vormann führte. Der Oberbefehlshaber der 9. Armee fragte nach dem Fortgang der Kämpfe in Polens Hauptstadt, und Reinefahrt antwortete: "Langsam. Was soll ich mit den Zivilisten machen? Habe weniger Munition als Gefangene."
Weiter teilte der SS-Offizier dem für Zentralpolen zuständigen Wehrmachtskommandeur mit: "Eigene Verluste: sechs Tote, 24 Schwer- und zwölf Leichtverwundete." Vormann fragte nach: "Feind?" und Reinefarth antwortete: "Mit Erschossenen über 10.000."
Er musste es wissen: Während des Warschauer Aufstandes befehligte Reinefarth ein Dutzend SS-Bataillone, darunter Hilfstruppen aus Aserbeidschan und das berüchtigte SS-Verbrecherkommando Dirlewanger. 150.000 bis 250.000 Menschen kostete das brutale Vorgehen der Besatzungsmacht in Polens Hauptstadt insgesamt das Leben, mehrere Zehntausend davon gingen auf Einsätze von Reinefarths Einheiten zurück.
Quelle: Museum des Warschauer Aufstandes
Quelle: Museum des Warschauer Aufstandes
Quelle: Museum des Warschauer Aufstandes
Quelle: Museum des Warschauer Aufstandes
Für seine "Verdienste" bekam er das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, zu diesem Zeitpunkt die dritthöchste Tapferkeitsauszeichnung überhaupt. Hitler persönlich beförderte ihn noch zum Festungskommandanten von Küstrin.
Aus "Mangel an Beweisen" wurde Reinefarth dennoch nie für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Einige Zeit saß er zwar in britischer Kriegsgefangenschaft, doch nach Beginn des Kalten Krieges verweigerte ein Hamburger Gericht seine Auslieferung an Polen.
Stattdessen ging Reinefarth in die Politik, zuerst als Bürgermeister des schönen Westerlands auf Sylt. 1958 wurde er dann über die Landesliste der rechten, mindestens zu Teilen rechtsextremen Sammlungsbewegung Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten ins Landesparlament in Kiel gewählt.
Genau 71 Jahre nach Kriegsende überprüfen jetzt Historiker die Verstrickung von schleswig-holsteinischen Politikern in NS-Verbrechen systematisch. Am Mittwoch hat der Flensburger Geschichtsdidaktiker Uwe Danker, übrigens selbst geboren in Westerland, die wichtigsten Ergebnisse seines Teams vorgestellt.
Quelle: Landtagsinformationssystem Schleswig Holstein
Rund 400 Personen, die im nördlichsten Bundesland nach 1945 in Amt und Würden kamen, aber eine Vorgeschichte in der Nazipartei hatten oder im Zweiten Weltkrieg an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein könnten, wurden untersucht. Reinefahrt ist der prominenteste, aber keineswegs der einzige wirklich üble Fall.
Es gab zum Beispiel auch Ernst Kracht (1890-1983). Der erklärte Antisemit trat zwar erst im Mai 1933 in die NSDAP ein, machte aber rasch Karriere; er wurde Landrat und 1936 Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Flensburg, außerdem SS-Sturmbannführer (entsprach einem Major). Nach Bekanntwerden von Hitlers Selbstmord soll er noch für Anfang Mai 1945 zu einer Gedenkfeier ins Flensburger Rathaus eingeladen haben. Trotzdem saß er nur drei Jahre in Internierung und wurde dann erst als "Mitläufer", schließlich sogar als "entlastet" entnazifiziert.
Ab 1950 leitete Kracht dann die Staatskanzlei in Kiel, die Behörde des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. In seiner Funktion half er offensichtlich anderen NS-Belasteten beim Neustart. Diesen zu ermöglichen war vor allem das Ziel der braunen Seilschaften, folgert die Historiker-Studie. Eine "politische Renazifizierung" sei nicht angestrebt worden.
Quelle: picture-alliance / Foto Renard R
In Sachen Karriere waren die ehemaligen Nazis ausgesprochen erfolgreich.
Dankers Studie reiht sich ein in eine Fülle ähnlicher Untersuchungen. So hat der Hessische Landtag einen Bericht über die NSDAP- und SS-Mitglieder unter seinen ehemaligen Mitgliedern anfertigen lassen. Demnach gehörten von den 403 Abgeordneten, die 1928 oder früher geboren worden waren, mindestens 92 zeitweise der NSDAP an. 13 von ihnen waren hauptamtlich Beschäftigte oder Parteifunktionäre gewesen, 26 Mitglied in der SA sowie zwölf in der SS oder Waffen-SS.
Gerade startet eine noch wesentlich breiter angelegte Studie des Instituts für Zeitgeschichte über Bayern in der Nachkriegszeit. Hier sollen alle Ministerien und andere wichtige staatliche Institutionen durchleuchtet werden.
Weiter sind schon die Einrichtungen auf Bundesebene. Am Dienstag trafen sich Vertreter eines runden Dutzend Historikerkommissionen von Bundesministerien und Einrichtungen wie Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Bundesrechnungshof in der Berliner Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, um über den Erkenntnisfortschritt durch die zahlreichen parallelen Forschungen zu beraten.
Moshe Zimmermann, Historiker aus Israel mit Hamburger Wurzeln und selbst Mitglied der hochumstrittenen Kommission des Auswärtigen Amtes, fragte zugespitzt, ob die weiteren Studien nur "immer mehr vom Selben" herausgefunden hätten? Auf den ersten Blick mag das zutreffen.
Denn in der Tat ist das "Nazi-Zählen" in deutschen Nachkriegsbehörden, übrigens in der Bundesrepublik ebenso wie mit Abstrichen in der DDR, eine einigermaßen stumpfsinnige Beschäftigung. Deshalb bleiben die gegenwärtig laufenden Untersuchungen auch nicht hier stehen.
Denn viel spannender ist, was etwa der Bochumer Historiker Constantin Goschler (Kommission des Verfassungsschutzes) und der Potsdamer Manfred Görtemaker (Kommission Justizministerium) darlegten: herauszufinden, warum trotz der schon Zeitgenossen bewussten Durchdringung der neu aufgebauten Institutionen mit alten Nazis in der Bundesrepublik ein liberaler, demokratischer Rechtsstaat werden konnte.
NACHRUF AUF HEINZ REINEFARTH 1979
Welche Rolle spielte dabei der Antikommunismus? Wie wirkte sich die oft nationalsozialistische Prägung gerade von Juristen der Jahrgänge zwischen 1900 und 1915 auf die Rechtspolitik der Bundesrepublik aus?
Hier gibt es noch viele Fragen, die auf substanzielle Antworten warten - jenseits primitiver Personalüberprüfungen. Auch muss gewiss die Entnazifizierung einer Neubewertung unterzogen werden: Ist sie tatsächlich gescheitert? Oder haben die Zehntausenden von Verfahren vielleicht beigetragen zum Umdenken, das Westdeutschland so fundamental anders machte als das Dritten Reich?
Für Fälle wie Heinz Reinefarth allerdings gilt das nicht. Der "Henker von Warschau" musste zwar nach Bekanntwerden seiner Rolle im Krieg zurücktreten, aber blieb ein angesehener Bürger von Sylt. In seinem Nachruf hieß es 1979: "Sein erfolgreiches Wirken für die Stadt Westerland wird unvergessen bleiben!"
Heute sieht man das anders, würde ihn am liebsten aus der Lokalgeschichte streichen.
Wenige Stunden nach Erscheinen dieses Artikels reagierte der Landtag von Schleswig-Holstein und ergänzte den Eintrag zu Reinefarth durch zwei Absätze:
- (Die persönlichen Angaben beruhen auf Auskünften der jeweiligen Person bzw. den angegebenen Quellen und werden grundsätzlich nur bis zum Ende ihres Mandats aktualisiert.)
- Ergänzung zur Vita:
Verurteilung der Gräueltaten des früheren Landtagsabgeordneten Heinz Reinefarth bei der Niederschlagung des Wahrschauer (sic!) Aufstands durch Beschluss vom 10.07.2014 (s. Antrag Drucksache 18/2124).
Quelle: welt.de