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Frühere Bundesrichter : Tief verstrickt in NS-Verbrechen

Von David Klaubert
Redakteur im Ressort "Deutschland und die Welt".

-Aktualisiert am 02.12.2020-07:27

Das Bundesarbeitsgericht hat seine Vergangenheit nie aufarbeiten lassen. Jetzt zeigt sich: Etliche seiner Richter hatten in der NS-Zeit Todesurteile zu verantworten oder sich auf andere Weise schwer belastet. Fragwürdige Ehrung: "Ahnengalerie" im Bundesarbeitsgericht in Erfurt
Bild: Axel Hemmerling

Als Ferdinand Hans erwischt wird, gesteht er. Weil wegen des Krieges Personalmangel herrscht, ist der Postfacharbeiter oft allein dafür zuständig, die eingelieferten Pakete zu sortieren. Immer wieder stiehlt er aus den Sendungen: Schmuck, Tabak, Lebensmittel, Socken, einen Fliegerdolch. Angeklagt wird er wegen Postraubs "in etwa 80 bis 100 Fällen". Erschwerend wertet das Sondergericht Mannheim, dass Hans auch mindestens zwei Feldpostpäckchen geöffnet hat.

"Wer in dieser Weise sich verhält und mit seinem Handeln eine derartige Gefahr bedeutet, zeigt mit aller Deutlichkeit seine feindliche Einstellung gegenüber der im Kriege befindlichen Volksgemeinschaft und ist ein Volksschädling", schreibt Richter Willy Martel in das Urteil. "Zur wirksamen Abschreckung und gerechten Sühne ist daher nach gesundem Volksempfinden unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens die Todesstrafe erforderlich."

Hans' Anwalt stellt ein Gnadengesuch. Der Direktor der Untersuchungshaftanstalt, der Präsident der Reichspostdirektion und sogar der Oberstaatsanwalt sprechen sich dafür aus, das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Martel und seine beiden Richterkollegen sind dagegen. Am 6. Oktober 1942 wird Ferdinand Hans enthauptet, drei Tage nach seinem 21. Geburtstag. Willy Martel wird 1956 Richter am Bundesarbeitsgericht.

Im selben Jahr wird auch Georg Schröder ernannt. Dem nationalsozialistischen Regime hat er nicht als Richter gedient, sondern im Reichsjustizministerium und im Reichskommissariat Niederlande.

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf das Nachbarland 1940 wird Kammergerichtsrat Schröder aus Berlin abgeordnet und Leiter der Abteilung Feindvermögen. Zudem wird ihm 1942 die Wirtschaftsprüfstelle unterstellt. Zu den Aufgaben der Behörde gehört die "Arisierung" und "Liquidierung" jüdischer Betriebe. Die Enteignung des Privatvermögens der jüdischen Bevölkerung liegt in der Hand der Abteilung Feindvermögen. Es gehe um "ganz erhebliche Kapitalien", schreibt Schröder. "Die weitere Durchführung der wirtschaftlichen Entjudung hat aber nicht nur wirtschaftliche Bedeutung, sondern darüber hinaus besondere politische Bedeutung." Mehr als 100.000 Juden werden aus den Niederlanden deportiert und ermordet. "Schröder war als oberster Beamter verantwortlich für die Beraubung der niederländischen Juden", sagt Martin Borowsky. "Er hätte nach dem Krieg nicht wieder Richter werden dürfen, schon gar nicht Bundesrichter."

Borowsky ist kein Historiker, sondern Richter am Landgericht Erfurt. In den vergangenen beiden Jahren hat er aber viele Stunden im Archiv verbracht. Er hat in den Niederlanden Schröders Briefe und weitere belastende Dokumente gefunden, in Karlsruhe neun Todesurteile von Martel. Er war im Stasi-Unterlagen-Archiv, im Bundesarchiv, in Landes- und Stadtarchiven, im polnischen Kattowitz. Insgesamt hat er die Vergangenheit von 25 Richtern am Bundesarbeitsgericht (BAG) recherchiert. Seine Ergebnisse liegen nun dem MDR und der F.A.Z. vor.

Seit das Auswärtige Amt 2006 eine Historikerkommission damit beauftragt hatte, seine Verstrickungen in der NS-Zeit zu erforschen, haben die meisten Bundesministerien und -behörden ähnliche Projekte angestoßen. Eine besonders große Belastung fanden die Forscher im Bundesjustizministerium. "Tatsächlich hat sich die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit [ ... ] der eigenen Strafverfolgung nahezu völlig entzogen", schreiben Manfred Görtemaker und Christoph Safferling in ihrem Abschlussbericht. "Das Versagen der Justiz in der Bundesrepublik im Umgang mit dem NS-Erbe ist somit offenkundig."

Als Borowsky damit begann, sich für die Vergangenheit der Richter am BAG zu interessieren, fand er zunächst einmal: so gut wie nichts. Er stieß auf vereinzelte Biographien und historische Arbeiten, in denen es immer wieder Hinweise auf eine NS-Belastung gegeben hatte. Er las, dass mindestens vier Richter schon im Rahmen der "Blutrichter- und Braunbuchkampagne" der DDR beschuldigt worden waren, an NS-Unrecht beteiligt gewesen zu sein. Ohne Folgen. Bis heute werden alle ehemaligen Richter in einer "Ahnengalerie" im Gerichtsgebäude in Erfurt geehrt. Die Porträts von Richtern, die tief in die Verbrechen der NS-Zeit verstrickt waren, hängen unkommentiert neben Richtern, die sich widersetzt oder selbst unter dem Regime gelitten haben - wie etwa Anne-Gudrun Meier-Scherling, die sich in linken Studentengruppen engagierte, oder Friedrich Poelmann, dem der Eintritt in den Justizdienst verwehrt wurde, weil seine Großmutter Jüdin war.

Insgesamt, sagt Borowsky, ließen sich die BAG-Richter bis zum Geburtsjahrgang 1925 in vier etwa gleich große Gruppen einteilen: ein Viertel, das "anständig" durch die NS-Zeit gekommen sei, ein Viertel angepasste Mitläufer, die zum Beispiel NSDAP-Mitglieder waren. Und rund die Hälfte der späteren Bundesrichter, die er als erheblich bis schwer belastet bezeichnet - etwa weil sie in gehobenen Positionen im Reichsjustizministerium tätig waren, politische Todesurteile zu verantworten oder, wie Hans Gustav Joachim, ihre nationalsozialistische Gesinnung offenbart hatten: "Wo dieser größte biologisch nachweisbare Rassenkreis endet, dort endet auch die Möglichkeit einer Gemeinschaft. Das trifft genauso wie für Neger auch für Juden zu", schrieb Joachim in seiner Dissertation. "Und wer aus Gründen seiner Rasse nicht von der deutschen Volksgemeinschaft erfasst wird, gehört auch nicht zur Gemeinschaft der Völker."

Die Ergebnisse seiner Recherchen will Borowsky in einem Buch aufschreiben - und sieht sie trotzdem nur als Anstoß für weitere Forschung. "Die große Frage ist ja, ob die personelle Kontinuität nach der NS-Zeit sich auch auf die sachliche Arbeit des BAG ausgewirkt hat", sagt Borowsky. Da es in Deutschland kein Arbeitsgesetzbuch gibt, war das BAG gerade in der jungen Bundesrepublik eine Art Ersatzgesetzgeber. Seine Richter haben das Arbeitsleben hierzulande maßgeblich beeinflusst.

Auch das BAG selbst verweist auf die Notwendigkeit einer entsprechenden rechtshistorischen Analyse, die sich "nicht auf die Nachzeichnung der richterlichen Biographien" beschränken dürfe. Ein konkretes Konzept dafür gibt es noch nicht. Zunächst wolle man die Ergebnisse einer vergleichbaren Studie am Bundessozialgericht abwarten, heißt es. Die Richterporträts sollen erst einmal hängen bleiben.


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