zur Erinnerung
Vietnamkrieg 1964 - 1975 Die vergessenen Gefangenen des Dschungelkriegs in Vietnam: Bisher geheime Dokumente erzählen ihre Geschichte

Marcel Berni 19.01.2022, 05.30 Uhr

Im Westen ist bis heute wenig bekannt über das Schicksal der über 200.000 vietnamesischen Kriegsgefangenen, die den Amerikanern und ihren Verbündeten in die Hände fielen. Viele wurden Opfer der zunehmenden Brutalisierung des Vietnamkriegs.

Horst Faas / AP

Müsste der Durchschnittsamerikaner aus dem Stand einen Helden der jüngeren Geschichte nennen, würde der Name John McCain wohl ziemlich schnell fallen. Als prominenter Vertreter der Republikanischen Partei machte sich der Staatsmann nicht nur als Politiker einen Namen, sondern auch aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen als Kriegsgefangener im Vietnamkrieg (1955-1975).

Der Kampfpilot John McCain wird im Oktober 1967 von Vietnamesen aus dem Truc-Bach-See gerettet, nachdem sein Flugzeug abgeschossen worden ist.
Imago

Am 26. Oktober 1967 wurde seine Douglas Skyhawk über Nordvietnam von kommunistischen Stellungen aus abgeschossen. Der verletzte Lieutenant Commander wurde darauf in das berüchtigte Hoa-Lo-Gefängnis gebracht, das die Amerikaner sarkastisch "Hanoi Hilton" nannten. McCain wurde von seinen Peinigern dort regelmässig rabiat verhört und gefoltert.

Trotzdem lehnte er eine vorzeitige Entlassung aus der Gefangenschaft aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitgefangenen ab. Erst nach seiner Freilassung im März 1973 konnte er von seinem Leiden berichten. Der 2018 Verstorbene trug aus der Gefangenschaft lebenslange Beeinträchtigungen davon. Der Ruf eines tapferen, ehrbaren und konservativen Patrioten begleitete sein ereignisreiches Leben in der Öffentlichkeit.

Die Gewalt schlägt zurück

Grenze/Demilitarisierte Zone
Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
NZZ / ahn.

In vielerlei Hinsicht lassen sich die Gewalterfahrungen der rund 200.000 bis 300.000 kommunistischen Gefangenen in Südvietnam mit jenen von McCain vergleichen. Hüben wie drüben wurden Gefangene gefoltert, misshandelt und geschändet. Davon zeugen bisher geheime Quellen aus dem amerikanischen Nationalarchiv.

In den USA wurde über die Behandlung amerikanischer Gefangener in Nordvietnam viel geschrieben. Dies gilt jedoch nicht für das Schicksal ihrer Leidensgenossen südlich der demilitarisierten Zone: Eine schwierige Archivlage, Sprachprobleme und die ideologische Differenz zum Westen haben viele Historiker bisher davon abgehalten, sich eingehend mit dem Leben, Leiden und Sterben vietnamesischer Gefangener im Vietnamkrieg auseinanderzusetzen.

Der verletzte John McCain wird im November 1967 in einem Spital in Nordvietnam untersucht.
Hulton / Getty

Aber schon zu Kriegszeiten wussten viele Zeitgenossen um die exzessive Gewalt an gefangenen Nichtkombattanten. Vom 31. Januar bis zum 2. Februar 1971 kamen nämlich in einem Hotel in Detroit über hundert amerikanische Vietnamveteranen und 16 Zivilisten zusammen, um Zeugnis über die von ihnen beobachteten Kriegsverbrechen in Südvietnam abzulegen.

Unter ihnen waren Soldaten und Offiziere aus allen Teilstreitkräften des amerikanischen Militärs, die aus dem ganzen Land nach Michigan angereist waren, um die in Südostasien begangenen Greuel offenzulegen. Mit dem gleichzeitig in Fort Benning geführten Militärprozess gegen den Second Lieutenant William L. Calley, der sich wegen des Massakers von My Lai zu verantworten hatte, wurde das Jahr 1971 zu einem Annus horribilis für die Führung der amerikanischen Streitkräfte.

Der Infanterieoffizier William L. Calley mit seinem Anwalt nach einem Verhör im Februar 1970 in Fort Benning.
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Doch der Prozess um My Lai und die Zusammenkunft der sogenannten "Winter Soldiers" in Detroit, wie sich die Veteranen nach einem Passus in Thomas Paines Pamphlet "The American Crisis" nannten, waren mehr als nur ein Menetekel. Zwar blieben die Medien der Veranstaltung in Detroit weitgehend fern, doch das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten in die Kriegsführung hatte bereits zu bröckeln begonnen.

"Helikopterverhöre"

Unter den Sprechern in Detroit befand sich auch der 27-jährige Captain Ernest Sachs aus der ersten Marine-Division, der als Helikopterpilot von August 1966 bis September 1967 im Norden Südvietnams 725 Kampfeinsätze geflogen hatte. Sachs hatte eingewilligt, dass seine Aussagen gefilmt werden durften. In den erhaltenen Filmausschnitten offenbart er dem Zuschauer ein Panorama des Schreckens. Er schildert darin unter anderem, wie gegnerische Gefangene ermordet wurden, indem sie aus amerikanischen Transporthelikoptern gestoßen wurden.

Amerikanische Helikopter greifen ein Vietcong-Lager nordwestlich von Saigon an.
Horst Faas / AP

Gewiss müssen solche Berichte kritisch eingeordnet werden. Denn viele Zeugnisse von Kriegsverbrechen an kommunistischen Gefangenen in Südvietnam gleichen sich auffällig. Häufig handelt es sich um Taten, von denen aus zweiter Hand berichtet wird und deren Erzählung im Kontext der Antikriegsbewegung popularisiert wurde.

So behauptet Sachs in seinem Bericht etwa kategorisch, dass aus seinem Helikopter nie vietnamesische Gefangene hinausgestossen worden seien. Aber er wisse von Soldaten aus Philadelphia, die regelmässig Gefangene gefesselt hätten, um sie aus dem fliegenden Helikopter zu schleudern. Dabei hätten sie auch darum gewetteifert, wer die Gefangenen am weitesten werfen könne. Auf die Frage, ob es sich dabei um eine verbreitete Praxis gehandelt habe, entgegnet der Pilot, dass in seiner Einheit zwischen 15 und 50 Gefangene so umgebracht worden seien.

Courtesy Everett Collection / Imago

Was amerikanische und südvietnamesische Soldaten den "langen Schritt", die "Flugstunde" oder das "Luftverhör" nannten, war eine von den Gefangenen gefürchtete Form von Hinrichtung, die sich in verschiedenen Archivakten nachweisen lässt. Für Sachs galt: Zähle die Gefangenen nicht, wenn sie in den Helikopter verfrachtet werden, sondern erst beim Ausladen - nimm also nur jene, die den Transport überleben, in die Gefangenenstatistik auf.

Die Getöteten dagegen gingen auf das Konto des "Body Count" der Einheit, jener Kennzahl also, mit der der amerikanische "Kriegsfortschritt" gemessen wurde. Diesen neuen Erfolgsmassstab hatten die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten nach der Schlacht im Ia-Drang-Tal im November 1965 eingeführt. Damit wurde der militärische Erfolg nicht länger an erobertem Territorium, sondern an der Zahl getöteter Feinde gemessen.

Das Kriegsrecht als Makulatur?

Dass die amerikanischen Streitkräfte begonnen hatten, ihre Effizienz an der Zahl feindlicher Leichen zu messen, wirkte sich auch auf den Umgang mit Gefangenen aus. Auf dem Papier waren die rechtlichen Vorschriften für die amerikanischen, südvietnamesischen und verbündeten Truppen zwar unmissverständlich: Alle durch das amerikanische Oberkommando verfassten militärjuristischen Erlasse verboten auf der Basis der Genfer Konventionen Gewalt an Gefangenen.

In der Praxis reichte das Spektrum der Gewalt aber von der blossen Schikane bis hin zu schweren Misshandlungen, Folter, Mord und Vergewaltigung.

Mit einem Strick zusammengebunden werden im Dezember 1965 Vietcong-Kämpfer im südvietnamesischen Hoy An von einem amerikanischen Marineinfanteristen zum Verhör gebracht.
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Wie kann die zunehmende Verrohung und Brutalisierung erklärt werden? Sie war eine Folge der sogenannten "Kommandokultur" und der daraus abgeleiteten "Standing Operating Procedure". Diese war, im Unterschied zum kodifizierten Kriegsrecht, nirgends verbindlich festgeschrieben, sondern wurde von Vorgesetzten festgelegt: situativ und aufgrund von deren subjektiver Wahrnehmung des Kriegsgeschehens. Weil der Gegner oft unsichtbar und unfassbar blieb, reagierten sich die frustrierten, verängstigten Soldaten zunehmend rachsüchtig an den schutzbedürftigen Gefangenen ab.

Die Armeeführung, die von Abnutzungskrieg, "Search and Destroy", "Body Count" und "Kill Ratio" sprach, nahm in Kauf, dass die Truppe solche Konzepte oft als Blankocheck für schrankenlose Gewalt auffasste.

Gefangener Vietcong-Kämpfer auf dem Weg zum Sammelplatz südlich von Quang Ngai im Februar 1966.
National Archives / EPA

Militärische Notwendigkeit

Im Grunde war es sowohl Tätern als auch den Opfern klar, dass die Gewalt an Gefangenen widerrechtlich war. Wie Sachs schufen viele Soldaten persönliche Ex-post-Narrative, mit denen sie ihre Taten rechtfertigten und sich von ihrem Schuldbewusstsein befreien wollten. Diese gingen häufig mit der Abwertung der Opfer einher, denen man deren Individualität absprach. Aus dieser Perspektive handelte es sich dann eben "nur" um Kommunisten, "nur" um Asiaten. Für den Zeitzeugen Sachs galt: "Wenn sie leben, sind sie automatisch Verdächtige, wenn sie tot sind, sind sie Vietcong."

Vor allem ein Begriff wurde in diesem Zusammenhang in Vietnam als Rechtfertigung für übermässige Gewalt immer wieder strapaziert: die militärische Notwendigkeit. Sie wurde vorgeschoben, um Folter als Mittel der Nachrichtenbeschaffung akzeptabel erscheinen zu lassen oder Zeugenaussagen gewaltsam abzupressen. Das Argument wurde zeitweise auch von Anwälten und Richtern geschluckt, was die faktische Ausschaltung des geltenden Kriegsrechts bedeutete.

Ein verletzter südvietnamesischer Ranger in einer Infanteriestellung in Dong Xoai im Juni 1965.
Horst Faas / AP

Tätersolidarität an der Heimatfront

Auch an der Heimatfront und von manchen Politikern wurde das Argument aufgegriffen und in das Narrativ des "American exceptionalism" eingebunden. So verfing das Bild vom pflichtbewussten Patrioten, vom tapferen Dschungelkämpfer, der den Feind nur besiegen konnte, wenn er ihn skrupellos und notfalls auch gesetzlos bekämpfte.

Die Friedensbewegung griff zwar kritische Medienberichte auf und skandalisierte sie. Aber das blieb im Feld meist folgenlos. Die Politik verpasste die Gelegenheit, die systematischen Missbräuche im Umgang mit den Kriegsgefangenen wirksam anzugehen.

Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende dieses Krieges wäre es an der Zeit, dass neben den "Winter Soldiers" und John McCain auch den Tausenden vietnamesischen Gefangenen ein Platz in der amerikanischen Gedenkkultur zugesprochen würde.

Frauen und Kinder suchen am Neujahrstag 1966 Schutz vor feindlichem Feuer in Bao Trai westlich von Saigon.
Horst Faas / AP


Marcel Berni ist wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. 2020 erschien sein Buch "Ausser Gefecht. Leben, Leiden und Sterben ‹kommunistischer› Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg" (Hamburger Edition).


Quelle: NZZ


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 17.07.2023 - 09:04