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aus "Freie Presse" vom 10. Juli 1967
über das vorläufige Untersuchungsergebnis des folgenschweren Verkehrsunglückes am 6. Juli 1967 in Langenweddingen
Foto: privat
Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass die unmittelbaren Ursachen des Zusammenstoßes zwischen einem Tankfahrzeug und dem Personenzug 852 vor allem in Pflichtverletzungen von Mitarbeitern des Bahnhofes Langenweddingen zu suchen sind. Seit dem 4. Juli 1967 wurde das Schließen der Schranken durch eine zu tief hängende Fernsprechleitung der Deutschen Post wiederholt behindert. Entgegen den Dienstvorschriften der Reichsbahn haben die Verantwortlichen die Mängel weder im Prüfungsbuch für Schrankenanlagen eingetragen, noch der zuständigen Signal- und Fernmeldemeisterei gemeldet, um diesen die Verkehrssicherheit gefährdenden Zustand schnellstens zu beseitigen.
Der Bahnübergang 2018 - inzwischen mit Halbschrankenanlage. Das Straßenpflaster ist wahrscheinlich noch von 1967
Der Bahnhof (besser Haltestelle) hat im Jahr 2018 auch seine beste Zeit hinter sich
In den Morgenstunden des 6. Juli 1967 hatte der die Schranken bedienende Fahrdienstleiter bereits bei vier Zugdurchfahrten Schwierigkeiten beim Schließen der Schranken. Trotz dieses Umstandes wurden von ihm keine Schritte eingeleitet, um die Störung zu beheben. Er veranlasste auch nicht die für solche Fälle in den Dienstvorschriften geforderte Sicherung des Bahnüberganges durch Sperrgeräte oder durch Aufstellen von Posten. Die Voraussetzungen hierfür waren vorhanden.
Als sich der beschleunigte Personenzug 852 aus Richtung Magdeburg gegen 8 Uhr dem Bahnübergang Langenweddingen näherte, verfing sich beim Schließen der Schranken die Spitze eines Schrankenbaumes an der durchhängenden Fernsprechleitung. Auf der Fernverkehrsstraße 81 fuhr, aus Magdeburg kommend, das Tankfahrzeug des VEB Minol, polizeiliches Kennzeichen HE 36 - 80, in Richtung Bahnübergang. Der die Schranken bedienende Fahrdienstleiter versuchte durch mehrmaliges Auf- und Abbewegen der nur gering geneigten Schranken den Schrankenbaum von der Fernsprechleitung freizubekommen, um die Schranken zu schließen. Er wäre in dieser Situation verpflichtet gewesen, das für den aus Magdeburg angemeldeten Personenzug 852 auf "Freie Fahrt" gestellte Signal auf "Halt" zurückzulegen.
Der Kraftfahrer des Tankfahrzeuges hatte nach Zeugenaussagen beim Herannahen an den Bahnübergang sein Fahrzeug gebremst. Als der Fahrdienstleiter die Schranken gerade wieder anhob, befuhr der Fahrer des Minol-Tankwagens den Bahnübergang, offenbar in der Annahme, dass für ihn die Fahrt freigegeben war. In diesem Augenblick erfasste die Lokomotive, trotz der vom Lokpersonal ausgelösten Schnellbremsung, mit ihrem rechten vorderen Puffer das Tankfahrzeug; der Tank wurde an den Zug geschleudert und explodierte. Der Tankinhalt, 15.000 Liter Leichtbenzin, ergoss sich brennend auf die ersten beiden Doppelstockwagen sowie das Bahnhofsgelände. Der Brand breitete sich in Bruchteilen von Sekunden unter gewaltiger Hitzeentwicklung aus.
Der hinter der Lokomotive laufende Packwagen wurde zertrümmert. Die folgenden zwei Wagen sowie ein weiterer in der Mitte des Zuges fahrender Packwagen entgleisten. Als der Zug zum Stehen gekommen war, wurden auch die beiden letzten Doppelstockwagen von den Flammen des ausbrennenden Benzintanks erfasst. Die mittleren Wagen des Zuges wurden leicht beschädigt. Insgesamt brannten vier Doppelstockwagen sowie das Bahnhofsgebäude völlig aus.
Im Zug mitfahrende Reisende und Insassen der am Unfallort haltenden Fahrzeuge, unter ihnen Angehörige der Transportpolizei und der Nationalen Volksarmee, Eisenbahner und Einwohner der Gemeinde Langenweddingen setzten sich unmittelbar nach dem Unglück selbstlos, oft unter Lebensgefahr, für die Rettung ein.
Die sofort alarmierten Kräfte der Feuerwehr, der Volkspolizei, des Gesundheitswesens und des Deutschen Roten Kreuzes sowie der Deutschen Reichsbahn führten gemeinsam mit der Bevölkerung unter außerordentlich schwierigen Bedingungen und größten Anstrengungen die Brandbekämpfung und die Rettungsmaßnahmen durch. Die Bezirkskatastrophenkommission, die sich unverzüglich unter Leitung des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Kurt Ranke, zum Unfallort begab, leitete und koordinierte die umfassenden Rettungs- und Bergungsarbeiten.
Innerhalb kürzester Frist waren die Verletzten in Krankenhäusern untergebracht.
Infolge der schlagartigen Ausbreitung der Brände und der extrem starken Hitze gelang es trotz massierten Einsatzes aller zur Verfügung stehenden Kräfte und modernster Löschmittel nicht, alle in den brennenden Doppelstockwagen befindlichen Reisenden zu retten.
In den Wagen entwickelte sich eine solche Hitze, dass Glas und Leichtmetall schmolzen.
Im Zug befanden sich etwa 540 Reisende. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen, die nach Abschluss der Bergung der Toten vom Unglücksort durchgeführt wurden, haben ergeben, dass 77 Personen, darunter 44 Kinder und der Fahrer des Tanklastzuges, umittelbar bei diesem schweren Unglück ihr Leben verloren.
Die Identifizierung der Todesopfer wurde auf Grund der starken Brandfolgen außerordentlich erschwert.
Von den 54 Verletzten sind trotz allen ärztlichen Bemühens vier Schwerstverletzte verstorben. Einige Schwerverletzte befinden sich noch in Lebensgefahr.
Von der Regierungskommission unter Leitung des Ministers des Innern, Friedrich Dickel, wurde in Zusammenarbeit mit der Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und dem Rat des Bezirkes mit Unterstützung der gesellschaftlichen Organisationen alles menschenmögliche getan, um den vom tragischen Verkehrsunglück Betroffenen und ihren Angehörigen in diesen schweren Stunden jede nur denkbare Hilfe und Unterstützung zu geben.
Aus den bisherigen Untersuchungen und den vorliegenden Expertengutachten geht hervor: Das tragische Unglück hätte vermieden werden können, wenn der Fahrdienstleiter, der die Schranke zu bedienen hatte, und der Dienstvorsteher ihren Dienstpflichten nachgekommen wären.
Beide haben in unverantwortlicher Weise verabsäumt, die ihnen bekannten Pflichten zur Aufrechterhaltung der Sicherheit bei Störungen an den Schrankenanlagen vorschriftsmäßig zu erfüllen. Gegen den Fahrdienstleiter und den Dienstvorsteher wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehle erlassen. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, schon bei der Feststellung der Störungen an den Schrankenanlagen am 4. Juli 1967 sofort für deren Beseitigung zu sorgen und die in solchen Fällen zusätzlich vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen mit aller Konsequenz zu veranlassen.
Die Untersuchungen und Ermittlungen werden zügig fortgesetzt. Die Regierungskommission und das Ministerium für Verkehrswesen haben erste Maßnahmen eingeleitet, um aus dem Unglück Schlussfolgerungen für die weitere Erhöhung der Sicherheit zu ziehen.
Trauerfeier für Unglücksopfer am Dienstag
BERLIN (ADN). Wie von der Regierungskommission mitgeteilt wird, findet am Dienstag, dem 11. Juli 1967, 11 Uhr, in Magdeburg eine Trauerfeier zum ehrenden Gedenken an die Opfer des tragischen Verkehrsunglücks in Langenweddingen statt. Aus Anlass der Trauerfeier ordnet der Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei an:
In der Deutschen Demokratischen Republik haben am Dienstag, dem 11. Juli 1967 die Gebäude der zentralen und örtlichen staatlichen Organe und Institutionen sowie die volkseigenen Betriebe halb-mast zu flaggen. Alle an diesem Tage stattfindenden öffentlichen Veranstaltungen sind der Trauer der Bevölkerung der DDR anzupassen.
Kondolenzschreiben bekunden tiefe Anteilnahme
BERLIN (ADN). Von großer Anteilnahme und Erschütterung über das tragische Verkehrsunglück bei Langenweddingen zeugen die zahlreichen Beileidsbekundungen, die beim Staatsrat und Ministerrat der DDR, seinen Organen und Institutionen aus dem In- und Ausland eintreffen.
Beileidstelegramme an Organe der DDR-Regierung richteten u. a. die Repräsentanten der KP und der Regierung Bulgariens, der Vorsitzende des Ministerrats Rumäniens, der Präsident Jugoslawiens, der Vorsitzende der Ungarischen Regierung, die Botschafter Bulgariens, Jugoslawiens, der Demokratischen Republik Vietnam. Kubas und Rumäniens in der DDR, der westdeutsche Verkehrsminister Georg Leber und der Präsident der Bundesbahn, Prof. Dr. Heinz Maria Öftering sowie der Generaldirektor der Dänischen Staatsbahn. P N. Skov.
aus "Freie Presse" vom 12. Juli 1967
Walter Ulbricht und Willi Stoph übermittelten telegrafisch Beileid
Zentralbild Koard 11.7.1967 Magdeburg: Abschied von den Opfern des tragischen Verkehrsunglückes bei Langenweddingen Schwarzumflorte Fahnen senkten sich auf dem Magdeburger Westfriedhof während der ergreifenden Trauerfeier am 11.7.1967 vor den Särgen der auf so schreckliche Weise ums Leben gekommenen Menschen.
MAGDEBURG (ADN). Mit, einer Trauerfeier am Dienstagvormittag auf dem Magdeburger Westfriedhof nahm die Bevölkerung der DDR Abschied von den Opfern des tragischen Verkehrsunglücks in Langenweddingen. Neben den Angehörigen hatten sich Repräsentanten der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung, der anderen Parteien des demokratischen Blocks, der gesellschaftlichen Organisationen und der örtlichen Staatsorgane sowie viele tausend Bürger der Elbestadt versammelt.
Dem Trauerzug vorangetragen wurden die Kränze des Vorsitzenden des Staatsrates, des Zentralkomitees der SED, des Ministerrats der Volkskammer, des Nationalrates der Nationalen Front, der SED-Bezirksleitung Magdeburg und des Rates des Bezirkes Magdeburg.
Der Delegation des Zentralkomitees der SED und des Ministerrates der DDR, die an den Trauerfeierlichkeiten teilnahm, gehörten an: die Mitglieder des ZK der SED Wolfgang Rauchfuß, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Friedrich Dickel, Minister des Innern und Vor-sitzender der Regierungskommission, Dr. Erwin Kramer, Minister für Verkehrswesen, Alois Pisnik, 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg der SED, der Kandidat des ZK der SED, Wolfgang Junker, Minister für Bauwesen, die Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates Max Sefrin und Dr. Kurt Wünsche. Minister Hans Reichelt, die stellvertretenden Minister Prof. Dr. Ludwig Mecklinger und Elfriede Wagner sowie der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Magdeburg, Kurt Ranke. An der Trauerfeier nahmen ferner Delegationen des Zentralrates der FDJ und des Bundesvorstandes des FDGB sowie hohe Offiziere sowjetischer Streitkräfte teil.
Die letzte Ruhestätte der Opfer des tragischen Verkehrsunglücks von Langenweddingen liegt im Herzen des parkartiger Magdeburger Friedhofs, umrahmt von Trauerweiden, Tannen und Lebensbäumen.
Die Trauerfeier wurde mit der Sinfonie Nr. 3 Es-Dur Eroica von Beethoven eingeleitet. Zur gleichen Zeit tönten gedämpft die Sirenen der Magdeburger Betriebe herüber, davon kündend, dass in dieser Minute des Gedenkens die Großstadt ihren Atem verhielt. Der Verkehr ruhte.
In den Werkhallen standen die Maschinen still, die Einwohner, wandten schmerzerfüllt ihre Herzen der Stätte der Trauer zu. Die Traueransprache hielt der Minister des Innern, Friedrich Dickel. Nachdem Minister Dickel seine Traueransprache beendet hatte, schritt er die Reihe der Särge ab verneigte sich vor den Toten und ihren Angehörigen in einer Minute schweigenden Gedenkens.
Nach den Klängen der Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik zog eine Fahnenabordnung der Nationalen Volksarmee vor den Särgen auf. Die schwarzumflorten Fahnen senkten sich. Die Repräsentanten der Republik mit Minister Dickel an der Spitze, defilierten gemessenen Schrittes an den blumengeschmückten Särgen vorbei, verhielten in der Mitte dieser Reihe und grüßten gesenkten Hauptes zum letzten Mal die Opfer des tragischen Unglücks.
BERLIN (ADN). Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, übermittelte telegrafisch zugleich im Namen des Zentralkomitees der SED und des Staatsrates den Hinterbliebenen und den Angehörigen der Opfer des schweren Verkehrsunglücks in Langenweddingen die tiefempfundene Anteilnahme.
Auch der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, hat den von dem schweren Unglück betroffenen Familien und allen Angehörigen der bei Langenweddingen tödlich Verunglückten im Namen des Ministerrates telegrafisch das aufrichtige Beileid übermittelt. Willi Stoph gibt in den Telegrammen der tiefen Erschütterung Ausdruck, mit der der Ministerrat die Nachricht von dem tragischen Unglücksfall aufgenommen hat.
MAGDEBURG (ADN). Trotz aller ärztlichen Mühen sind zwei weitere der beim Verkehrsunglück in Langenweddingen Schwerstverletzten im Krankenhaus verstorben. Damit hat sich die Zahl der Todesopfer auf 83 erhöht.
Friedrich Dicke, Minister des Innern der DDR, hielt auf dem Magdeburger Westfriedhof folgende Traueransprache:
Verehrte trauernde Familienangehörige!
Werte Trauergäste!
In tiefer Trauer und schmerzerfüllt haben wir uns heute hier zusammen gefunden, um Abschied von der Opfern des tragischen Verkehrsunglücks am Eisenbahnübergang Langenweddingen zu nehmen.
Wir trauern um
- Lothar Ahlborn, Erika Ahlborn, Heike Ahlborn,
- Irma Barnbeck, Holger Barnbeck, Dirk Barnbeck,
- Joachim Bärtl,
- Volker Bernick,
- Elke Blam, Gerhard Blam,
- Peter Bräcklein, Frank Bräcklein,
- Robert Bremer, Gertraude Bremer,
- Silvia Brentrop,
- Manfred Eilitz,
- Adelheid Elsner,
- Günter Engelmann,
- Jürgen Fischer,
- Angelika Förster, Renate Förster,
- Waltraud Franke, Hans-Erich Franke, Rosemarie Franke,
- Udo Friedrich,
- Herbert Gierke, Reintraut Gierke, Hans-Dieter Gierke,
- Rosemarie Gläser,
- Rosemarie Göhrmann,
- Henry Grahn,
- Holger Haberland,
- Christine Hamann, Evelyne Hamann,
- Helene Hartmann, Dagmar Hartmann,
- Heidemarie Heine,
- Ingo Hermes, Otmar Hermes,
- Wilhelm Hillebrand,
- Heike Höfert,
- Dorothea Hoffmann,
- Angelia Huck, Matthias Huck,
- Sonia Hucke,
- Willi Kahlmeyeier,
- Paul Kollwitz,
- Eva-Maria Lampe,
- Vera Lamprecht,
- Otto Lange,
- Helga Lorenz, Harald Lorenz,
- Lina Lühr,
- Magrit Matscheroth, Heike Matscheroth,
- Regina Melchert,
- Ingo Meyberg,
- Werner Moritz (Direktor einer Grundschule in Rogätz),
- Benno Nadolni,
- Rolf Nardzinski,
- Erika Pussel,
- Elke Rawolle,
- Erich Reinecke,
- Hermann Salmann,
- Herta Schulze,
- Irene Schütze,
- Siegfried Schwarze, Ursula Schwarze, Gerd Schwarze,
- Kurt Sturm, Erika Sturm, Herbert Sturm, Hartmut Sturm,
- Fritz Tacke-Unterberg,
- Ronald Tyrakowski,
- Holger Voigt,
- Klaus-Peter Wagner,
- Evelin Wöhlecke,
- Rita Woschee, Jean Woschee,
- Rainer Zeller, Ina Zeller,
- Heidi Zornack.
Tief erschüttert stehen wir gesenkten Hauptes voller Gram an der Bahre der teuren Toten, die auf so tragische Weise und völlig unerwartet aus unserer Mitte gerissen wurden. Wir tragen gemeinsam mit Ihnen, den Hinterbliebenen, an dem unsagbar schweren Verlust, der sie betroffen hat, und versichern Sie unserer aus tiefstem Herzen kommenden Anteilnahme. Es erfüllt uns mit besonders großem Schmerz, dass sich unter den Opfern des Unglücks so viele Kinder befinden.
Wie viele Hoffnungen und Erwartungen verbanden sich mit dem jungen Leben. Voller Lebensfreude fuhren sie [n die Ferien, um Kraft für das neue Schuljahr zu schöpfen. Der Tod hat diesem aufblühenden Leben ein so jähes und grausames Ende gesetzt. in tiefer Ergriffenheit nehmen nicht nur die Eltern, Geschwister und Verwandte, sondern auch die Mitschüler von ihren Schulgefährten und Freunden Abschied. Sie werden ihnen ein bleibendes Gedenken bewahren.
Ich habe die schmerzliche Pflicht, Ihnen, den Familienangehörigen1 im Namen des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und seines Ersten Sekretärs und Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht, sowie des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und seines Vorsitzenden, Genossen Willi Stoph, das tiefempfundene Beileid und die aufrichtige Anteilnahme auszusprechen. Die tiefe Anteilnahme aller Bürger der Deutschen Demo-kratischen Republik, die seit Bekanntwerden des tragischen Verkehrsunglücks sich in so vielfältiger Weise offenbart, gibt Ihnen die Gewissheit, dass mit Ihnen all unsere Menschen fühlen und empfinden. Angesichts des großen menschlichen Leides, des Grams und des Schmerzes verneigen wir uns tiefbewegt vor Ihnen.
Aus vielen Beileidsbezeugungen zentraler und örtlicher Partei- und Staatsorgane sowie gesellschaftlicher Organisationen, Institutionen und Einrichtungen, von Bürgern der verschiedensten Schichten der Bevölkerung spricht echtes Mitgefühl und die Bereitschaft, das große Leid mit Ihnen gemeinsam tragen zu wollen. Auch hierin äußert sich die Größe und der Humanismus unserer sozialistischen Menschengemeinschaft, die Sie in ihrer Trauer um Ihre lieben Angehörigen nicht allein lässt. In dieser schweren Stunde vermögen Worte nicht das auszudrücken, was uns bewegt. Worte können nur wenig über das Leid und den Schmerz, über den unsagbaren schweren Verlust, der Sie betroffen hat, hinweghelfen. In den für Sie so schicksalsschweren Tagen haben Sie die tätige Anteilnahme und Fürsorge unseres sozialistischen Staates verspürt. Mögen Sie versichert sein, dass auch weiterhin alles menschenmögliche getan wird, um zu helfen, Ihr Leid und ihren Schmerz zu lindern.
In diesem Sinne ist die heutige Trauer, ist das Setzen der Fahnen auf Halbmast Ausdruck des innigen Mitgefühls der gesamten Bevölkerung unserer Republik. Wir erweisen heute unseren teuren Toten den letzten Gruß. Die in allen betroffenen Familien so grausam gerissene Lücke ist nicht zu schließen. Erschüttert nehmen wir Abschied von den Kindern, den Geschwistern, den Männern und Frauen. Ich wende mich an euch, die ihr auf so tragische Weise und so unerwartet aus den Familien, aus den Kollektiven in Betrieben und Schulen, aus unserer Gemeinschaft herausgerissen wurdet. Habt Dank für die Liebe und das Glück, das ihr euren Eltern und Geschwistern entgegengebracht habt. Habt Dank für die Mühen und Sorgen, die ihr euch um eure Lieben gemacht habt. Habt Dank für euer Mitschaffen am Werk der sozialistischen Gemeinsamkeit. Wir werden eurer stets gedenken.
Liebe trauernde Familienangehörige!
Verehrte Trauergäste!
Das Verkehrsunglück von Langenweddingen gehört zu den tragischsten und an Opfern größten seiner Art in der Geschichte unseres Staates. Dank des selbstlosen Einsatzes von Mitreisenden, von Einwohnern aus Langenweddingen, Angehörigen der Deutschen Volkspolizei, der Feuerwehr, der Nationalen Volksarmee und Mitarbeitern der Deutschen Reichsbahn, konnte eine Ausweitung dieser entsetzlichen Katastrophe verhindert werden.
Die Bevölkerung des Bezirkes Magdeburg hat in diesen Tagen Bewundernswertes an Opferbereitschaft, Tatkraft und Hilfsbereitschaft gezeigt.
Um so schmerzlicher ist es, dass dennoch so viele Opfer zu beklagen sind. Noch immer ist es uns unfassbar, dass ein Unglück mit solch einem Ausmaß über uns gekommen ist. Dank sei allen denjenigen gesagt, die durch allergrößte Anstrengungen, hohes Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein in unermüdlichem Einsatz, zum Teil unter Lebensgefahr, alles taten, um die Verunglückten aus den brennenden Trümmern zu bergen und so hohe menschliche Qualitäten bewiesen.
Besondere Anerkennung verdient die hohe Einsatzbereitschaft unserer Ärzte, Schwestern, Pfleger und vieler Mitglieder des Deutschen Roten Kreuzes, die Tag und Nacht Hervorragendes leisteten und leisten, um den Verletzten zu helfen.
Dank gilt der Bezirksleitung der SED, den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen des Bezirkes sowie der Bezirkskatastrophenkommission, deren umsichtige und verantwortungsvolle Tätigkeit bestimmend dafür war, dass eine schnelle und wirksame Hilfe geleistet werden konnte.
Wir sind zutiefst beeindruckt von den Frauen, Männern und Jugendlichen, den vielen Helfern und Betreuern, von allen, die in diesen Tagen angesichts des tragischen Unglücks ihre menschliche Pflicht vorbildlich erfüllten.
Im Namen des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik danke ich allen Regierungen Organisationen und Persönlichkeiten sozialistischer und anderer Staaten, die ihre Anteilnahme ‚und ihr Beileid in Briefen und Telegrammen zum Ausdruck gebracht haben.
Verehrte Angehörige!
Ein schwerer Verlust, ein großes Unglück hat Sie betroffen. Es verdient unser aller Bewunderung, mit welcher Kraft Sie das unsagbare Leid ertragen Der Schmerz wird uns noch enger verbinden. Aus der Gemeinsamkeit erwächst die Kraft, die das Leid überwinden hilft.
Es liegt wohl auch im Sinne der teuren Toten, dass wir, wenn auch schmerzgebeugt, den Blick vorwärts richten und uns dem Leben zuwenden.
Möge Ihnen, liebe trauernde Hinterbliebenen, unsere Gemeinsamkeit, unsere aus tiefstem Herzen kommende Anteilnahme und Fürsorge in diesen für Sie so schweren Stunden Trost, Kraft und Zuversicht verleihen.
Von Simon Ribnitzky 30.06.2017, 08:48
Foto: Peter Gercke/dpa-
Ein Tanklaster hat den Zug gerammt. 94 Menschen sterben in einem Feuerinferno, darunter viele Kinder. Es ist das größte Zugunglück der DDR, eine der schlimmsten Katastrophen der deutschen Eisenbahngeschichte. Bodewell überlebt, weil er schnell reagiert und sofort handelt.
Es sollte ein herrlicher Tag werden, jener 6. Juli 1967. Die Sonne strahlt vom makellos blauen Himmel, im Land herrscht Ferienstimmung. Gegen 8.00 Uhr macht sich der Personenzug P 852 vom Magdeburger Hauptbahnhof auf den Weg in den Harz, die Doppelstockwagen sind mit rund 500 Reisenden voll besetzt, hunderte lärmender Kinder freuen sich auf ausgelassene Tage im Ferienlager. Mit relativ hoher Geschwindigkeit braust der Zug auf den Bahnhof Langenweddingen zu, ein Halt ist hier nicht geplant. Zur gleichen Zeit steht ein Tanklaster am Bahnübergang direkt neben dem Bahnhof. Eine der vier Halbschranken lässt sich nicht richtig schließen, und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf.
Die Schranke, so rekonstruieren es die Ermittler später, verfängt sich in einem Telefonkabel, das schon länger quer über dem Bahnübergang hängt und sich wegen der Hitze verformt hat. Als der Schrankenwärter die Schranken nochmals hochzieht, um das Kabel zu lösen, setzt der Lasterfahrer seinen Tankwagen in dem Glauben in Bewegung, der Übergang sei freigegeben. Die Lok des Zuges, der trotz der Probleme am Übergang kein Stopp-Signal erhält, kracht in den Laster. 15.000 Liter Leichtbenzin entzünden sich und verwandeln mehrere Waggons und angrenzende Gebäude in ein Feuermeer.
Der Zug kommt im Bahnhof zum Stehen, aus den brennenden Waggons dringt das verzweifelte Schreien der Menschen, von denen es vielen nicht gelingt, sich ins Freie zu retten. Auch der Lasterfahrer stirbt. Der Schrankenwärter und der damalige Bahnhofsvorsteher werden später zu Haftstrafen von je fünf Jahren verurteilt.
Hans-Günter Bodewell reagiert sofort. "Raus hier, so schnell wie möglich", beschreibt er 50 Jahre später seine Gedanken. "Da denkt man überhaupt nicht nach." Viele andere bewegen sich nicht. "Die waren geschockt. Heute verstehe ich das, damals fand ich es unverständlich."
Bodewell, bereits draußen auf dem Bahnsteig, hört die verzweifelten Schreie der Menschen im Zug. "Die Tür zum ersten Waggon stand ein Stückchen offen", erinnert er sich. Der 17-jährige Schüler rennt hin, reißt die Tür auf, Hitze schlägt ihm entgegen, fast 1000 Grad. Es gelingt ihm, eine Mutter und ihr Kleinkind ins Freie zu ziehen. "Das Kind stand voll in Flammen." Bodewell reißt sich das Hemd vom Leib, wickelt das Kind damit ein und erstickt so die Flammen.
Für seinen Einsatz bekommt Bodewell später die Lebensrettungsmedaille der DDR. Überreicht wird sie bei einem Festbankett für die Helfer. "Das empfand ich damals als ganz schlimm", erzählt er. "Da haben sich Leute feiern lassen, die mit der Rettungsaktion gar nichts zu tun hatten." Auch diese Erfahrung ist ein Grund, warum der Musiker nach dem Unglück möglichst wenig mit der Sache zu tun haben will. Und dennoch zeigt die Katastrophe auch bei ihm Folgen. "Ich bin mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr Zug gefahren."
Heute sind die Fenster des einstöckigen Bahnhofsgebäudes mit Brettern vernagelt und mit Graffiti beschmiert. Die Dachrinne rostet vor sich hin, aus dem Schornstein wächst ein kleiner Baum. Nur noch alle zwei Stunden hält ein Zug auf dem Weg nach Magdeburg oder von dort in Richtung Harz. Auf dem Bahnsteig erinnert nichts an das Unglück, das sich hier abgespielt hat. Vorne am Bahnübergang ist vor ein paar Jahren ein Gedenkstein aufgestellt worden. "Da hätte ich mir schon ein bisschen mehr gewünscht", sagt Bodewell. "Nicht mal den genauen Tag, nur die Jahreszahl haben sie draufgeschrieben." Bodewell wird jener 6. Juli für immer im Gedächtnis bleiben. (dpa)
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung
Von Jens Rübsam
vom 15. 7. 1997
Die Fenster vom "Weißen Schwan" sind weit aufgerissen. Die Bee Gees kreischen aus der Dorfkneipe hinaus in die laue Julinacht. Eine kleine Gruppe Menschen geht vorbei. Einer trägt einen Korb, ein anderer einen Eimer mit Blumen. Mittendrin Christina und Eberhard Vater, das Langenweddinger Pfarrerehepaar.
Ein Auto brettert über das Kopfsteinpflaster. Techno hallt nach. Hunde bellen. Die Sparkasse ist hell erleuchtet. Der kleine Menschenzug zieht schweigend weiter. Die Halberstädter Straße entlang, hinaus zum Langenweddinger Bahnhof. Der letzte Zug aus Richtung Magdeburg fährt ein. Es ist Viertel nach elf. Wenig später knipst eine Frau im Stellwerk das Licht aus. Schließt die Tür ab. Steigt in ihr Auto und fährt weg.
Christina Vater legt Blumen vor das holzverbretterte Bahnhofsgebäude. Ihr Mann gießt Wasser in ein Gurkenglas und stellt einen Margeritenstrauß hinein. Jemand zündet Kerzen an. Dann schweigen alle. Und dann singen sie "Im Dunkel unserer Nacht entzünde das Feuer, das nie mehr verlöscht". Anschließend sagt Pfarrer Vater: "Ich hoffe, dass hier viele Menschen vorbeikommen und sich erinnern."
Bahnhof Langenweddingen, vor dreißig Jahren, am 6. Juli 1967.
Um 7.51 Uhr wird Fahrdienstleiter Robert Benke der Personenzug 852 Magdeburg-Thale angemeldet. Ein Sonderzug mit 540 Reisenden, darunter über 50 Mädchen und Jungen, deren Eltern im Baustoffwerk Magdeburg arbeiten. Die Reise soll in den Harz gehen, ins Betriebsferienlager. Um 7.57 Uhr sieht der 63jährige Fahrdienstleiter die Rauchfahne der Lok. Es ist an der Zeit, die Schranken herunterzukurbeln. Noch 63 Sekunden. Mit der linken Hand kurbelt Benke das nördliche, mit der rechten Hand das südliche Schrankenpaar herunter. Der Schrankenbaum der Südost-Schranke verfängt sich in der Fernsprechleitung, die quer über den Bahnübergang verläuft. Durch mehrmaliges Aufundabbewegen versucht Benke, den Schrankenbaum freizubekommen. Noch ist der P852 200 Meter vom Bahnübergang entfernt. Er nähert sich mit 85 Stundenkilometern.
Auf der F 81 fährt Fritz Tacke-Unterberg mit seinem Minol-Tanklaster auf den Bahnübergang zu. Die halbgeschlossene Schranke, vermutete man später, muss er als Aufforderung verstanden haben, noch schnell durchzufahren.
Die Lok prallt auf das Führerhaus des Tanklastzuges. Der Tanklastzug wird einige Meter mitgeschleift. 15.000 Liter Leichtbenzin explodieren. Das brennende Benzin quillt in die ersten beiden Doppelstockwaggons. Die Flammen greifen über auf das Bahnhofsgebäude. Drei weitere Wagen geraten in Brand. 77 Menschen verbrennen, 44 sind Kinder. An den Folgen sterben weitere 17 Menschen: das schwerste Zugunglück der DDR.
Das Zentralkomitee der SED spricht den Familienangehörigen sein "tiefempfundenes Mitleid" aus. Das Neue Deutschland titelt "Die Verletzten des schweren Verkehrsunglücks erhalten jegliche Fürsorge". Ein Beileidstelegramm von Tito, eins von Leber, dem westdeutschen Verkehrsminister, eins vom Papst. Für den 11. Juli 1967, den Tag der Beerdigung, wird im Bezirk Magdeburg Volkstrauer angeordnet. Die Gebäude der staatlichen Organe und die Volkseigenen Betriebe flaggen Halbmast.
Um 11 Uhr verharren Passanten schweigend auf den Straßen, Autofahrer halten an. Der Rundfunk überträgt die Trauerfeier vom Magdeburger Westfriedhof. Das ND schreibt: "Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass die unmittelbaren Ursachen des Zusammenstoßes vor allem in Pflichtverletzungen von Mitarbeitern des Bahnhofs Langenweddingen zu suchen sind.
Seit dem 4. Juli 1967 wurde das Schließen der Schranken durch zu tief hängende Fernsprechleitungen der Deutschen Post wiederholt behindert. Entgegen den Dienstvorschriften der Reichsbahn haben die Verantwortlichen die Mängel weder im Prüfungsbuch für Schrankenanlagen eingetragen noch der zuständigen Signal- und Fernmeldemeisterei gemeldet." Die Schuldigen sind gefunden.
Haftbefehle werden erlassen. Die Angehörigen der Opfer bekommen eine kostenlose Beerdigung, einen Grabstein und eine kleine Entschädigung, ein paar hundert Mark. Manche bekommen noch einen Kuraufenthalt. Dann wird nicht mehr gesprochen über das Zugunglück.
Auch die Langenweddinger tun es nicht. "Es war schlimm genug", sagen sie immer wieder. Hans-Georg Gerlach, damals zwanzig und Brandschutzhelfer, hat mitgeholfen an der Unglücksstelle, wie viele Langenweddinger. Hat verbrannte Hände angefasst und dann Fingerkuppen und Nägel in den eigenen gehalten. Helmut Bartels war einer der ersten am Bahnhof, fünf Minuten danach. Hat verbranntes Fleisch gerochen, hat die Kinder gesehen. Und eine Frau, die brennend aus dem Zug sprang. Hat Fritz Tacke-Unterberg, den Tanklastfahrer, gekannt. Den alten Mann, der bald in den Ruhestand gegangen wäre. Lange hat Helmut Bartels nicht darüber geredet. Erst jetzt redet er, wo es diese Ausstellung in der Sparkasse gibt, initiiert vom Pfarrerehepaar Vater.
"Langenweddingen hat lange getrauert", sagt Inge Fricke mit Bestimmtheit und erinnert sich an jenen 6. Juli 1967. An die schwarzen Wolken überm Dorf und daran, dass sie dachte, es regne. Und wie sie mit ihrer Tochter ins Haus zurückging, um einen Regenschirm für den Weg zum Kindergarten zu holen. Aber noch einmal darüber sprechen? "Die Pioniere sind ja jedes Jahr im Juli auf den Magdeburger Friedhof gefahren." Simone Hagen steht mit ihren Schülern vor der Ausstellung. "Die Kinder wissen nichts über das Unglück. Es gibt ja keine Erinnerung im Ort." Viele ältere Langenweddinger würden das, was geschehen ist, lieber für sich behalten, als offen darüber zu sprechen.
Es gibt keine Gedenktafel im Ort, keinen Hinweis am Bahnhof, nichts. Karl- Heinz Daehre, Langenweddinger und CDU-Vorsitzender von Sachsen-Anhalt, weiß um die gängigen Erklärungen: "Ich könnte sagen, das hing mit den Verhältnissen zusammen. Für den Staat war es nicht interessant, dieses Unglücks zu gedenken." In Langenweddingen erzählte man sich lange, die zu tief hängende Telefonleitung über dem Bahnübergang sei von den "Freunden" installiert worden. Die Russen für das Unglück verantwortlich machen?
Juli 1997, dreißig Jahre nach dem Unglück. Das Ehepaar Vater hat sich eingerichtet im Pfarrhaus am Kirchtor 25. Den Garten hinterm Pfarrhaus wieder hergerichtet. Einen Teich angelegt. Angefangen, die Kirche zu sanieren. Die Scheune als offenes Haus der Dorfjugend zur Verfügung gestellt. Man kann nicht nur über die Jugend schimpfen, man muß auf sie zugehen, haben sich die Vaters gesagt. Freilich, der Rückschlag kam im März. Die Scheune brannte ab. Brandstiftung.
Seit dreieinhalb Jahren sind die Vaters jetzt in Langenweddingen, "und langsam", sagt Christina Vater, "fängt die Mauer an zu bröckeln zwischen Kirchgemeinde und Dorfbewohnern". Die Leute kommen wieder in die Kirche. Manche nutzen wieder den Weg über das Kirchengelände als Abkürzung ins Dorf. Und manche machen wieder einen Spaziergang hier. Viele Jahre war das anders. Warum? Darüber lässt sich spekulieren. An jenem 6. Juli 1967 war der Pfarrer Raschke im Urlaub - und kam nicht zurück. Der damalige Superintendent von Wanzleben, Gerhard Bäumer, sagt heute: "Ein Pfarrer wäre es seiner Gemeinde schuldig gewesen, zu kommen." Und: "Es bleibt dabei, wir haben Sachen, die wir hätten machen müssen, nicht gemacht." Eine Andacht am Abend nach dem Unglück - das war's, was die evangelische Kirchgemeinde leistete.
1993, als für Christina und Eberhard Vater feststand, dass sie dem Ruf nach Langenweddingen folgen würden, war ihnen klar: "Wir werden mit dem Zugunglück leben müssen." Und als sie in Langenweddingen angekommen waren, wurde ihnen deutlich, was trotz staatlicher Hilfe versäumt wurde: die psychologische Betreuung der Opfer und der Helfer. "Was Menschen in sich verschließen, verhärtet sich nur", sagt Christina Vater. "Sie müssen reden, ihre Gefühle nicht abschotten."
Jetzt reden die Langenweddinger. Herr Bartels. Und Frau Fricke. Frau Hagen. Und ihre Schüler. Sie stehen in der Sparkasse vor den Tafeln, auf denen das Zugunglück dokumentiert ist. Herr Bartels erzählt, daß er Glück gehabt habe. Wäre er fünf Minuten früher mit seinem Trecker losgefahren, dann... Frau Fricke erzählt von ihrem Bruder im Westen, der mehr wissen wollte über das Unglück. Philipp Kahler aus der 6b erzählt von seinem Opa, der jetzt, da auch die Zeitung über das Unglück schrieb, zum ersten Mal von damals erzählt habe. Christina Vater steht abseits der Stellwände und hört zu. Freut sich, etwas angeschoben zu haben - zunächst gegen den Gemeindekirchenrat, der ihr davon abgeraten hatte.
Hannelore und Lothar Hermes sitzen in der Langenweddinger Kirche und hören das eigens komponierte Requiem. Hören die letzten Worte des Sprechers: "24 Stunden nach dem tragischen Verkehrsunfall ist nach unermüdlichem Einsatz die Unglücksstelle wieder passierbar." Schütteln beim Hinausgehen Pfarrer Vater die Hand. Lothar Hermes hat Tränen in den Augen. Lange war er nicht mehr in Langenweddingen. Genauer gesagt: dreißig Jahre. Jetzt ist er von Schackensleben herübergekommen, eine halbe Stunde mit dem Auto.
Zwei Jungen, Ingo und Otmar, haben die Hermes am 6. Juli 1967 verloren. Und eigentlich sollten auch der älteste Sohn Klaus und Edgar, der jüngste, mit ins Ferienlager fahren. Nur weil Klaus mit der Schule auf Jugendweihefahrt wollte, meldete Lothar Hermes Klaus und Edgar um - für den zweiten Durchgang. Sie sind nicht mehr gefahren.
Lothar Hermes sitzt in seinem Wohnzimmer und starrt an die Wand. Lange hat ihn keiner mehr nach Ingo und Otmar gefragt. Ja, das Leben habe damals weitergehen müssen. Schon der anderen Söhne wegen. Der jüngste, Udo, kam am 9. August 1967, einen Monat nach dem Unglück, zur Welt. Lothar Hermes steht auf und nimmt ein Bild von der Wand, wischt den Staub mit dem Handrücken beiseite und zeigt auf seine Jungen: links Ingo, in der Mitte Otmar, und Edgar ist auch noch drauf. "Ja, es musste weitergehen." Man habe sich geholfen im Betrieb. Viele seien ja betroffen gewesen. Die Eltern bekamen ein paar Tage frei. Der Werkstattleiter führte Gespräche. Der Mann von der Versicherung war der einzige, der noch Jahre später regelmäßig bei den Hermes vorbeischaute. "Unter den Kollegen im Baustoffwerk hat man wenig darüber geredet", sagt Lothar Hermes. Klar, anfangs sei natürlich eine traurige Stimmung dagewesen. Dann sei die Arbeit weitergegangen, normal. Irgendwann habe er den Betrieb gewechselt.
Tränen. "Meine Mutter hat die Jungs damals an den Zug gebracht. Und sie in den ersten Wagen gesetzt", sagt Lothar Hermes. Dann, gegen 9 Uhr, sei eine Betriebsversammlung einberufen und den Eltern mitgeteilt worden, was in Langenweddingen passiert ist. Jeder habe gehofft. Aber im ersten Wagen! "Die Jungs hatten keine Chance." Spät am Abend wurden seine Frau und er ins Krematorium auf dem Magdeburger Westfriedhof bestellt. Sachen lagen aufgereiht. Fetzen von Taschen. Schnallen von Schuhen "Ich habe die Kofferschlüssel meiner Jungs erkannt." Zwei gleiche, jeder mit einem Herzen drin. "Und dann habe ich noch die Turnhosen wiedererkannt." Die von der Westverwandtschaft. Da wusste er, seine Jungs waren dabei. Was im Sarg drin ist, das wissen die Hermes nicht. Es sei ihnen nicht erlaubt worden reinzuschauen. Nur einer, der den Sarg getragen habe, habe später zu ihnen gesagt: "Ein Geruch war da."
Die Hermes wollten nicht, dass die Söhne auf dem Magdeburger Westfriedhof beerdigt werden. So gab es drei Tage später, am 14. Juli 1967, in Schackensleben noch einmal eine Trauerfeier. Und nun diese Gedenkfeier, die erste nach dreißig Jahren. "Den Vaters ist zu danken, dass meine Jungs nicht vergessen werden", sagt Lothar Hermes.
Im "Weißen Schwan" wird noch immer getanzt. Aus den Fenstern kreischt DJ Bobo. Der kleine Menschenzug zieht denselben Weg durchs Dorf zurück. Christina und Eberhard Vater haben sich untergehakt.
Quelle: taz.de
Weiterführende Links
Langenweddingen- die priv. Homepage
Wikipedia
deacademic
Mitteldeutsche Zeitung
Wikimedia
eigene Anm.: Meine Mutter war Angestellte der Deutschen Reichsbahn. Sie hat diese Ereignisse, obwohl nicht beteiligt, persönlich stark mitgenommen.
Deshalb wurde etliche Presseerzeugnisse ausgeschnitten und gesammelt. Obige Aufzeichnungen sind aus diesen Artikeln. Ich habe sie im Nachlass noch nach 50 Jahren gefunden. Meine Mutter wollte diese Stelle auch immer mal aufsuchen, hat aber immer wieder gezögert und auf später verschoben.
Am 19.08.2018 hat sich eine Gelegenheit ergeben und ich habe diesen Bahnübergang aufgesucht und einige der obigen Fotos aufgenommen.
Die Namensliste berührt einen auch heute noch. Man erkennt, wieviele Familien hier ihre Angehörigen verloren haben.
Was stört sind die pathetischen Worte. Es sind eben Politiker und Funktionäre.