Michael Rasch (Text), Charlotte Eckstein (Illustrationen)
07.12.2022, 05.30 Uhr
Der Betrug bei Wirecard und die anschliessende Insolvenz - das ist ein Drama in mehreren Akten, das sich über viele Jahre hinzieht. Gerüchte über Manipulationen gab es lange, diese kulminierten im Jahr 2019 durch Berichte der "Financial Times". Im Sommer 2020 fiel dann das Wirecard-Kartenhaus in sich zusammen. Seitdem sitzen zentrale Figuren im Gefängnis oder müssen Anklagen befürchten. Ein Beschuldigter ist auf der Flucht. Am Donnerstag beginnt in München der Prozess gegen den früheren Konzernchef Markus Braun und zwei weitere Manager, von denen einer als Kronzeuge fungiert.
Kritische Berichte von Analysefirmen und Medien sorgen immer wieder für Aufsehen und Kursstürze bei den Aktien des Finanzdienstleisters Wirecard. Erste Manipulationsvorwürfe hatte es sogar schon im Jahr 2008 gegeben. Der Vorstandsvorsitzende Markus Braun und weitere Führungsfiguren streiten diese stets vehement ab.
Die "Financial Times" sorgt mit mehreren Berichten für Aufruhr. Die britische Wirtschaftszeitung wirft Wirecard auf Basis von Dokumenten vor, die ihr von einem Whistleblower zugespielt wurden, dass Angestellte in Singapur Kunden und Umsätze erfunden hätten. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin verbietet daraufhin zeitweise Leerverkäufe von Wirecard-Aktien und erweckt so den Eindruck, sich auf die Seite des Konzerns zu stellen.
Erneut erhebt die "Financial Times" den Vorwurf der Manipulation: Interne Unterlagen würden nahelegen, dass Wirecard zu hohe Umsätze und Gewinne bei Tochtergesellschaften angegeben habe. Der Konzern beauftragt daraufhin die Wirtschaftsprüfer von KPMG mit einer Sonderprüfung, welche die Vorwürfe aber am Ende nicht ausräumen können. Die eigentliche Bilanzprüfungsgesellschaft von Wirecard ist seit Jahren EY. Die Firma hatte die Jahresabschlüsse jedoch jeweils ohne Einschränkungen testiert.
Die Staatsanwaltschaft München I bestätigt, dass die Finanzaufsicht Bafin gegen Verantwortliche von Wirecard eine Strafanzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation eingereicht hat.
Die bereits wiederholt vertagte Veröffentlichung des Geschäftsberichts für das Jahr 2019 und die für denselben Tag terminierte Bilanzpressekonferenz werden ohne neuen Termin verschoben. Wirecard gesteht ein, dass die Wirtschaftsprüfer von EY keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnten. Sie betreffen das sogenannte Drittpartnergeschäft in Asien.
Der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun tritt zurück. Er sitzt seit Sommer 2020 in Untersuchungshaft. Der operative Vorstand Jan Marsalek, wie Braun ebenfalls Österreicher, ist seitdem untergetaucht und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Laut Gerüchten ist er über Weissrussland nach Russland geflüchtet und hält sich im Raum Moskau auf.
Wirecard stellt beim Amtsgericht München wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung einen Insolvenzantrag.
Der Deutsche Bundestag beschliesst die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses auf Antrag der damaligen Oppositionsparteien. Nach der Anhörung von Sachverständigen beginnt am 19. November 2020 die öffentliche Befragung von Zeugen, unter anderem von Markus Braun.
Der Untersuchungsausschuss legt am 22. Juni seinen Abschlussbericht vor, der drei Tage später im Bundestag diskutiert und zur Kenntnis genommen wird. Anfang des Jahres hatten bereits der Bafin-Chef Felix Hufeld und seine Stellvertreterin Elisabeth Roegele von ihren Posten zurücktreten müssen. Neben der politischen Aufarbeitung laufen die juristischen Ermittlungen weiter. Diese betreffen auch die Prüfungsgesellschaft EY. Die Abschlussprüfer-Aufsichtsstelle (Apas) hatte Strafanzeige gegen EY-Verantwortliche eingereicht. Sie selbst prüft Sanktionen gegen einzelne EY-Mitarbeiter und das Unternehmen. Die Ergebnisse des Apas-Verfahrens werden für Anfang 2023 erwartet.
Die Staatsanwaltschaft München I erhebt Anklage gegen den ehemaligen Konzernchef Markus Braun. Das teilte die Behörde am 14. März der Öffentlichkeit mit. Die Strafverfolger werfen Braun und zwei weiteren ehemaligen Wirecard-Managern "gewerbsmässigen Bandenbetrug" vor. Dazu kommen Marktmanipulation, falsche Darstellungen in Geschäftsberichten sowie Untreue. Bei den Managern handelt es sich um Stephan von Erffa (früherer Chefbuchhalter der Wirecard AG) und Oliver Bellenhaus (früherer Geschäftsführer der Cardsystems Middle East, einer in Dubai ansässigen Enkelgesellschaft der Wirecard AG). Bellenhaus dient der Anklage als Kronzeuge.
Das Landgericht München I erklärt in einem Zivilverfahren die Bilanzen der Wirecard AG der Jahre 2017 und 2018 nachträglich für nichtig und gab damit der Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé statt. Nichtig sind damit auch die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre.
Das Oberlandesgericht München teilte mit, dass die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts München I die Anklage gegen "Dr. Markus B." und zwei weitere Angeklagte unter anderem wegen des Verdachts des gewerbsmässigen Bandenbetrugs "unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen" hat.
Vor der grossen Strafkammer des Landgerichts München I beginnt der Prozess gegen Markus Braun sowie die früheren Manager Stephan von Erffa und Oliver Bellenhaus. Letztgenannter agiert als Kronzeuge. Anberaumt sind zunächst 100 Verhandlungstage bis kurz vor Weihnachten 2023. Verhandlungsort ist der Sitzungssaal in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Zwei der drei Beschuldigten befinden sich noch in Untersuchungshaft. Der frühere operative Vorstand Jan Marsalek ist weiterhin auf der Flucht.
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