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- Warum erneut vor Gericht über den "Estonia"-Untergang gestritten wird
- "Estonia"-Schiffsunglück: Die Verschwundenen von Utö
Von Alexander Preker
22.08.2022, 20.59 Uhr
Foto: epa Scanpix Samuelson/ dpa
Der Untergang der Ostseefähre "Estonia" zählt zu den größten Schifffahrtskatastrophen der Nachkriegszeit. 852 Menschen starben an jenem 28. September 1994, nur 137 überlebten das Unglück vor der südwestlichen Küste Finnlands. Bis heute halten sich hartnäckig Mythen über angebliche Ursachen - von Terroranschlag über verrutschte Ladung bis hin zu einer missglückten Geheimdienstoperation.
Zuletzt befeuert wurden die Vermutungen durch einen Fund des Dokumentarfilmers Henrik Evertsson, der zusammen mit dem Wrackexperten und Unterwasserfilmer Linus Andersson im September 2019 einen Tauchroboter zur "Estonia" geschickt hatte. Was sie fanden, war bemerkenswert: unter anderem ein mehrere Meter großes Loch im Schiffsrumpf und ein weiteres an anderer Stelle.
Doch der Rechercheerfolg und die inzwischen nun auch von den Behörden selbst wieder aufgenommenen Untersuchungen zu dem Untergang haben für die beiden Filmemacher einen bitteren Beigeschmack. Ihnen wird in Göteborg nun erneut der Prozess gemacht. Darum geht es:
Eigentlich hätte die Sache längst erledigt sein müssen. Die beiden standen nämlich schon einmal wegen der Aufnahmen des Wracks vor Gericht. Der Vorwurf lautete damals wie heute: Störung der Totenruhe. Denn die Behörden hatten das Wrack unter das Grabfriedensrecht gestellt. Man durfte sich nicht nähern, die Unglücksstelle auf See soll geschützt sein. Viele der Toten konnten nicht geborgen werden.
Das Bezirksgericht von Göteborg entschied damals, dass die beiden sich dem Wrack näherten, sei zwar strafbar, sie könnten aber nicht verurteilt werden, weil sie während der Dreharbeiten an Bord eines Schiffs waren, das unter deutscher Flagge in internationalen Gewässern fuhr. Das Gericht sah keine Grundlage für eine Verurteilung nach schwedischem Gesetz, da Deutschland nicht an die zwischen Estland, Finnland und Schweden getroffene Grabfriedensvereinbarung gebunden ist. Das deutsche Schiff sahen die Juristen als deutsches Territorium.
Doch nach dem Freispruch legte die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel ein. Das Berufungsgericht in Göteborg hob das Urteil des Bezirksgerichts im Februar auf - und überwies den Fall zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz. Die Richter waren der Ansicht, dass der Fall doch nach schwedischem Recht überprüft werden könne.
Unterwasserfotograf Linus Andersson zeigt sich verwundert über den neuen Prozess. Die Fakten seien alle bekannt, falls er und Evertsson nun doch verurteilt werden würden, "wäre es traurig", sagte er dem Sender SVT. "Es ist ärgerlich, wenn es wieder auftaucht und wieder von vorn beginnt." Wenn es so wäre, würden sie sich Gedanken machen, ob sie weiterkämpfen würden. Ein Urteil soll am 5. September verkündet werden.
Selbst wenn sie juristisch jetzt noch verantwortlich gemacht werden sollten, so trugen die Recherchen der beiden einen wesentlichen Teil dazu bei, dass die schwedischen Behörden nun den Untergang selbst noch mal genauer untersuchen wollen - gemeinsam mit Finnland und Estland. Die schwedische Havariekommission hatte die Regierung aufgefordert, den Grabfrieden hierfür zu lockern. Entsprechende gesetzliche Änderungen traten vor rund einem Jahr in Kraft.
Inzwischen sind Voruntersuchungen angelaufen, unter anderem mit dem Forschungsschiff "Electra af Askö". Die Vorstudie im Sommer 2021 bestätigte anhand von Untersuchungen mit Sonargeräten und einer Kamera die Ergebnisse der beiden Filmemacher.
Die Frage, wie die insgesamt zwei Löcher in den Rumpf kamen, ist damit allerdings weiter offen. Zudem zeigte die behördliche Untersuchung eine Öffnung am Schiffsbug. Danach befinde sich die Bugrampe nicht mehr an ihrem üblichen Platz, sondern liege - von ihren Halterungen gelöst - auf der Seite. Es gibt also eine Öffnung zum Autodeck.
Die Berichte über den Zustand des Wracks haben auch viele Angehörige der Opfer bewegt. Gelingt es ihnen, doch noch den Grund für den Tod ihrer Liebsten herauszufinden - oder womöglich sogar noch sterbliche Überreste nach Hause zu bringen? Ursprünglich hatte der damalige Ministerpräsident Carl Bildt sogar versprochen, das Schiff zu heben.
Nach der Änderung des Gesetzes und dem Beginn der staatlichen Untersuchung kündigten die Hinterbliebenen der Opfer im Herbst 2021 an, das Wrack selbst mit einem Tauchgang inspizieren zu wollen. Mitorganisator Raivo Hellerma von der Hinterbliebenenorganisation Memento Mare sagte damals aber auch: "Wir suchen nicht nach Schuldigen oder versuchen, eine bestehende Theorie zu beweisen."
Foto: Jaakko Aiikainen / dpa
Das schwedische Fernsehen sprach mit einer Überlebenden, die sich auch über den Prozess Gedanken macht. Sie könne nicht verstehen, wie das Filmen im Freien, das dazu noch solch bedeutende Ergebnisse hervorgebracht habe, ein Verbrechen sein könne, sagte sie SVT. Und: "Ich denke, dass ihre Arbeit richtig war."
Unterdessen gibt es immer weitere Hinweise, die die offizielle Ursache für den Untergang infrage stellen. Nachdem im Jahr 2000 Spekulationen die Runde machten, dass eine Explosion den Untergang der "Estonia" verursacht haben könnte, hieß es 2008, die Fähre sei offenbar bei schwerer See viel zu schnell gefahren. Diesen Sommer erhielten die Spekulationen nun neue Nahrung. Zum einen, weil der ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsident Ingvar Carlsson die Regierung im Radio dazu aufforderte, bekannt zu geben, ob sich zum Zeitpunkt des Untergangs Militärtransporte auf der "Estonia" befanden. In wenigen Wochen wird in Stockholm ein neuer Reichstag gewählt.
Zum anderen kam im Juni dieses Jahres heraus: Eines der Löcher ist deutlich größer als gedacht. Im Rumpf klaffe eine mindestens 40 Meter lange und sechs Meter breite Öffnung statt der bisher angenommenen 22 Meter, teilte die estnische Havariekommission unter Berufung auf Ergebnisse einer Photogrammetrie-Untersuchung mit. Ein kleiner Unterwasserroboter konnte sogar bis auf das Autodeck vordringen. Ein Ermittler der schwedischen Unfalluntersuchungsstelle sagte damals aber auch, dass das nicht unbedingt eine Überraschung sei. Die Schäden könnten sich im Laufe der Jahre verschlimmert haben.
Bis es endgültige Ergebnisse von der Untersuchung vom Juni gibt, kann es allerdings noch ein paar Monate dauern - und auch dann ist längst nicht gesichert, ob wirklich eine neue Ursache für den Untergang festgestellt werden kann. Laut offiziellem Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 gilt das Bugvisier als Grund. Die Dutzende Tonnen schwere Klappe wurde bei dem Unglück herausgebrochen.
Das Wrack des damals innerhalb von nur einer halben Stunde untergegangenen Schiffs macht derweil auch über Wasser von sich reden. Ebenfalls diesen Sommer gab die finnische Schifffahrtsbehörde laut der schwedischsprachigen Zeitung "Hufvudstadsbladet" bekannt, dass an der Stelle des Untergangs immer wieder Öl an die Oberfläche kommt.
"Die Estonia hat auch in der Vergangenheit eine kleine Menge Öl verloren, aber jetzt hat sich das Leck über einen längeren Zeitraum fortgesetzt", hieß es demnach. Die Bekämpfung sei unter den derzeitigen Umständen aber "unmöglich". Woher das Öl genau stammt, ist unklar, noch immer befinden sich aber die Fahrzeuge an Bord.
Aktenzeichen: B 2415-22
Quelle: Mit Material der dpa | Spiegel
Foto: DPA
Von Peter Maxwill
28.09.2014, 11.18 Uhr
In Estlands Hauptstadt Tallinn war es noch dunkel am Morgen des 28. Septembers 1994, als Sirje Piht morgens um halb sechs Uhr ans Telefon ging. "Ist dein Mann zu Hause?", fragte ein Freund am anderen Ende der Leitung. "Nein, ist er nicht", antwortete sie. "Mach das Radio an", kam es aus dem Hörer zurück, "ich rufe gleich wieder an."
Im Radio erfuhr Sirje Piht vom größten Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte: 200 Kilometer westlich von ihrer Wohnung, mitten in der Ostsee, war in der Nacht zuvor die Fähre "SM Estonia" untergegangen. 989 Menschen waren auf dem Weg vom estnischen Tallinn nach Stockholm gewesen, nur 137 überlebten die Katastrophe - darunter sollte auch Sirje Pihts Ehemann Avo sein, der zweite Kapitän des Schiffs. Trotzdem kehrte der erfahrene Seemann nie zu seiner Frau zurück. Sein Verschwinden war nur eines der vielen Mysterien rund um das Unglück.
Das Unglück hatte seinen Anfang genommen, als im "Estonia"-Nightclub gerade die Tanzgruppe "Pantera" ihre zweite Show des Abends aufführte. Während die jungen Frauen zu Popmusik hüpften, prügelte der erste Kapitän Arvo Andresson die 24.000 PS starken Dieselmotoren der Fähre auf Hochtouren - bei Windstärke neun, mitten in einem ausgewachsenen Sturm.
Foto: ASSOCIATED PRESS
Bald schüttelten fünf Meter hohe Wellen das 155 Meter lange Schiff so sehr durch, dass eine der "Pantera"-Tänzerinnen mehrfach ins Schlagzeug torkelte. Dann erschütterte plötzlich ein Krachen die Fähre, und alles ging rasend schnell: Das Schiff kippte nach rechts, in die unteren Decks brach die aufgewühlte Ostsee ein, und um 1.21 Uhr setzte Kapitän Andresson einen Funkspruch ab: "Wir haben schwere Schlagseite", sagte der 40-Jährige, "ich glaube 20, 30 Grad." Pause. Dann gab der "Estonia"-Funker noch die Position durch: 59 Grad, 22 Minuten Nord und 21 Grad, 48 Minuten Ost. Funkstille. Um 1.53 Uhr verschwand die Fähre vom Radar der zur Hilfe eilenden Schiffe.
Der genaue Hergang des Unglücks ist bis heute nicht aufgeklärt. Unstrittig ist aber: Das Schiff sank innerhalb einer halben Stunde. Zuvor war die 55 Tonnen schwere Bugklappe, die auf hoher See die Zufahrt zu den Autodecks verschließen soll, knapp 35 Kilometer südlich der finnischen Insel Utö abgebrochen.
Aber lässt sich die Katastrophe allein damit erklären? Meldungen über illegale Waffenlieferungen im Schiffsbauch, Löcher im Wrack der Fähre und angebliche Geheimdienstverwicklungen regen bis heute zu Spekulationen an.
Umso erstaunlicher war das 1997 veröffentlichte Ergebnis der Havariekommission, die im Auftrag der Regierungen Schwedens, Estlands und Finnlands die Katastrophe untersucht hatte. Demnach war die Verriegelung der Bugklappe zu schwach gewesen, der Schuldige also ausgemacht: die Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg, die das Schiff 1980 gebaut hatte. "Das hätte der 'Estonia' schon auf ihrer Jungfernfahrt passieren können", behauptete Kommissionschef Uno Laur. Warum aber sank die angeblich schludrig konzipierte "SM Estonia" dann erst nach 14 Jahren im Dauereinsatz?
Die Liste der Erklärungsansätze für dieses Rätsel ist lang. So zitierten russische und estnische Zeitungen 1996 aus einem mysteriösen "Felix-Report" , angeblich verfasst von Veteranen des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Kapitän Andresson habe in der Unglücksnacht eigenmächtig die Bugklappe geöffnet, um Heroin der estnischen Mafia vor dem Zugriff des alarmierten Zolls im Meer zu versenken. So soll Andresson die Katastrophe ausgelöst haben, die er selbst nicht überlebte.
Foto: JAAKKO AVIKAINEN/ ASSOCIATED PRESS
Das merkwürdige Verhalten der zuständigen Behörden gab dieser und ähnlichen Theorien Nahrung: Seltsam war etwa, dass die Untersuchungskommission alle Winkel des Schiffs mit Kameras untersuchen ließ - nur das Autodeck nicht, wo das Wasser zuerst einbrach. Und warum orderte die schwedische Regierung einen 65 Millionen Mark teuren Betonsarkophag für das Schiff mitsamt der darin eingeschlossenen Leichen, obwohl deren Bergung kaum ein Zehntel des Geldes gekostet hätte?
Weil man dann die mutmaßlichen, unter Duldung der Behörden aufs Schiff geschmuggelten Waffen gefunden hätte? Oder wegen anderer Ungereimtheiten: Das estnische Transportministerium hatte etwa am Unglückstag erklärt, Kapitän Avo Piht gehöre zu den 43 geretteten Crewmitgliedern, die zur finnischen Insel Utö gebracht wurden. Finnische und estnische Fernsehsender zeigten später die Überlebendenliste mit Pihts Namen darauf; Augenzeugen berichteten, den 39-Jährigen beim Verteilen von Schwimmwesten auf dem Schiffsdeck und in einer der Rettungsinseln gesehen zu haben; ein befreundeter Kapitän rief Pihts Familie an und versicherte, ihn auf Fernsehbildern aus Finnland erkannt zu haben. Doch dann verlor sich Pihts Spur - ebenso wie die von sieben weiteren Überlebenden, die plötzlich nicht mehr aufzufinden waren.
Dabei hatte der schwedische Ministerpräsident nach dem Unglück schnelle Aufklärung versprochen: "Das Schiff und die Leichen sollen so bald wie möglich geborgen werden", hatte Carl Bildt in die TV-Kameras gesagt. Doch die "Estonia" liegt bis heute in 80 Metern Tiefe auf dem Grund der Ostsee, und nicht nur das: Statt das Wrack zu bergen, stellten die Regierungen Schwedens, Finnlands und Estlands alle Tauchgänge dorthin unter Strafe. Hatten sie etwas zu verbergen?
Foto: Kimmo Mantyla / AFP
Davon gehen die Anhänger einer Theorie aus, die auf Untersuchungen deutscher Experten zurückgeht. Das Team um den Seerechtler Peter Holtappels untersuchte zwischen 1997 und 1999 im Auftrag der Meyer-Werft das Unglück - mit dem Ergebnis, dass die schlampig gewartete Bugklappe ausgeleiert war. Lecks in der Schiffsspitze seien zudem nur notdürftig mit Matratzen und Decken gestopft worden. Die erschreckendste Erkenntnis war demnach jedoch: Der Untergang der "Estonia" war das wohl größte Verbrechen der Seefahrtsgeschichte.
Denn laut dem Bericht gab es drei Explosionen an Bord des Schiffes , bevor die Ostsee es verschlang. Dazu passten auch die Berichte eines Jahre später zum Wrack getauchten TV-Teams, das von Löchern im Schiffsbug berichtete. Schließlich kamen zwei Forschungsinstitute Ende 2000 unabhängig voneinander zu dem Ergebnis: Eine xplosion hatte die "Estonia" kentern lassenE.
Nun schaltete sich die Hamburger Staatsanwaltschaft ein, zuständig für unklare Fälle auf hoher See. Unter dem Aktenzeichen 7101 UJs 33/01 ermittelte sie wegen des Verdachts, ein Terroranschlag habe die "Estonia" in einen gigantischen Sarg verwandelt. Im Herbst 2002 stellten die Ermittler das Verfahren jedoch wieder ein, und zwar wegen einer Studie, die der SPIEGEL in Auftrag gegeben hatte. Demnach waren die vermeintlichen Hinweise auf Detonationen im Schiff lediglich Rückstände einer Rostschutzbehandlung. Die Explosionstheorie war implodiert.
Foto: Markku Ulander / AFP
Mehr als 13 Jahre sollten vergehen, bis eine schlüssige Erklärung für die Katastrophe gefunden war. Experten der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt und der Technischen Universität Hamburg-Harburg imulierten von 2006 bis 2007 den Untergang des Schiffess . Ihr Ergebnis: Die Bugklappe hatte sich in jener Septembernacht gelöst, weil die "Estonia" viel zu schnell durch die stürmische Ostsee gefahren war. Ein panisches Lenkmanöver während der Katastrophe hatte das Kentern sogar noch beschleunigt.
Trotzdem: Alle Fragen waren noch immer nicht beantwortet, es blieb das Rätsel um verschwundene Überlebende wie Kapitän Avo Piht. Pihts Ehefrau Sirje hatte sich schon früh mit ihrer Version der Wahrheit arrangiert. Im November 1996 lud sie Verwandte und Freunde ein, schenkte Sekt aus und reichte Schnittchen. Es wurde gelacht, die Gäste waren in bester Partystimmung. Nur eine Freundin des verschwundenen Seemanns wandte sich zögerlich an Sirje Piht: Ob es nicht seltsam wäre, den Geburtstag eines Mannes zu feiern, von dem keiner wisse, ob er überhaupt noch lebe. Die mutmaßliche Witwe winkte ab: Irgendwo würde ihr verschollener Gatte Avo gewiss leben. Und wahrscheinlich würde auch er gerade auf den Beginn seines 43. Lebensjahres anstoßen.