Corona-Maßnahmen Wenn die Wissenschaft der verlängerte Arm der Politik ist, läuft was schief

Veröffentlicht am 07.02.2021 | Lesedauer: 2 Minuten

Von Tim Röhn

Das Innenministerium hat Wissenschaftlern politische Vorgaben gemacht, um die eigenen Corona-Maßnahmen zu rechtfertigen. Damit hat die Regierung genau das beschädigt, was wir im Kampf gegen die Pandemie am nötigsten brauchen: Vertrauen. Gesundheitsminister Spahn hat sich bereits im Vorfeld zurückhaltend in Bezug auf baldige Lockerungen geäußert. Sehen Sie hier die gemeinsame Pressekonferenz mit RKI-Präsident Wieler und dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts Cichutek.
Quelle: WELT

Am Mittwoch entscheiden Bund und Länder über die weiteren Maßnahmen in der Pandemiebewältigung, und am Ende wird es wahrscheinlich wieder heißen, man habe sich den Einschätzungen der Wissenschaft gebeugt. Seit Beginn der Krise soll dieser Eindruck erweckt werden: Die Politik, sie reagiert bloß auf die Erkenntnisse der Experten. Was muss, das muss. Nicht umsonst verglich Bundeskanzlerin Angela Merkel Covid-19 Ende 2020 mit "einer Naturkatastrophe".

Bloß: Was ist, wenn die Politik der Wissenschaft das gewünschte Forschungsziel vorab mit auf den Weg gibt? Dass genau das im Frühjahr 2020 geschehen ist, darauf deutet eine Recherche von WELT AM SONNTAG hin. Demnach bat das Bundesinnenministerium (BMI) Forscher, ein Modell zu erarbeiten, auf dessen Basis "Maßnahmen präventiver und repressiver Natur" geplant werden könnten. Nicht irgendwelche Forscher, sondern solche des Robert-Koch-Instituts, des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, des Instituts der Deutschen Wirtschaft, der Stiftung Wissenschaft und Politik und mehrerer Universitäten. Sie alle machten gerne mit.

Der Staatssekretär des Ministeriums stand während der Ausarbeitung in engem Austausch mit den Wissenschaftlern, zu denen unter anderem RKI-Chef Lothar Wieler gehörte. Ihn bezeichnete der Staatssekretär in bislang geheimen E-Mails als "meinen Freund". Nach vier Tagen war das Papier fertig: Die Wissenschaftler warnten vor einer Million Corona-Toten und gaben Tipps, wie man die "gewünschte Schockwirkung" erzielen könne: "Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause."

Wenn sich die Politik unabhängigen Rat bei der Wissenschaft holt, ist in einer Pandemie im Blick auf Einschränkungen der Grundrechte alles in Ordnung. Wenn aber die Wissenschaft zum verlängerten Arm der Politik wird, läuft etwas gehörig schief. Dann verlieren die Menschen das Vertrauen in die Entscheidungsträger. In den vergangenen Wochen ist die Zustimmung für den Regierungskurs gesunken, und mutmaßlich hat das nicht zuletzt mit der Expertenauswahl der Regierenden zu tun. Von Lockdown-Hardlinern lassen sich die Mächtigen gerne beraten, andere Strategien werden meist verwischt.

Im Zusammenhang mit der Auftragsarbeit des BMI ist eine Aussage von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller von Mitte Januar nun noch interessanter. Nach der Verlängerung des Lockdowns sagte er, man sei auf dem richtigen Weg: Das hätten alle konsultierten Experten bestätigt. "Ohne Ausnahme."


Quelle: welt.de vom 07.02.2021