Von Tassilo Hummel,Paris
25. April 2020,
Am Vormittag des 15. April erhielt Gabriel Weisser einen Anruf. Ein Arzt teilte ihm mit, dass seine Mutter am Coronavirus erkrankt sei. "Er sagte, er sei gegen 5.30 Uhr morgens bei ihr im Altersheim gewesen", erzählt Weisser, der in Blodelsheim im Elsass wohnt. Sie habe Fieber gehabt und gehustet. "Als einzige Maßnahme hat er ihr Palliativmedikamente verordnet. Also in Wirklichkeit hat er sie gar nicht behandelt. Sie wurde zum Tode verurteilt." Gabriel Weisser schluchzt. Seine Mutter Denise wurde 83 Jahre alt.
Ihr Fieber sei am Morgen nur leicht gewesen und auch ihre Lungenkapazität habe noch bei 85 Prozent gelegen, erzählt Weisser. Trotzdem versuchte der Arzt erst gar nicht, sie zu heilen, sondern verschrieb ihr Medikamente, die ihr ein friedliches Einschlafen ohne Schmerzen ermöglichten und das, ohne Gabriel und seine Geschwister vorher überhaupt zu sprechen. Erst fünf Stunden später rief er sie an und informierte sie über seine Entscheidung. Schon am gleichen Nachmittag fand eine Pflegerin Weissers Mutter tot im Bett.
Wurden in Frankreich in der Hochphase der Corona-Welle ältere Patienten systematisch benachteiligt? Geschichten wie die der Weissers, aber auch vieles andere, deuten darauf hin. Offiziell beteuert die Regierung, dass das Gesundheitssystem den vielen Patienten jederzeit gewachsen gewesen und es nicht zur Triage gekommen sei, dass die Krankenhäuser also nicht auswählen mussten, wen sie noch behandeln und wem sie nur den Tod erleichtern. Aber was, wenn die Krankenhäuser deshalb nicht überlastet waren, weil die Patienten dort gar nicht erst ankamen?
"Man hat dafür gesorgt, dass die Menschen aus den Altersheimen nicht mehr in die Krankenhäuser kommen", sagt Michel Parigot. Er streitet seit Mitte der Neunzigerjahre für mehr Transparenz und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Damals warnte er Frankreich vor den Risiken, die mit dem Baustoff Asbest verbunden sind, mit dem seine Pariser Uni verseucht war. Zusammen mit anderen Anti-Asbest-Aktivisten gründete er das Bündnis "Coronavictimes", Corona-Opfer. Seit Wochen wirft Parigot den Verantwortlichen in Frankreich vor, in der Corona-Krise systematisch ältere Menschen zu benachteiligen.
Der Aktivist, der hauptberuflich als Mathematiker beim Pariser Forschungsinstitut CNRS arbeitet, sagt, das zeige bereits ein Blick auf die Zahlen: Von den bisher etwa 20.000 Corona-Toten in Frankreich starben mehr als 8.000 in Alten- und Pflegeheimen. Die Weltgesundheitsorganisation sagte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag, bis zu 50 Prozent der Todesfälle in Europa könnten von Heimen herrühren. Allerdings legen die meisten Länder anders als Frankreich gar nicht offen, wie viele Menschen genau in Pflegeheimen am Virus gestorben sind.
Am Mittwoch zitierten die Investigativjournalisten der Zeitung Le Canard enchaîné aus einer internen Verwaltungsvorschrift, die das Gesundheitsministerium am 19. März für die medizinischen Einrichtungen erlassen haben soll. Darin heiße es, Ärztinnen und Ärzte seien angehalten, den Zugang von gebrechlichen Patienten auf die Intensivstationen drastisch zu reduzieren.
Der Gesundheitsaktivist Parigot verweist auch auf ein Dekret der Regierung, das für die Dauer des Epidemie-Höhepunkts eine Palliativbehandlung mit schmerzlindernden und sedierenden Medikamenten auch außerhalb von Krankenhäusern ermöglicht. Im Internet entstand daraufhin Panik, befeuert besonders von rechtsextremen Kreisen: Will die Regierung gezielt ältere Menschen sterben lassen, um stattdessen jüngere in den Krankenhäusern zu behandeln? Die staatlichen Stellen stellten schnell klar, dass dies Falschnachrichten seien. Es ginge darum, die Schmerzen von unheilbar kranken Patienten an ihrem Lebensende auch dann lindern zu können, wenn das normalerweise dafür verantwortliche örtliche Krankenhaus aufgrund der Pandemie keine Plätze mehr habe, um einen würdevollen Tod zu ermöglichen.
Für seinen Vorwurf, das System habe Menschen in Alten- und Pflegeheimen systematisch benachteiligt, stützt sich Michel Parigot auf die Berichte von Menschen, deren ältere Angehörige gestorben sind. Wie schwierig es wird, den Beweis zu erbringen, wo es doch im ganzen Land an Tests fehlt, weiß auch der Aktivist. "Man müsste Obduktionen machen", sagt Parigot. Ihm geht es aber vor allem um die Haltung der Regierung: Indem sie sagten, es fände keine Selektion der Corona-Infizierten nach Alterskriterien statt, hätte sie die Franzosen getäuscht. "Man hätte zugeben müssen, dass nicht mehr alle behandelt werden können und die Kriterien offenlegen müssen, nach denen Mediziner entscheiden." Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine medizinethischen Richtlinien, wie Patienten in Überlastungssituationen zu priorisieren sind.
Gabriel Weisser, der im Elsass um seine Mutter trauert, sagt, er leide enorm unter dieser Intransparenz. Die dreißig Tage vor ihrem Tod habe er seine Mutter wegen der Quarantänemaßnahmen im Heim schon nicht mehr sehen können. Nach ihrem plötzlichen Tod "hätte ich mir wenigstens ein Gespräch mit der Pflegerin oder dem Arzt gewünscht, um zu verstehen, nach welchen Kriterien da entschieden wurde". Doch auf ein solches Gespräch wartet er auch eine Woche später noch vergeblich.
Während Gabriel Weisser im Elsass trauert und verzweifelt, reagiert Olivia Mokiejewski mit Wut. Ihre 96-jährige Großmutter ist ebenfalls in einem Pflegeheim am Coronavirus gestorben. "Bis kurz vor dem Tod meiner Großmutter hat die Heimleitung bestritten, dass es dort überhaupt Covid-19-Fälle gab", sagt die Pariser Journalistin. "Wir wissen aber, dass Angestellte zu diesem Zeitpunkt bereits wegen starken Verdachts auf Corona krankgeschrieben waren, einige waren sogar schon im Krankenhaus."
Mokiejewski berichtet, im Heim seien zwar seit Anfang März Besuche untersagt, beim Skypen mit ihrer Großmutter Hermine habe sie aber bemerkt, dass die Pflegerinnen und Pfleger ohne Handschuhe und Masken arbeiteten. Sie konnte bei ihren täglichen Videoanrufen verfolgen, wie sich der Zustand ihrer Großmutter verschlechterte. "Ich habe sie immer müder gesehen, sie ist während des Gesprächs eingeschlafen. Ich habe sie husten gesehen", erzählt Mokiejewski. "Ich habe das der Heimleitung in mehreren E-Mails und Telefonaten mitgeteilt. Man sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie haben einfach keinen Arzt gerufen." Als eine Altenpflegerin Ende März Fieber bei ihr feststellte, sei schließlich doch ein Arzt gekommen, der auch die Enkelin beschwichtigte: Alles sei gut. Mokiejewski, mit ihrer Geduld am Ende, bat daraufhin einen befreundeten Arzt, selbst im Heim nach der Großmutter zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt lag die Großmutter bereits im Sterben. Mokiejewski spricht von einem Skandal.
Zusammen mit einem Rechtsanwalt geht sie jetzt auch juristisch gegen das Heim vor. Träger der Einrichtung ist der große Pflegekonzern Korian, in dessen frankreichweit 60 Einrichtungen offenbar bereits Dutzendende Corona-Erkrankte verstarben. "Der Konzern muss mir jetzt Rechenschaft ablegen", sagt Mokiejewski.
Korian hat in der Sache inzwischen einen Strafverteidiger beauftragt. Auf Anfrage von ZEIT ONLINE teilt er mit, das Unternehmen überlasse die Aufarbeitung des Falles nun der Justiz und wolle ihn nicht weiter kommentieren.
Anders als Mokiejewski macht Gabriel Weisser dem Altersheim im elsässischen Fessenheim, in dem seine verstorbene Mutter Denise jahrelang lebte, keinen Vorwurf. "Die sind wie wir alle auch das Opfer eines Systems, das in der Krise versagt hat." Zwar hat auch er sich mittlerweile rechtlichen Beistand gesucht, zielt juristisch dabei aber deutlich höher: Auf den französischen Gesundheitsminister Olivier Véran. Ihn will Weisser mit einer Klage vor einem Sondergericht für Regierungsmitglieder für das systemische Versagen seines Landes verantwortlich machen.
Quelle: zeit.de vom 25.04.2020