von Lars Fischer
Der Chemiker arbeitet als Journalist und Redakteur bei "Spektrum.de".
Hintergrund 31.07.2020
Das Immunsystem vergisst nicht: Nachdem Sars-CoV-2 besiegt ist, verbleiben Antikörper, T-Zellen und B-Zellen im Körper. Sie tragen einen Steckbrief des Erregers, um ihn in Zukunft abzufangen. Doch kann das Immunsystem überhaupt eine zweite Infektion verhindern? Und vor allem: Kann ein Impfstoff Schutz erzeugen? Bisher ist das rätselhaft. Denn niemand weiß derzeit, wer gegen das Virus immun ist - und warum.
Seit Beginn der Pandemie analysieren Fachleute im Blut von Genesenen die vermuteten Überbleibsel der Immunreaktion. Diese Spuren sollen verraten, wie viele Menschen sich bereits angesteckt haben und wie nah die Bevölkerung an einer erhofften Herdenimmunität ist. Doch bisher liefern die Untersuchungen vor allem offene Fragen. Und vieles deutet darauf hin, dass die Immunantwort auf Sars-CoV-2 manchmal nicht so funktioniert, wie sie sollte.
So berichtet der erste Patient in Deutschland - ein Mitarbeiter der Firma Webasto -, dass bei ihm schon kurz nach der Infektion keine Antikörper gegen das Virus mehr nachweisbar gewesen seien. Durch eine überstandene Infektion entstehen normalerweise besondere Zellen im Knochenmark, die für sehr lange Zeit Antikörper abgeben. Bei einigen an Covid-19 erkrankten Personen verschwindet diese Reaktion anscheinend nach wenigen Wochen wieder.
Die fehlenden Antikörper bedeuten aber nicht zwangsläufig, dass man sich schon kurze Zeit nach der Erkrankung wieder anstecken kann. Auf die alles entscheidende Frage, welcher Messwert für Sars-CoV-2 anzeigt, dass eine Neuinfektion ausgeschlossen ist oder deutlich schwächer verläuft, gibt es bisher keine Antwort. Fachleute bezeichnen diesen Messwert als "Korrelat der Immunität".
Was Antikörper oder andere Bestandteile des Immungedächtnisses wie T-Zellen im Blut tatsächlich über einen langfristigen Schutz aussagen, ist zwar die wichtigste, aber nicht die einzige offene Frage. Es gibt zum Beispiel mehrere mögliche Erklärungen für die anscheinend fehlenden Antikörper bei einigen Genesenen. Teil des Problems sind auch die Antikörperstudien selbst.
So konzentrieren sich die Analysen meist auf einen einzigen Typ dieser Immunmoleküle, die neutralisierenden Antikörper. Diese blockieren die Bindungsstellen des Virus an die Zielzelle und verhindern so die Infektion. "Es gibt neben den neutralisierenden Antikörpern jedoch verschiedene Antikörpertypen, und diese können sehr wichtig sein", erklärt Christine Dahlke, die am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf über neu auftretende Infektionskrankheiten forscht. Neben der Blockierung der Bindungsstelle können Antikörper auch andere wichtige antivirale Funktionen ausüben.
Zum Beispiel haften spezifische Antikörper an Viren und signalisieren spezialisierten Zellen des Immunsystems, den Makrophagen, den Fremdkörper aufzunehmen und unschädlich zu machen. Andere Antikörper markieren infizierte Zellen für die Vernichtung. Allgemeine Regeln dafür, welche Antikörper welchen Beitrag zur Immunität leisten, gibt es nicht. Die anderen Funktionen seien je nach Erreger unterschiedlich wichtig, sagt Dahlke. "Sie werden aber bisher häufig benachteiligt analysiert, da die Nachweisverfahren zur Analyse nicht einfach und nicht schnell durchführbar sind."
Dadurch ist derzeit völlig unsicher, in welchem Maß Antikörper im Blut vor einer Neuinfektion schützen und ob umgekehrt ihr Verschwinden tatsächlich fehlende Immunität signalisiert. Ob sie also ein Korrelat der Immunität sind. Antikörper sind nur eine Komponente des adaptiven Immunsystems - jenes Teils der Abwehrreaktion, die Krankheitserreger anhand ihrer molekularen Steckbriefe gezielt bekämpft.
Wenn das Immunsystem beginnt gegen das Coronavirus vorzugehen, sammeln spezialisierte Zellen Teile der Virusproteine und präsentieren sie den T- und B-Zellen, die zu diesem lernfähigen System gehören. Diese tragen spezielle Rezeptoren, deren Bausteine je nach Zelltyp in verschiedenen Stadien der Entwicklung per Zufall durchmischt werden; dadurch erkennt das Immunsystem unzählige fremde Proteine. Besitzen die T- und B-Zellen einen passenden Rezeptor, beginnen sie, sich zu vermehren und in verschiedene Untertypen auszudifferenzieren.
So werden aus B-Zellen mit passenden Rezeptoren Plasmazellen, deren Aufgabe es ist, Antikörper mit eben diesem Bindungsmerkmal herzustellen. Die T-Zellen hingegen bestehen aus zwei Untergruppen, die sich durch ihre Oberflächenrezeptoren unterscheiden. Ein Teil der T-Zellen trägt den Rezeptor CD4. Sie unterstützen das Immunsystem, indem sie Signalstoffe ausscheiden, die unter anderem die aus B-Zellen entwickelten Plasmazellen dazu animieren, Antikörper zu produzieren. Die zweite Gruppe von T-Zellen trägt den Rezeptor CD8. Sie erkennen Zellen, die von Viren befallen sind, und töten sie ab.
Doch daneben gibt es einen weiteren Zelltyp: Gedächtniszellen. Sie entstehen zusammen mit den Zellen der adaptiven Immunantwort, allerdings bewahren sie die Erinnerung an den bekämpften Erreger über Jahrzehnte. So behalten B-Gedächtniszellen im Körper die Fähigkeit, sich in Plasmazellen umzuwandeln, die spezifische Antikörper herstellen.
Doch derzeit richtet sich der Fokus vermehrt auf T-Zellen. Es gibt erste Indizien dafür, dass T-Zellen bei der Immunreaktion auf die Infektion und damit womöglich auch bei einer anhaltenden Immunität gegen Sars-CoV-2 eine wichtige, wenn nicht sogar wichtigere Rolle spielen als Antikörper.
So deuten aktuelle Untersuchungen darauf hin, dass Genesene ohne nachweisbare Antikörper sehr wohl gegen das Virus aktive T-Zellen haben. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Schutzes ist: Die T-Zellen verhindern nicht, dass das Virus neue Zellen infiziert, sondern bekämpfen es auf andere Weise. "T-Zellen schützen nicht so gut wie Antikörper, aber können einen wichtigen Beitrag leisten, die Krankheit schneller und milder verlaufen zu lassen", erklärt Dahlke.
Zudem sind bei seinerzeit mit Sars-CoV-1 infizierten Menschen diese T-Zellen noch mehr als ein Jahrzehnt nach der Krankheit im Körper nachweisbar - ein gutes Zeichen für Covid-19. Ihre T-Zellen zeigen außerdem eine Reaktion auf das verwandte Sars-CoV-2. Womöglich gilt das auch für T-Zellen, die als Reaktion gegen Infektionen mit anderen Coronaviren gebildet wurden. Das könnte womöglich bedeuten, dass ein Teil der Bevölkerung durch Infektionen mit diesen "Erkältungsviren" auch vor Covid-19 geschützt ist.
Aber hier besteht das gleiche Problem wie bei Antikörpern. Auch bei T-Zellen und B-Zellen ist derzeit unbekannt, ob sie als Korrelat der Immunität taugen. Nicht zuletzt gibt es Hinweise auf unterschiedliche "Immuntypen". Eine Reaktion im Reagenzglas mag einen Hinweis darauf geben, wodurch eine dauerhafte Immunität zu Stande kommt - sie ist aber kein Beleg dafür, dass der Effekt im Körper bei einer Neuinfektion schützt.
Noch weniger Aufschluss geben solche Messungen darüber, wie lang eine mögliche Immunität anhält. "Man geht eigentlich davon aus, dass man bei einer natürlichen Infektion in vielen Fällen eine lebenslange Immunität hat", sagt Martina Sester, die an der Universität des Saarlandes die Abteilung für Transplantations- und Infektionsimmunologie leitet. Das sei allerdings nicht immer so.
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Manche Viren haben derart effektive Mechanismen, das Immunsystem zu unterdrücken, dass sie sogar im Körper verbleiben und immer wieder hervorbrechen können - Herpesviren zum Beispiel. Andere Erreger wie die Grippe treten in sehr vielen unterschiedlichen Varianten auf, so dass immer neue Stämme selbst zuvor Erkrankte noch einmal infizieren.
Bisher sind derartige Mechanismen bei Sars-CoV-2 nicht nachgewiesen.
Welche Rolle die Konzentration der Immunmoleküle im Blut, der Antikörpertiter, spielt, ist ebenfalls ungeklärt. Weniger Antikörper oder T-Zellen bedeute nicht unbedingt weniger Schutz, sagt Sester. "Wenn man nichts mehr oder nur weniger sieht, heißt das nicht unbedingt, dass die Immunantwort schlechter ist." Vielleicht sei einfach eine geringere Reaktion nötig gewesen, weil das verbleibende Immungedächtnis womöglich hinreichend Schutz geboten habe. "Bei Sars-Cov-2 fehlen uns da allerdings die Erfahrungen", erklärt Sester.
Hinzu kommt bei diesem Coronavirus, dass das Immunsystem selbst zum Problem werden kann. Befällt das Virus die Lunge, ist es nach Ansicht vieler Fachleute vor allem die heftige Immunreaktion, die großen Schaden im Gewebe anrichtet. "Wenn das Virus das Gewebe befällt und das Immunsystem seinerseits das Virus in den Zellen angreift, dann ergibt sich ein gewisser Kollateralschaden", sagt die Immunologin Sester. "Wir sehen eine massive Induktion von T-Zellen und auch Antikörpern, die bei Patienten auf der Intensivstation noch deutlicher ausfällt."
Das Immunsystem feuert aus allen Rohren und trifft dabei auch das körpereigene Gewebe. Bei anderen Coronaviren gibt es ebenfalls Anzeichen für eine fehlgeleitete Immunabwehr. So fanden Forscher bereits bei schweren Verläufen von Sars, was Fachleute nun auch bei Sars-CoV-2 berichten: Besondere Immunzellen, die beschädigtes Gewebe reparieren, werden in den Lungenbläschen durch entzündungsfördernde Zellen ersetzt. Der Grund dafür ist bisher unbekannt.
Das Blut und die Flüssigkeit der Lungenbläschen enthalten bei einer schweren Erkrankung mit Covid-19 außerdem sehr viele Zytokine, Botenstoffe der Entzündungsreaktion. Andere Arbeitsgruppen sehen sogar Indizien, dass bestimmte Antikörper mehr schaden als nützen - ein ebenfalls bereits bei Sars beobachtetes Phänomen. "Patienten auf der Intensivstation scheinen nach einer Weile weniger mit der Elimination des Erregers selbst beschäftigt zu sein als mit dem Herunterregulieren einer extrem heftig ablaufenden Immunreaktion", fasst Martina Sester den Stand der Forschung zusammen.
Wie diese Fehlregulation zu Stande kommt, ist ebenso wenig bekannt wie die Korrelate der Immunität. Womöglich steckt allerdings das Virus selbst hinter einem Teil dieser Phänomene. Wie viele andere Viren besitzt auch Sars-CoV-2 spezielle Mechanismen, um sich vor der Immunabwehr zu schützen. Das Virus bildet ebenso wie Sars-CoV-1 Proteine, die infizierte Zellen daran hindern, Typ-1-Interferone zu bilden. Diese Signalstoffe entstehen mit Beginn der Infektion und spielen eine wesentliche Rolle bei der Aktivierung der Immunantwort; möglicherweise behindert ein Protein des Virus außerdem die Erkennung von infizierten Zellen durch T-Zellen.
Zusätzlich beobachtete das Team von Sester in einer aktuellen Untersuchung, dass bei Patienten mit schweren Verläufen viele T-Zellen verändert wurden und inaktiviert sind, ein als Anergie bezeichneter Effekt. Das könne ebenfalls auf das Virus zurückgehen - oder ein Mechanismus des Körpers sein, um die heftige Immunreaktion zu reduzieren, sagt die Forscherin. "Wenn Sie eine starke Immunreaktion haben, muss sich das System auch irgendwann wieder herunterregulieren", erklärt Sester.
Die vielen offenen Fragen über die Immunreaktion betreffen auch die Entwicklung einer Impfung.
Wie anhaltend eine Vakzine schützt, hängt ebenfalls davon ab, wie effektiv sie das Immunsystem stimuliert.
Da man nicht weiß, welche Blutwerte ein Anzeichen für Immunschutz sind, ist auch unklar, welche Teil des Immunsystems ein Impfstoff anregen muss. Das schränkt auch die Bedeutung von Studien ein, in denen experimentelle Impfstoffe eine T-Zellen- und Antikörperproduktion auslösen - wie zum Beispiel in einer aktuellen Studie aus Oxford.
Bei manchen Vakzinen könnten T-Zellen, die infizierten Zellen erkennen und ihre Zerstörung auslösen, die entscheidende Größe sein. Bei anderen wirke vielleicht ein bestimmter Titer für bindende oder neutralisierende Antikörper, erklärt Christine Dahlke. "Doch solange man die Korrelate der Immunität nicht kennt, ist die Evaluation der Impfstoffe schwierig."
Quelle: spektrum.de